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GRASWURZELREVOLUTION/1220: "Die verwaltete Gesellschaft und die individuellen Grenzen der Kooperation"


graswurzelrevolution 364, Dezember 2011
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

"Die verwaltete Gesellschaft und die individuellen Grenzen der Kooperation"
Gibt es eine Chance für eine anarchistische Gesellschaft?

von Marc Oestreicher


Das folgende kurze Referat ist die Einführung zur Podiumsdiskussion zum Thema "Die verwaltete Gesellschaft und die individuellen Grenzen der Kooperation" anlässlich der Paul Goodman-Tagung, die unter dem Titel Anarchie-Poesie-Therapie vom 11. bis 13. November 2011 in Wien stattgefunden hat. Die Tagung wurde von den Gestalttherapieverbänden Österreichs, Deutschlands und der Schweiz zum 100. Geburtstag von Paul Goodman ausgerichtet. Auf das Podium waren drei Aktivist/inn/en aus selbst verwalteten Projekten in Wien ebenso wie ein Organisationsberater, eine Psychotherapeutin und ein ehemaliges Mitglied von Longo Mai geladen. Der sozialkritische Anarchist Paul Goodman ist für Gestalttherapeut/inn/en von Bedeutung, weil er Anfang der 50er-Jahre zusammen mit Fritz Perls und Ralf Hefferline das theoretische Grundlagenwerk der Gestalttherapie verfasst hat.


Als erstes wäre zu klären, was ich unter Anarchismus überhaupt verstehe, Anarchistisch heißt für mich in erster Linie, Vielfalt und Freiheit bedingungslos zu begünstigen und darauf zu vertrauen, dass daraus ein inspirierendes Lebensumfeld für ALLE resultieren kann. Ein Umfeld, das reichhaltige Gelegenheiten, Anregungen und Begegnungen bereit hält und so wiederum Vielfalt und freies Handeln fördert.

Damit dies gelingt, braucht es ganz wesentlich eine Bewusstheit dafür, dass der oder die ANDERE ebenso Platz, Schutz und Ressourcen braucht, um sich zu entfalten und etwas Eigenes zu entwickeln.

Eine solche Gesellschaft ist delikat und fordert unsere höchste Achtsamkeit, damit sie sich entsprechend regulieren kann. Und damit sind wir beim Thema dieser Veranstaltung: Die eigenen Grenzen der Kooperation selber zu bestimmen. Wenn wir an einer anarchistischen Gesellschaft interessiert sind und wenn wir uns die eigenen Freiheiten erhalten wollen, müssen wir sorgfältig abwägen, woran wir uns beteiligen und wovon wir uns fernhalten.

Denn viele der heute gängigen Haltungen und Handlungen vertragen sich in keiner Art und Weise mit Vielfalt und Freiheit. Anarchie kann nur gedeihen in einem Klima von Verlässlichkeit und vertrauensvollen Beziehungen, von Wertschätzung und Toleranz und im Dialog.

Deshalb ist Gerechtigkeit - also eine Form der Gleichheit - zusammen mit einer Kultur der Differenz - also der Erlaubnis zur Einzigartigkeit - DIE Grundvoraussetzung für ein Gelingen von Anarchie.

Doch die Realität sieht anders aus. Wir leben, zumindest einen Teil unseres Lebens, in einem von Wettbewerb, Konkurrenz und Kontrolle geprägten Umfeld und in einer Gesellschaft, die Ausbeutung, Vereinnahmung, Ausgrenzung, Umweltzerstörung und sogar Krieg zumindest in Kauf nimmt oder gar fördert und fordert.

Eine Gesellschaft, welche die Freiheit propagiert, sich einseitig zu bereichern, die ihre Sicherheit im Schutz vor Feinden zu finden meint und die möglichst Alles und Alle unter einer Ideologie zu versammeln sucht. Gibt es in dieser Umgebung für eine anarchistische Gesellschaft überhaupt eine Chance?

Können unter diesen Bedingungen freiheitliche Lebensformen entwickelt werden? Kann einem solchen Umfeld entgegengewirkt werden, ohne sich zu isolieren und ohne zerstörerisch zu wirken?

Auf solche Fragen suchte Paul Goodman existentielle Antworten, und einige davon seien hier angedeutet: Wir können unsere Grenzen der Kooperation selber bestimmen, Gefahren können wir großräumig umgehen, wir können uns für die Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse einsetzen und Gruppen bilden, damit wir uns nicht isolieren und es nicht so einfach ist, uns auszugrenzen.

Es reicht nicht aus, sich nur gegen repressive Übergriffe auf die eigene Person zur Wehr zu setzen - man/frau kann mit seinem Lebensstil auch eine entsprechende Klimaveränderung begünstigen helfen.

Goodman hat deshalb, über seine eigene Suche nach Orientierung hinaus, konsequent versucht, den Einzelnen in der Gesellschaft zu verstehen und daraus Strategien zur Unterstützung von Autonomie zu entwickeln. Damit hat er die Gestalttherapie und ihre Praxis inspiriert. Und damals wie heute hat Goodman viele Verbündete, die sich auf ihren eigenen anarchistischen Wegen befinden und sich kollektiv organisieren, in selbst verwalteten Betrieben arbeiten und sich in politischen Bewegungen engagieren.
Das war uns Anlass für die heutige Veranstaltung.

Doch zuerst noch ein Statement zur Gestalttherapie.
Ich kann die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, ohne zu äußern, was die sozialkritischen Einwände Goodmans von der Gestalttherapie bzw. von Gestalttherapeut/inn/en fordern könnten.

Da wäre zuerst einmal das therapeutische Einzelsetting, das meines Erachtens radikal zu hinterfragen ist, und die Arbeit mit Gruppen, die wieder zu beleben und weiter zu entwickeln wäre.

Persönliches Wachstum muss die Realitäten der Anderen mit einbeziehen, sofern auch eine reifere Gesellschaft heranwachsen soll. Und da ist zweitens die Versuchung bzw. der Druck von außen, sich einem Einheitsverfahren anzunähern und sich dem Mainstream einer an Medizin und Naturwissenschaften orientierten Psychotherapie anzupassen.

Dem zu widerstehen, ist mir ein Anliegen, und Goodman hat uns genug Stoff hinterlassen, Gestalttherapie NICHT mit Psychotherapie gleichsetzen zu müssen.

Die Gestalttherapie hat eine Prägnanz, die in vielen Bereichen geschätzt wird, und wir Gestalttherapeut/inn/en haben ein spezifisches Können und Wissen entwickelt, Awarenesprozesse zu begleiten.

Doch auch unsere kämpferischen Fähigkeiten gilt es einzusetzen, um den hegemonialen Anmaßungen zu widerstehen, auf Freiheit und Vielfalt zu beharren und damit den Raum ein wenig zu öffnen für regulierende und sich ordnende Tendenzen, die unsere Gesellschaft so dringend braucht!


Marc Oestreicher ist Gestalttherapeut und Biologe. Er lebt und arbeitet in Basel in der Schweiz und hat die Goodmantagung in Wien mitinitiiert und organisiert. Er unterrichtet Seminare und Workshops, erteilt Weiterbildungen und Supervision an Körpertherapeut/inn/en und ist Autor diverser Fachpublikationen und Kongressbeiträge.


Paul Goodman (1911-1972)

Paul Goodman war ein US-amerikanischer Autor, promovierter Soziologe, Anarchist und Pazifist. In den 1950er Jahren schrieb er die Grundlagen der Gestalttherapie.

Er war Schriftsteller und Dichter, ein Vorkämpfer der Schwulenbefreiung, ein Protagonist des Jugend- und Bürgerprotestes der 1960er Jahre gegen Vietnamkrieg, Militarismus, Zentralismus und staatliche Bevormundung, die einem freien und moralischen Leben im Wege stehen. Aus den Elementen Literatur, akademischer Bildung und den Erfahrungen als Deklassierter entwickelte sich bei Goodman ein Denken und ein Stil von bemerkenswerter Intensität. In den 1940er und 1950er Jahren hat er die Entwicklung der Gestalttherapie mit Laura und Fritz Perls entscheidend geprägt, vor allem, indem er deren Grundlagenwerk "Gestalt Therapy" (1951) federführend verfasst hat. Bekannt geworden ist er 1960 durch sein Buch Growing Up Absurd: problems of youth in the organized system (Absurd aufwachsen. Probleme der Jugend im organisierten System), in dem er eine radikale Gesellschaftsdiagnose stellt. "Die Kernaussage lautet, daß man in einer überzentralisierten Gesellschaft, in der die großen Konzerne mit Hilfe staatlicher Steuerung mehr oder weniger nutzlose Konsumgüter produzieren, nur überleben kann, indem man aussteigt", so Goodman in einem Interview 1971
(vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Goodman)


Goodmans Gesellschaftskritik umfasst auch das Pflichtschulsystem mit seinem programmierten Unterricht, der die Individualität der SchülerInnen unberücksichtigt lässt. Dieses Schulsystem ist nach Goodman ein Säuberungs- und Selektionsapparat für die Arbeitgeber. Er verweist auf die paradoxe Situation, dass auf der einen Seite die SchülerInnen zu angepassten, kreativlosen Wesen erzogen werden. Auf der anderen Seite aber werden, bedingt durch den starken Konkurrenzdruck, von ihnen später originelle Lösungen erwartet. Goodmans Kritik des Pflichtschulsystems mündet in den Vorschlag von dezentral organisierten Minischulen mit 25-30 SchülerInnen ohne Schulpflicht, wo nicht nur LehrerInnen, sondern alle am gesellschaflichem Leben teilnehmenden Menschen den Unterricht gestalten.


Neu erschienen auf deutsch:
Paul Goodman
EINMISCHUNG -
ein Reader, EHP-Verlag 2011: 208 S.
EUR 25.00 / CHF 39.00


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Quelle:
graswurzelrevolution, 40. Jahrgang, Nr. 364, Dezember 2011, S. 12
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
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E-Mail: redaktion@graswurzel.net
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Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Dezember 2011