Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GRASWURZELREVOLUTION/1073: Buchbesprechung - Neoliberalismus im Knastsystem


graswurzelrevolution 345, Januar 2010
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

BUCHBESPRECHUNG
Neoliberalismus im Knastsystem
Eine kritische Auseinandersetzung mit Strafvollzug, Knastpolitik und Strafrechtsverschärfungen

Von Thomas Meyer Falk


BUCHBESPRECHUNG

Loic Wacquant:
"Bestrafen der Armen - Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit"
Verlag Barbara Budrich, Leverkusen Opladen 2009
ISBN 918-3-86649-188-5, 29,90 Euro


2009 erschien in deutscher Übersetzung das erstmals 2004 in Frankreich publizierte Buch "Bestrafen der Armen - zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit" des in Paris und in den USA lehrenden Professors Loic Wacquant.

Die knapp 360 Seiten starke Analyse der straffixierten Wende in der Strafrechtspolitik gehört in jeden Bücherschrank eines an kritischer Auseinandersetzung mit Strafvollzug, Knastpolitik und Strafrechtsverschärfungen interessierten Menschen.

Schon im Vorwort bringt der Autor es auf den Punkt, wenn er das "Law-and-Order-Karussell" anklagt, für die Kriminalität das zu sein, was die Pornografie für die Liebesbeziehung sei, nämlich "ein die Realität bis zur Groteske entstellender Zerrspiegel, der das delinquente Verhalten aus dem Geflecht der sozialen Beziehungen (...) künstlich herauszupft, seine Ursachen und Bedeutungen bewusst ignoriert", um dabei der Kriminalitätsfurcht ebenso Nahrung zu geben, wie von ihr zu leben (a.a.O., S. 13-15). In 10 Kapiteln unterzieht Wacquant speziell die Politik in den USA und Frankreich einer ebenso scharfen wie treffenden Analyse, was "Elend des Wohlfahrtsstaats" und "Größe des Strafrechtsstaats", wie zwei Teil-Überschriften lauten, angehen. Das Elend und Ende des Wohlfahrtsstaats ist nach Ansicht des Buchautors eng verknüpft mit der Hyperinflation der Anzahl der Gefängnisinsassen und der Strafrechtshysterie. Auf S. 117 weist Wacquant exemplarisch nach, wie im Rahmen einer Wohlfahrts-"Reform" 1996 in den USA im vorhergehenden politischen Diskurs wie auch im Gesetzestext selbst, z.B. "allein erziehende arme Mütter in aggressiver Form nicht als bedürftig, sondern als deviant charakterisiert, als eine Problemgruppe, deren Integrität (...) suspekt ist und deren angebliches Arbeitsvermeidungsverhalten dringend der Korrektur durch Ausschluss, Zwang und moralischen Druck bedarf" diffamiert wurden. Also mit Techniken unter Druck gesetzt wurden, die "typisch für die Verbrechensbekämpfung sind".

Erklärte Absicht des Autors ist es, die "veränderten Aktivitäten der Polizei, der Gerichte und insbesondere der Gefängnisse" aufzudecken, die "speziell auf das Management der 'Problemgruppen' ausgerichtet sind, die in den unteren Regionen des sozialen und städtischen Raums hausen" (a.a.O., S. 180. Loic Wacquant will die Aufmerksamkeit der LeserInnen seiner Studie "auf den Zusammenschluss von Sanktionen im Strafrechts- und Kontrolle im Sozialhilfebereich zu einem einzigen Apparat der kulturellen Vereinnahmung und Verhaltenskontrolle von marginalen Populationen" lenken.

Viele Zahlen lassen sich dem Buch entnehmen; auch wenn keine ganz aktuellen Werte vorliegen, so schmälert dies nicht ansatzweise die Kraft der Aussagen Wacquants.

Im Jahr 2000 standen 3% der Gesamtbevölkerung der USA unter staatlicher Überwachung oder Kontrolle (a.a.O.; S. 149); immerhin jeder 20. weiße und jeder 10. schwarze männliche Erwachsene saß entweder im Knast, oder stand unter Bewährungsaufsicht. Instruktiv auch die Darstellung der wirtschaftlichen Macht und des Einflusses des Gefängnissystems: der Strafvollzugssektor stellt den drittgrößten Arbeitgeber in den USA, noch vor Ford (371.000 Beschäftigte), vor General Motors (646.000) oder UPS (336.000), mit ca. 708.000 Beschäftigten (a.a.O. S. 171).

Wurden 1980 noch 50% mehr Gelder an alleinerziehende arme Mütter ausgegeben als Gelder für Knäste, drehte sich 1993 dieses Verhältnis um; und schon 1995 wurde 2,3 mal so viel Geld für den Strafvollzug ausgegeben wie für bedürftige Mütter.

Diese und noch viel mehr Zahlen und Fakten, gut und umfangreich belegt, lassen sich in der Studie finden. Am beklemmendsten fand ich die Schilderung seines Besuchs "in der größten Strafkolonie der freien Welt" (a.a.O., S. 161), in Los Angeles, wo 23.000 Gefangene in sieben Anstalten leben (1980 waren es noch 9.000 Menschen hinter Gittern).

Wie weiter oben dargestellt, zielt die Studie jedoch viel weiter als in der bloßen Wiedergabe der Zahlen; vielmehr ordnet sie die Entwicklungen im Bereich Strafvollzug / Strafverfolgung ein in die (zunehmende) Verfolgung der unteren sozialen Schichten. Ausdrücklich lehnte der Autor es jedoch ab, seinem Buch den Mythos eines "von übelwollenden und allmächtigen Staatsmännern verfolgte(n), bewusste(n) Plan zugrunde" zu legen (a.a.O. S. 19). Er betont ausdrücklich, dass nichts von alledem was er beschreibt und aufdeckt "von schicksalhafter Notwendigkeit" ist, sondern stets "andere historische Wege" offen stehen, "wie schmal und wie unwahrscheinlich sie auch sein mögen" (a.a.O. S. 19).

Für ihn ist das Gefängnis der heutigen Prägung ein Ersatzghetto, wie auch ein Mittel zur Abschöpfung von Wirtschaftskraft und zur sozialen Ächtung. Scharf geht er mit den völlig überschießenden gesetzlichen Entwicklungen in den USA im Umgang mit entlassenen Sexualtätern um (a.a.O., S. 219ff), wohlwissend wie emotional besetzt dieses Thema ist. Was das Buch bedeutend macht, ist der systemübergreifende Ansatz Wacquants, der aufzeigt, wie der Neoliberalismus nicht nur die sozialen Sicherungssysteme und den "Wohlfahrtsstaat" ergreift, sondern geradezu als integralen Bestandteil das Gefängniswesen benötigt. Deshalb schadet, es auch der Studie nicht, wenn dort überwiegend Zahlen aus den USA oder Frankreich referiert werden, denn die zentralen Entwicklungslinien in den USA wie in Europa gleichen sich in zu vielen Punkten.

Alles in allem ist es eine ebenso gelungene wie wichtige Analyse, die auch dazu beitragen kann, eigene Argumentationsstrukturen bei der Bekämpfung des Gefängniswesens zu untermauern und zu unterstützen.

Von Thomas Meyer Falk, zur Zeit JVA Bruchsal

www.freedom-for-thomas.de


*


Quelle:
graswurzelrevolution, 39. Jahrgang, GWR 346, Februar 2010, S. 18
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net

Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Februar 2010