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GRASWURZELREVOLUTION/1188: Griechenland - Eine Gesellschaft zerfällt


graswurzelrevolution 360, Sommer 2011
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Griechenland: Eine Gesellschaft zerfällt

Von Ralf Dreis


Am 11. Mai 2011 fiel in Athen erneut die Troika, eine Kommission aus EU, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfond (IWF), ein, um zu prüfen, ob der griechische Staat eine weitere Tranche der Hilfskredite aus dem im letzten Jahr beschlossenen "Rettungspaket" überwiesen bekommt.


Voraussetzung dafür sind "beschleunigte Privatisierungen" und die weitere Verschärfung der seit letztem Frühjahr durchgepeitschten Sparprogramme. Diese haben schon jetzt zu hunderttausenden von Arbeitslosen und der massiven Verelendung größerer Teile der Bevölkerung geführt.

Gegen die Troika und das Sparprogramm fand ein Generalstreik mit großen Demonstrationen im ganzen Land statt.

In Athen kam es wieder zu heftigen Straßenschlachten mit der Polizei, durch deren brutale Übergriffe zig Verletzte zu beklagen waren. Zwei Personen wurden mit schweren Verletzungen auf die Intensivstation des Nikéa-Hospitals eingeliefert, der 30jährige Giánnis Kafkás schwebte trotz Notoperation mehrere Tage in Lebensgefahr.

Als Reaktion verfasste die Betriebsgruppe der Gewerkschaft der Ärzte Athens und Piräus (EINAP) folgende Erklärung:

"Heute wurden wir Zeugen der Barbarei der IWF-Regierung, die versucht, jeden gesunden Akt des Widerstandes gegen ihre - von griechischem und internationalem Kapital erdachten und den lokalen Handlangern umgesetzten - Pläne zu unterdrücken. In unser Krankenhaus wurden (...) dutzende verletzte DemonstrantInnen gebracht. Die meisten mit Kopfverletzungen. Unter ihnen befand sich ein 30-jähriger Demonstrant, der in akut lebensbedrohlichem Zustand mit Symptomen von Aniskorie und eines extraduralen Hämatoms eingeliefert wurde. Derzeit wird er von KollegInnen operiert, die versuchen, sein Leben zu retten. Wir klagen die Polizeibrutalität an und sind überzeugt, dass die griechische Regierung für diesen Mordversuch und für die Angriffe auf DemonstrantInnen verantwortlich ist. Doch die Gewalt und die Unterdrückung der Bevölkerung werden ihnen nicht mehr lange weiterhelfen."



Auspressen bis zum letzten Blutstropfen

Unterdessen werden die katastrophalen Auswirkungen nach einem Jahr kapitalistischer Schocktherapie immer deutlicher. Nach wiederholten Mehrwertsteuer- und sonstigen Steuererhöhungen, bei gleichzeitiger Kürzung von Löhnen, Renten und Sozialausgaben, der Streichung des 13. und 14. Monatsgehalts und vielen Zuschüssen, sowie Massenentlassungen im öffentlichen Dienst, befindet sich das Land in einer tiefen Rezession.

Der Konsum, der zuvor drei Viertel der Wirtschaftsleistung ausmachte, ist eingebrochen. Da die Normalbevölkerung kein Geld mehr zum Ausgeben hat, müssen immer mehr Geschäfte schließen, wodurch die staatlichen Steuereinnahmen weiter zurückgehen. Die Arbeitslosigkeit wächst unaufhaltsam und wird inzwischen offiziell mit 16 Prozent angegeben, wobei inoffizielle Schätzungen von 20-25 Prozent ausgehen.

Nachdem die griechische Wirtschaft 2010 um 4,5 Prozent eingebrochen ist, wird sie Schätzungen der EZB zufolge 2011 um weitere 3,5 Prozent schrumpfen. Da das Land gleichzeitig horrende Zinsen für seine Kredite zu bezahlen hat, steht es um die Staatsfinanzen noch schlechter als vor einem Jahr.

Die Schulden sind von rund 300 Milliarden Euro auf inzwischen 340 Milliarden gestiegen, was 143 Prozent des Bruttoinlandsproduktes entspricht. Allein 13 Milliarden, knapp zehn Prozent der Staatsausgaben, musste das Land im vergangenen Jahr für Zinsen aufbringen. Eine Abwärtsspirale, die auch mit noch so brutalen Sparprogrammen nicht zu stoppen ist.

Nicht nur FinanzexpertInnen hatten früh vor dieser Entwicklung gewarnt und auch der Troika muss klar gewesen sein, dass Griechenlands Staatshaushalt nicht durch die gnadenlose Verarmung seiner Bevölkerung saniert werden kann. Doch darum ging es nie. Ziel war von Anfang an die Disziplinierung einer potentiell aufmüpfigen Bevölkerung an der europäischen Peripherie im Sinne kapitalistischer Verwertungsinteressen. Und die sind in der EU zuallererst deutsche Interessen.


Als stärkste Wirtschaftsmacht Europas bestimmt Deutschland mittlerweile die Spielregeln

Durch die jahrelange deutsche Niedriglohnpolitik und verstärkt durch die rasante wirtschaftliche Entwicklung in Schwellenländern wie China, Russland oder Brasilien, gelang es Deutschland, riesige Exportüberschüsse zu erwirtschaften und sich enorme Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen EU-Ökonomien zu sichern.

Was gerade bei den Mittelmeerländern zu immer größeren Handelsbilanzdefiziten und weiter schwindender Wettbewerbsfähigkeit führte. Eine gemeinsame, europäisch regulierte Wirtschaftspolitik lehnte Deutschland in der Vergangenheit ebenso strikt ab wie aktuell eine kollektive Lösung der griechischen Schuldenkrise.

Zwar ist der von vielen Linken geforderte Schuldenerlass oder zumindest eine teilweise Umschuldung Griechenlands unumgänglich, um den vollständigen Staatsbankrott abzuwenden. Und seit dem Krisentreffen der EU-Finanzminister in Brüssel am 16./17. Mai wird darüber - verklausuliert als "sanfte Umschuldung" - auch in der EU zumindest diskutiert.

Doch klar ist, dass zuvor noch der letzte Rest des gesellschaftlichen Reichtums des Landes, sprich die übrigen Staatsbetriebe, an international agierende Konzerne wie Siemens, RWE oder die Telekom verhökert werden soll.

"Die Troika zieht die Knarre", titelte passend die Sonntagsausgabe der linksliberalen Tageszeitung Eleftherotypía am 15. Mai 2011. Da es mit den Reformen nicht richtig voran gehe, sei geplant, in Zukunft nicht mehr nur vierteljährlich die Fortschritte zu überprüfen, sondern in "wichtigen Ministerien", wie dem Wirtschafts- und dem Finanzministerium, "dauerhaft Kontrolleure zu installieren".

Für die Auszahlung der nächsten Hilfstranche sei sozusagen als Sicherheit "stattlicher Besitz als Pfand" die Voraussetzung. In weiteren Artikeln der Ausgabe wird über die wachsende Unzufriedenheit der Troika mit den nur "schleppend vorangehenden Privatisierungen" berichtet.

Angeblich diskutiere die sozialdemokratische Regierung mit den Kontrolleuren statt des bisher angedachten Verkaufs von 17 Prozent der Anteile des Stromkonzerns DEI, diese "bis auf eine Sperrminorität von 5 Prozent" komplett abzugeben. Parallel übe die Troika "immensen Druck" auf die konservative Oppositionspartei Néa Dimokratía aus, um diese zu einem "nationalen Konsens" und in eine "große Koalition mit der Pasok" zu zwingen. Nur so seien weitere Einschnitte gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen.


Jeder gegen jeden - Athen im Ausnahmezustand

Die Verarmungspolitik führt indessen zu fortschreitenden Auflösungserscheinungen in der griechischen Gesellschaft. Gut ausgebildete Jüngere wandern verstärkt ins europäische Ausland ab. Arbeits- und Perspektivlosigkeit haben zu einer rasanten Ausbreitung der Kleinkriminalität, von Diebstählen und Wohnungseinbrüchen auch in Kleinstädten und ländlichen Regionen geführt.

In den Metropolen Athen und Thessaloníki ist die Zahl der Obdachlosen und Drogenabhängigen enorm gestiegen. Vor allem die Innenstadtbereiche von Athen, wo das Problem durch tausende illegalisierte, mittellose und unter freiem Himmel schlafende MigrantInnen verschärft wird, gleichen mittlerweile einem Dampfdrucktopf kurz vor der Explosion. In den Vortagen des Generalstreiks war es zum wiederholten Mal zu rassistischen Ausbrüchen gekommen.

FaschistInnen hatten am 10. Mai nach einer Kundgebung unter den Augen der untätigen Polizei regelrechte Hetzjagden auf MigrantInnen veranstaltet und deren Geschäfte zerstört. Zur Kundgebung hatten Naziorganisationen wie Chrisí Avgí (Goldene Morgendämmerung) aufgrund eines brutalen Raubmordes in der Nacht zuvor mobilisiert. Ein 44jähriger Grieche war erstochen worden, um ihm die Kamera zu klauen.

Da Bilder aus in der Nähe installierten Überwachungskameras auf nicht-griechische Täter hinzudeuten scheinen, ließ sich der Mord von den Nazis hervorragend instrumentalisieren, um gegen "Ausländer" zu hetzen.

Die in unmittelbarer Nachbarschaft befindlichen besetzten Häuser Villa Amalías und Skaramánga wurden als Flucht- und Schutzräume für flüchtende MigrantInnen geöffnet und in der Folge selbst von Faschisten mit Unterstützung der MAT-Sondereinheit angegriffen.

Knapp 300 GenossInnen gelang es, die Angriffe, wie schon öfter in der Vergangenheit, zurückzuschlagen. Auch in den Folgetagen kam es zu weiteren Hetzjagden auf MigrantInnen. Ein 21jähriger Flüchtling aus Bangladesh (andere Meldungen sprechen von Sri Lanka) wurde vom faschistischen Mob erstochen.

Zahlreiche anarchistische, antirassistische und linke Organisationen reagierten mit Demos in den größeren Städten auf das brutale Vorgehen der Polizei während des Generalstreiks und die rassistischen Ausschreitungen. "Bullen, TV, Neonazis - das ganze Pack arbeitet zusammen", lautete eine der Parolen, die am 12. Mai in Athen von etwa 5.000 Demonstrierenden skandiert wurde.

Wieder kam es zu Übergriffen von Neonazis. Nur wenige hundert Meter von der Demonstrationsroute entfernt, machten erneut Mitglieder von Chrisí Avgí Jagd auf MigrantInnen.

Mindestens 15 Menschen mussten mit Schlag- und Stichverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden.

In den abendlichen Fernsehnachrichten wurden die rassistischen Pogrome - spärlich bebildert - von den Kommentatoren zwar verurteilt, die Angreifer jedoch als "von Ausländerkriminalität und Überfremdung" zu Überreaktionen provozierte "aufgebrachte Bürger" bezeichnet und entschuldigt.

Der Athener Bürgermeister Giórgos Kamínis warnte, die Hauptstadt drohe aufgrund der "hohen Zahl illegaler Einwanderer und einer unkontrollierten Kriminalität in bürgerkriegsähnlichen Zuständen" zu versinken. "Es besteht die Gefahr, dass Athen bald wie Beirut in den siebziger Jahren aussieht."

Mehrere Menschenrechtsorganisationen, darunter auch das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR, hatten wiederholt vor zunehmender rassistisch motivierter Gewalt in Griechenland gewarnt.


Antirassistische Solidarität aus dem Knast

"Wir, die Gefangenen des 1. Traktes des Korydallós-Gefängnisses, rebellieren am Samstag, den 14.5.2011, und verweigern die Mittagskontrolle sowie das Schließen der Zellen.

Wir mögen zwar aus vielfältigen Gründen inhaftiert sein und haben sicher nicht alle die gleichen Ansichten, doch das heißt nicht, dass wir keine Menschen mehr sind. Wir verfolgen all das, was draußen geschieht und von dem wir ausgeschlossen sind. (...) Es sollte als selbstverständlich angesehen werden, dass wir mit denen sind, die gegen die ökonomische Diktatur und für eine freie und gerechte Welt kämpfen. (...) Am 10. Mai wurde ein Mann in Athen ermordet und wieder einmal richten einige Unterdrückte ihre Waffen nicht gegen die wahren Verbrecher (die Bänker und großen Bosse), sondern gegen andere unterdrückte Menschen. Eine Gelegenheit für die Medien, mit rassistischer Propaganda die Faschisten - die besten Freunde der Polizei - hervorzulocken, für ihre willkürlichen Angriffe auf Migranten, die zur Ermordung des 21jährigen Katos Patissa führten. Die Knüppel haben sie von ihren Kollegen - den Polizisten - übernommen, die zuvor die Demonstrationen gegen die Sparmaßnahmen, welche alle Menschen ins Elend drängen, angegriffen hatten. (...)"

Auch in den folgenden Tagen kam es nicht zur Beruhigung der angespannten Situation in Athen. Am 14. Mai griffen um die Mittagszeit ca. 40 Vermummte die Polizeiwache im Stadtteil Exárchia mit Molotowcocktails an. Auch die sie verfolgende Motorradeinheit wurde mit Brandflaschen attackiert, wobei eines der Motorräder in Flammen aufging. Als dessen Tank explodierte, wurde eine zufällig in der Nähe stehende Blumenverkäuferin schwer verletzt.

50 AktivistInnen, die eine Erklärung des besetzten Hauses Skaramánga in der Innenstadt plakatierten, wurden am 17. Mai von MAT-Einheiten eingekesselt und festgenommen. Am 18. Mai wurde eine Demonstration streikender PädagogInnen und Kindergärtnerinnen beim Versuch, ins Parlament einzudringen, mit Tränengas- und Blendschockgranaten auseinander getrieben.

Im Tagesverlauf des 19. Mai kam es zu erneuten Naziangriffen auf MigrantInnen und in der Folge zu Auseinandersetzungen zwischen MigrantInnen und AntirassistInnen einerseits, Nazis und Polizeitruppen andererseits. "AnarchistInnen aus Griechenland" haben sich inzwischen mit einem dringenden Aufruf (1) und der Bitte um solidarische Unterstützung an ihre europäischen GenossInnen gewandt.


Anmerkung
(1) http://de.contrainfo.espiv.net/2011/05/19/griechenland-dringender-aufruf-fur-internationale-solidaritat


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Polizeigewalt in Griechenland

Eine unvollständige Chronik

Von Ralf Dreis


Beim Generalstreik am 12. Mai 2011 gingen Polizeitruppen in Athen erneut brutal gegen die Demonstrierenden vor.

AugenzeugInnen berichteten auf indymedia.athen von über hundert zum Teil schwer verletzten Personen. Allein nach offiziellen Angaben wurden mindestens zwölf Menschen durch prügelnde Polizeibeamte krankenhausreif geschlagen, zwei von ihnen wurden mit lebensgefährlichen Schädelverletzungen auf die Intensivstation eingeliefert.

"Ich habe selten derartig brutale Schläge gesehen", erklärte der behandelnde Neurochirurg Pános Papanikoláou. Der Arzt betonte, dass schon die kleinste Verzögerung bei der Einlieferung des 30jährigen schwerverletzten Giannis Kafkás ins Krankenhaus zum Tode des jungen Mannes geführt hätte. ÄrztInnen kämpften in einer Notoperation vier Stunden lang um sein Leben.

Polizeibeamte hatten ihre Schlagstöcke umgedreht und mit den aus ummantelten Metallkernen bestehenden Griffen wahllos auf DemonstrantInnen eingeschlagen. In Nachrichtensendungen wurde unter anderem gezeigt, wie ganze Gruppen von Polizisten auf hilflos am Boden liegende Menschen einschlagen und eintreten. Die griechische Ärztegewerkschaft sprach in diesem Zusammenhang von "versuchtem Mord an DemonstrantInnen". Die Zeitung "Athens News" veröffentlichte ein Beweisfoto, das eine dieser mörderischen Attacken dokumentiert.

Dies ist kein Einzelfall. Von Stamatína Kanellopoúlou und Iákowos Koumís 1980, über Michális Kaltésas 1985, Aléxandros Grigorópoulos 2008, bis zu Lámbros Foúndas 2010 reicht die Blutspur der uniformierten Mörder.

Im November 1980 verbot die damalige konservative Regierung die Durchführung einer Demonstration, die, im Gedenken an die Opfer des so genannten Studentenaufstands 1973, zur US-Botschaft gehen sollte. Als sich die außerparlamentarische Linke über dieses Verbot hinwegsetzte und die Polizeisperren umging, griff die Polizei die Demo mit unglaublicher Brutalität an. Die 21jährige Arbeiterin Stamatína Kanelopoúlou wurde in der Panepistimíou Straße von Polizisten erschlagen. Im Obduktionsbericht sind "achtzehn durch Schläge zugefügte schwere Schädelverletzungen" aufgeführt. Der Student Iákowos Koumís wurde auf dem Syntagma Platz vor dem Parlament zu Tode geprügelt. Kein Beamter wurde je für den Tod der Beiden verurteilt.

Im November 1985 wurde der 16jährige Anarchist Michális Kaltésas, wiederum auf der Gedenkdemonstration zum Polytechnikums-Aufstand 1973, vom Polizeibeamten Athanásios Melístas per Kopfschuss kaltblütig hingerichtet. Auch dieser Mord blieb ungesühnt.

Im September 1986 beteiligte sich der 60jährige Arbeiter Angelos Mavroidís mit 600 Kollegen an einer Sitzblockade vor dem Industrieministerium.

Bei der Räumung durch MAT-Sondereinsatzkommandos wurde er so schwer verletzt, dass er wenige Tage darauf im Krankenhaus verstarb. Kein Beamter wurde je belangt.

Einen Tag nach der Ermordung des linken Lehrers Níkos Temponéras im Januar 1991 durch Faschisten in Pátras kam es bei Demonstrationen in Athen zu Straßenschlachten mit der Polizei. Diese verschoss hunderte von Tränengasgranaten und setzte damit die Buch- und Papierhandlung "Liwás" und ein weiteres Gebäude in Brand. Vier Menschen erstickten in den Gebäuden. Trotz unzähliger, über jeden Verdacht erhabener Augenzeugenberichte beschied die polizeiliche Voruntersuchung, ein "Anschlag von Anarchisten" habe den Brand ausgelöst. Das letztinstanzliche Urteil des Amtsgerichts Athen lautete sechs Jahre später, dass "entweder ein Molotowcocktail von Anarchisten oder Tränengasgranaten der Polizei" den Brand verursacht haben.

Im November 2006 misshandelten acht Zivilbeamte den Studenten Augonstínos Dimitríou auf dem Nachhauseweg von einer Demo so schwer, dass er noch nach Jahren auf psychologische Behandlung angewiesen ist. In der Folge behaupteten sie, er habe sich seine schweren Verletzungen beim Sturz in eine Blumenrabatte zugezogen. Sie hatten Pech. Im so genannten Blumenrabattenprozess bewiesen detaillierte Filmaufnahmen, wie sie ihr Opfer minutenlang in einem Hauseingang misshandelten. Alle acht wurden zu geringen Bewährungsstrafen verurteilt.

Im Dezember 2008 folgte auf die Ermordung des 15jährigen Schülers Aléxandros Grigorópoulos ein allgemeiner gesellschaftlicher Aufstand. Seitdem kommt Griechenland nicht mehr zur Ruhe. In Folge des breiten gesellschaftlichen Widerstands gegen das Spardiktat von EU und IWF kommt es auf Demos regelmäßig zu Gewaltexzessen diverser Sondereinsatzkommandos. Die Delta- und Dias-Motorradeinheiten fallen hierbei durch besondere Unmenschlichkeit auf und haben sich den Hass breiter gesellschaftlicher Schichten redlich verdient.

Auch beim Kampf gegen die Mülldeponie in der Kleinstadt Keratéa ist die Bevölkerung seit Monaten mit der zügellosen Gewalt der uniformierten Schläger konfrontiert.

Seit Jahren kommt es am Rande von Demonstrationen, bei Angriffen auf Treffpunkte von MigrantInnen oder besetzte Häuser immer wieder zur offenen Zusammenarbeit faschistischer Schlägergruppen wie der Naziorganisation Chrisí Avgí (Godene Morgendämmerung) mit den MAT-Sondereinheiten.

Eine nach dem Polizeimord an Grigorópoulos von Parlamentariern der sozialdemokratischen Pasok veröffentlichte Studie sprach im Dezember 2008 von über 130 Menschen, die seit dem Ende der Militärdiktatur 1974 von der griechischen Polizei erschossen oder erschlagen wurden. Die uniformierten Mörder gingen in den allermeisten Fällen straffrei aus. In Ausnahmen wurden geringe Bewährungsstrafen verhängt. Nicht einmal zur Anklage kommt es im Allgemeinen bei der in Griechenlands Polizeiwachen weit verbreiteten Folter an MigrantInnen oder nach Verhaftungen. anarchistischer AktivistInnen.

Die jetzt im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen die rigiden Sparprogramme ausufernden polizeilichen Gewaltexzesse genießen dementsprechend bisher die Rückendeckung sowohl der sozialdemokratischen Regierungspartei Pasok als auch der konservativen Néa Dimokratía. "Bürgerschutzminister" Chrístos Papoutzís sah sich nach der allgemeinen Empörung in Folge des 12. Mai jedoch gezwungen, laut über die "Auflösung" und "Neuformierung" diverser Sondereinheiten nachzudenken.

Auch ohne über prophetische Gaben zu verfügen, ist gewiss: Zu einem Ende der schweren Menschenrechtsverletzungen durch die griechische Polizei werden solche Gedankenspiele nicht führen.


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Quelle:
graswurzelrevolution, 40. Jahrgang, Nr. 360, Sommer 2011, S. 12-13
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2011