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GRASWURZELREVOLUTION/1420: Gegen den "liberalen Autoritarismus"




graswurzelrevolution 391, September 2014
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Gegen den "liberalen Autoritarismus"

Staatstheorie und Neoliberalismus-Kritik: Stuart Halls Arbeiten haben mehr zu bieten als Identitäts- und Multikulturalismustheorie. Zum Nachlass und Nachwirken des linken Kulturtheoretikers und Soziologen

von Jens Kastner

Als Stuart Hall im Februar dieses Jahres 82jährig starb, postete die New Yorker Autorin und Konzeptkünstlerin Coco Fusco auf facebook: "Es bricht mir das Herz." Sie und ihre Generation hätten eine intellektuelle Vaterfigur verloren. Und um dies zu unterstreichen, hieß es weiter: "Alles was ich jemals an Gutem geschrieben habe, ist das Ergebnis dessen, was ich von ihm gelernt habe."


Stuart Hall war nicht nur der "Pate des Multikulturalismus", wie der Guardian ihn im Nachruf (am 10.02.2014) betitelt.

Hierzulande als prägende Figur der akademischen Cultural Studies bekannt, hat Hall als Soziologe rund Kulturwissenschaftler vor allem auch die Debatten um die antiautoritäre Erneuerung des Marxismus seit den 1950er Jahren stark beeinflusst. Er war ab 1960 der erste Herausgeber der einflussreichen New Left Review.

Die Zeitschrift war als Reaktion auf Krise der Kommunistischen Parteien nach 1956 gegründet worden und gilt bis heute als zentrales Organ der Neuen Linken. Von 1968 bis 1979 leitete er das mittlerweile legendäre Center for Contemporary Cultural Studies in Birmingham. Hier sorgte er für eine bis dato kaum existente Vermittlung von ökonomischen und kulturellen Forschungsfragen. Dass diese immer auch an linker politischer Praxis orientiert war, erklärt schließlich, warum auch kulturschaffende Aktvistinnen und Aktivisten wie Fusco bis heute im Bann von Halls eingängigen Texten stehen.

Im deutschsprachigen Raum schlägt sich diese Relevanz allerdings kaum nachweislich nieder. Zwar sind die Verweise in kulturwissenschaftlichen Aufsätzen und Abschlussarbeiten mittlerweile zahllos. Aber Bücher zu Hall gibt es kaum. Erst im kommenden Herbst erscheint im Ventil Verlag ein Sammelband zum Einfluss Halls auf Poptheorie und Aktivismus. Linda Supiks Monographie "Dezentrierte Positionierungen" (Bielefeld 2005) über Halls Verständnis von Identitätspolitik ist jedoch eine einsame Ausnahme - und inzwischen beinahe zehn Jahre alt.

Dabei kann Hall als Pionier gelten. Er war nicht nur einer der ersten, die die Analyse von Rassismus und Sexismus in die theoretischen Rahmungen des Marxismus integriert haben. Dafür machte er die Ansätze des Kulturtheoretikers und Mitbegründers der Kommunistischen Partei Italiens, Antonio Gramsci, und des französischen Philosophen Louis Althusser wieder fruchtbar.

Er scheute aber auch nicht davor zurück, auf poststrukturalistische Theorie zuzugreifen, wo ihm der Marxismus als unzureichend erschien. Von Gramsci griff er immer wieder die Frage nach kultureller Hegemonie auf. Und wie Gramsci verstand er sie sowohl als analytische Frage nach der Beschaffenheit der Kräfteverhältnisse im Kampf um die Denkweisen, als auch als politisch-strategische Frage danach, wie umzugehen sei mit den verbreiteten und dominanten Ansichten, Meinungen und Haltungen.

Sie mit Propaganda angreifen und den Leuten ihr "falsches Bewusstsein" austreiben, das konnte es nicht sein. Das schien schon Gramsci zu plump und zu arrogant zugleich. Und indem Hall sich statt sie zu diffamieren, dafür interessierte, was die so genannten einfachen Leute dachten, schloss er auch an Althussers Verständnis von Ideologie an: In welcher Beziehung zu den Verhältnissen sehen die Leute sich selbst? Welches Bild machen sie sich von sich selbst und warum dieses?

Sich ein Bild zu machen, das war plötzlich keine unbeobachtete Tätigkeit mehr, die sich im Schatten der ökonomischen Weltläufe abspielte. Die kritische Kulturtheorie seit Hall sieht darin einen Vorgang, in dem Macht zum Ausdruck kommt und sich zugleich auch neu formiert. Daher übernahm Hall von Poststrukturalisten wie Michel Foucault schließlich auch ein Verständnis von Repräsentation, das diese nicht als nachträglichen Vorgang begreift. Wie etwa die Zugehörigkeit zu einer Nation oder einer ethnischen Gruppe vorgestellt und dargestellt, also repräsentiert wird, ist nicht bloß als Kommentar im Nachhinein zu betrachten. Die Repräsentation ist Teil der Sache selbst, erst in der Repräsentation entsteht demnach so etwas wie kulturelle Identität.

Identitäten waren für Hall immer auch eine politische Angelegenheit. Er verstand sie nicht, wie etwa die gegenwärtigen rechten Bewegungen der "Identitären" als unveränderliche Kennzeichen. Identität sei kein Wesen, sondern eine Positionierung, schrieb Hall einmal. Wie solche Positionen innerhalb der Gesellschaft eingenommen werden und wie man auch ohne eigenes Zutun positioniert wird, das waren für Hall auch zentrale Fragen für die Migrationsforschung.

Selbst in den 1950er Jahren aus Jamaika nach England gekommen, blieben migrationspolitische Debatten stets ein wichtiger Gegenstand in den Arbeiten Halls. Dass eine gesteigerte Vielfalt in der ethnisch-kulturellen Zusammensetzung der Bevölkerung und neu formierter Rassismus sich nicht gegenseitig ausschließen, war dabei eine seiner wichtigsten Thesen. Seine Arbeit beschränkte sich allerdings nicht auf eine Theorie des Multikulturalismus.

Die rassismuskritischen Texte sowie seine medien- und kulturwissenschaftlichen Aufsätze waren immer auch begleitet von kritischen Analysen der zeitgenössischen Gesellschaften insgesamt.

Im besagten Guardian-Nachruf hieß es auch, Stuart Hall habe mit seiner Analyse der Regierungszeit von Margret Thatcher - von ihm stammt der Begriff Thatcherismus - auch die Führer der Labour Party, Neil Kinnock und Tony Blair, beeinflusst.

Diese Behauptung allerdings ist verwunderlich. Denn Hall war einer der vehementesten intellektuellen Kritiker der sogenannten Neuen Sozialdemokratie und damit auch Gegner Blairs. Das wird insbesondere in dem gerade erschienenen Buch "Populismus - Hegemonie - Globalisierung" deutlich. Der im Argument Verlag publizierte "Band 5" ausgewählter Schriften Halls versammelt weniger kulturtheoretische Auseinandersetzungen als vielmehr in erster Linie Aufsätze und Interviews, die als politische Stellungnahme im engeren Sinne zu lesen sind.

Hier analysiert er auch die Gemeinsamkeiten zwischen dem Thatcherismus und der Ära Blair. Dessen "New Labour" beschreibt Hall als "Variante des Neoliberalismus" (236), in der sich fanatisch verfochtene "Marktfreiheit" mit "moralgetriebene(m) Gesetzeseifer" (238) in der Innen- und Sicherheitspolitik verknüpft hätte.

Er nennt das "liberalen Autoritarismus". Zwar habe es einige sozialpolitische Errungenschaften wie den Mindestlohn unter der Labour-Regierung gegeben.

Jegliche sozialdemokratische Agenda sei aber den neoliberalen Direktiven untergeordnet gewesen. Besonders die Privatisierung öffentlicher Güter hebt Hall hier immer wieder als folgenreiche, soziale Ungleichheit steigernde Politik hervor. Aber auch Individualisierung und Kommerzialisierung kritisiert er scharf: Anstatt etwa Bildungs- und Gesundheitswesen auf das Wohl aller hin auszurichten, habe man sie zu Bereichen degradiert, in denen die Gesetze von Angebot und Nachfrage herrschen.

New Labour trage schließlich die Verantwortung für eine Gesellschaft, die von unternehmerischen Werten dominiert wird. In dieser werde nicht "mehr von Rechten gesprochen [...], sondern von Wahlmöglichkeiten des Konsumenten." (166) Solche Möglichkeiten aber sind letztlich extrem ungleich verteilt.

Diese Ungleichheit wird nicht nur mit Gewalt durchgesetzt. Sie wird auch von Milieus mitgetragen, die auf den ersten Blick nicht von ihr profitieren. Es sind die staatstheoretischen Aufsätze, die - ganz im Sinne Gramscis - aufzeigen, dass staatliche Politik nicht nur reguliert und unterdrückt, sondern auch Zustimmung organisiert. Hall spricht von einer "konsensuelle(n) Basis des Staates" (39). Auch der Neoliberalismus ist demnach nicht zu begreifen, wenn man nur dessen repressive Aspekte betrachtet und die "Bereitschaft der Bevölkerung" ausklammert, "Herrschaft zu unterstützen" (36).

Zuletzt hatte sich Hall - gemeinsam mit Doreen Massey und Michael Rustin - im sogenannten Kilburn Manifesto öffentlich zu Wort gemeldet.

Das nach dem gleichnamigen Londoner Stadtteil benannte, im Frühjahr 2013 veröffentlichte Pamphlet ist eine Reaktion auf die Folgen der globalen Finanzkrise der Jahre nach 2008. Es richtet sich gegen die Durchdringung des institutionellen wie auch des privaten Lebens durch die Marktkräfte und die gewachsene soziale Ungleichheit. Hoffnungen setzt es auf den Widerstand gegen die Austeritätspolitik.


Stuart Hall:
Populismus - Hegemonie - Globalisierung.
Ausgewählte Schriften 5.
Herausgegeben von Victor Rego Diaz, Juha Koivisto und Ingo Lauggas.
Argument Verlag, Hamburg 2014

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Quelle:
graswurzelrevolution, 43. Jahrgang, Nr. 391, September 2014, S.14
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. September 2014