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GLEICHHEIT/7041: Beschäftigte des italienischen Gesundheitswesens äußern sich zur Coronavirus-Pandemie


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Beschäftigte des italienischen Gesundheitswesens äußern sich zur Coronavirus-Pandemie

Von Marc Wells
23. März 2020


Das italienische Gesundheitssystem ist aufgrund des exponentiellen Anstiegs der Coronavirus-Neuinfektionen und Todesopfer vollkommen überlastet. Bis Sonntagabend meldeten die italienischen Behörden eine Zahl von bisher insgesamt 59.138 Infektionen und 5.476 Toten.

Die Beschäftigten im Gesundheitswesen leisten Enormes und bringen immense Opfer, um die Auswirkungen des Virus zu begrenzen und die Zahl der Todesfälle zu verringern. Allerdings haben es mit einem System zu tun, das trotz aller Warnungen von Wissenschaftlern in den letzten 20 Jahren finanziell derart ausgeblutet wurde, dass es schon im Normalbetrieb große Probleme hat - von einem Notfall von historischem Ausmaß ganz zu schweigen.

Die Gefährlichkeit des Virus kann nicht hoch genug eingeschätzt werden: Zwar sind viele der Toten über 80 Jahre alt, doch es mehren sich Berichte und Meldungen, laut denen niemand, auch die Jungen nicht, vor langfristigen Komplikationen oder dem Tod sicher ist.

Süditalien ist noch nicht so stark betroffen wie der Norden. Allerdings steigt die Zahl der Infizierten auch dort schnell an, und die Gesundheitsinfrastruktur im Mezzogiorno ist nicht annähernd so gut wie im Norden.

Als die Conte-Regierung am 7. März die Lombardei abriegelte, strömte eine Welle von Emigranten in ihre Heimatstädte im Süden zurück und brachte die Infektion mit sich. Dies dürfte jetzt schwerwiegende Folgen haben: In der Region Apulien hat sich die Zahl der Toten an einem Tag verdoppelt, in Sizilien und Kampanien wird der Einsatz des Militärs vorbereitet.

Die WSWS sprach mit medizinischen Fachkräften aus Mittelitalien.

Emanuele Sorelli ist examinierter Krankenpfleger in einem öffentlichen Krankenhaus in Florenz. Die Abteilung Allgemeinmedizin, in der er arbeitet, wurde in eine COVID-19-Spezialabteilung umgebaut. "Am 10. März hat das Krankenhaus seine Testkriterien geändert und alle Patienten getestet, die in die Notaufnahme gekommen sind. Bisher wurden nur diejenigen getestet, die schwerwiegende Symptome hatten. In 48 Stunden haben wir festgestellt, dass fast alle aufgenommenen Patienten positiv getestet wurden."

Emanuele erklärte das neue Testverfahren: "Im Gegensatz zur Lombardei haben wir hier in der Toskana beschlossen, alle eingelieferten Patienten zu testen und sie entweder in die COVID- oder die Nicht-COVID-Abteilung zu stecken. Leider gab es in der Lombardei viele Kranke, sodass man ganze Krankenhäuser für die Behandlung der Infektionskrankheit herrichten musste."

Weiter berichtete er: "Die Ansteckungswelle breitet sich langsam nach Süden aus. Jetzt gibt es auch in der Mitte des Landes immer mehr Fälle, bald wird der Süden überrollt werden. In meinem Krankenhaus werden wegen des rapiden Anstiegs der Fallzahlen viele Abteilungen zur Behandlung von COVID umfunktioniert. Erst heute haben wir zwei neue Stationen in Betrieb genommen, morgen wird eine weitere eröffnet."

Er erklärte, weiter im Süden würde "die Rückkehr dieser Arbeiter in ihre Heimatstädte auf Befehl der Regierung nächste Woche spürbare Auswirkungen haben. Die Toskana und die Emilia Romagna haben die wohl beste Gesundheitsinfrastruktur, aber in Kampanien und Basilikata... Gott stehe uns bei!

Unsere Stationen sind völlig kontaminiert, weil sie eigentlich nicht auf Infektionskrankheiten ausgelegt waren. Wir können unsere Schutzausrüstung zwei bis drei Stunden tragen, aber es ist sehr anstrengend. Das Krankenhaus hat letzte Woche ehemalige Teilzeitärzte und Pflegekräfte als Hilfspersonal eingestellt... Unser Problem ist der Mangel an Schutzkleidung. Unter meinen Kollegen sind bereits vier positiv getestet (sie sind derzeit krank)."

Das Virus ist hochgradig ansteckend: "Wir gehen davon aus, dass die meisten von uns positiv sind. Wir sind alle kontaminiert, auch unsere Familien. Ich hatte Halsschmerzen, meine Partnerin und meine Tochter auch. Wir hoffen, dass es keine Lungenentzündung wird. Nicht unsere Patienten sind das Problem, sondern die Ansteckung unter Kollegen, die in engen Räumen zusammenarbeiten. Und wir riskieren, dass wir negative Patienten anstecken."

Emanuele erklärte, 5 bis 10 Prozent der Patienten würden eine interstitielle Lungenentzündung entwickeln, "davon müssen 5 bis 10 Prozent intubiert werden und brauchen Intensivpflege. Dafür brauchen wir Spezialbereiche, und es herrscht eine gefährliche Knappheit an Betten. In diesen Bereichen braucht man einen Pfleger pro Patient und die entsprechende Ausrüstung. Und zweifellos mussten sie in der Lombardei schwere Entscheidungen treffen, welches Leben sie retten. Die Alten werden geopfert."

Zuletzt warnte er: "Eine interstitielle Lungenentzündung hat möglicherweise keine Symptome, kann aber plötzlich zu Erstickungsgefahr führen. Die Patienten müssen sofort intubiert werden. Ein 30-jähriger Patient hat sie bekommen, und er war schockiert, weil er eigentlich noch gut atmen konnte. Schnelles Handeln entscheidet dann über Leben und Tod.

Die Einschränkung der Sozialkontakte ist von entscheidender Bedeutung. In Süditalien war die Hauptdarstellerin eines Theaterstücks positiv und hat alle infiziert - die Schauspieler und das Publikum. Viele wissen gar nicht, dass sie positiv sind."

Über die Sicherheit am Arbeitsplatz sagte er: "Es fehlt an Ausrüstung, vor allem an Masken. Kein Land verkauft sie uns. Die Europäische Union hat uns nicht geholfen. Sie versteht nicht, dass das, was in Italien passiert, sich unweigerlich auf ganz Europa ausbreiten wird. Nur China hat uns Material geschickt. Wenn uns die FFP2- und FFP3-Masken ausgehen, werden wir völlig ungeschützt sein."

Die WSWS sprach außerdem mit Professor Stefano Arcieri, dem leitenden Arzt von Roms Policlinico, der Poliklinik der medizinischen und chirurgischen Fakultät der römischen Universität Sapienza.

Professor Arcieri erklärte: "Wir bezahlen jetzt dafür, dass wir am Anfang nicht angemessen reagiert haben. Die Gefahr der Ansteckung wurde vor 10 bis 12 Tagen noch nicht richtig eingeschätzt. Die Vorgaben waren unverbindlich und lasch; jetzt wurde die Quarantäne mit deutlichen Einschränkungen der sozialen Kontakte umgesetzt. Es ist wichtig, in kollektiven Begriffen zu denken: Masken müssen getragen werden, wenn ältere Leute oder Menschen mit Krankheiten anwesend sind, um sie vor einer möglichen Ansteckung zu schützen, vor allem von Leuten, die positiv, aber symptomfrei, oder unwissentlich positiv sind."

Arcieri empfahl Präventivmaßnahmen: "Waschen Sie sich gründlich die Hände. Das Virus wird durch Tröpfchen übertragen und kann auf Oberflächen Stunden oder Tage überleben, auch wenn das noch keine Studie abschließend mit absoluter Sicherheit festgestellt hat. Versuchen Sie, sich nicht ins Gesicht zu fassen.

Es gibt eine steigende Tendenz zu Ansteckungen. Wir hoffen, dass die Eindämmungsmaßnahmen wirken und die Zahl der Infektionen zurückgehen wird, jedenfalls nach der Erfahrung in China."

Über die schnelle Ausbreitung erklärte Professor Arcieri: "Die Lombardei ist wahrscheinlich die am stärksten betroffene Region Italiens, und zwar aufgrund ihrer Rolle im internationalen Austausch, vor allem in Bezug auf die Industrie und den Handel. Als das Problem offensichtlich wurde, sind Zehntausende in den Süden gereist, die zweifellos die Krankheit in einige der ärmeren Gegenden des Landes mit einem schlechten Gesundheitssystem gebracht haben.

Es gibt momentan kein Heilmittel. Einige antivirale Medikamente sind vielversprechend, aber die Entwicklung eines Wirkstoffs wird mindestens acht bis neun Monate dauern. Deshalb ist Vorbereitung und Prävention der effizienteste Weg, die Krankheit zu bekämpfen. Wir müssen einen gut ausgewogenen Gesundheitszustand aufrechterhalten, uns genug ausruhen, richtig ernähren und versuchen, das körperliche und geistige Gleichgewicht zu erhalten. Ich habe eine Facebook-Seite mit dem Titel Capire per Prevenire [Verstehen, um vorzubeugen] mit vielen Followern, denen ich medizinische Empfehlungen gebe und Fragen beantworte."

Er erklärte weiter: "Die Zahlen in Italien werden mit Sicherheit zu niedrig geschätzt. Es gibt eine Menge von Infizierten, die keine Symptome haben. Und ich glaube, in Italien sind die Zahlen so hoch, weil wir genauere Meldungen haben als andere europäische Staaten."

Professor Arcieri kritisierte: "Ich muss sagen, dass alle Länder verzögert reagiert haben. Wahrscheinlich hat niemand mit so einer weltweiten Ausbreitung gerechnet. Eins ist jedoch sicher: Abgesehen von der Krise im Gesundheitswesen steht uns auch eine Krise des Weltwirtschaftssystems bevor. Es müssen riesige Summen bereitgestellt werden. Medizinisches Personal wird nicht getestet, obwohl das gefordert wird. Angesichts unserer Exposition ist das eine selbstverständliche Forderung."

Zuletzt erklärte er: "Alle müssen ihren Teil beitragen. Wenn sich Italien in einem oder zwei Monaten in derselben verbesserten Lage befindet wie China heute, dann hätte es das Problem noch immer nicht gelöst. Eine Lösung gibt es nur auf globaler Ebene, andernfalls wird die Lunte woanders gezündet, und es geht alles wieder von vorne los. Das Problem betrifft die ganze Weltbevölkerung, nicht nur einen bestimmten Nationalstaat. Einige Länder hindern Menschen daran, ihr Staatsgebiet zu betreten, aber das wird das Problem nicht lösen. Wir kämpfen nicht nur im eigenen Land, die ganze Welt ist das Schlachtfeld. Die einzige Lösung ist eine international koordinierte Anstrengung."

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Quelle:
World Socialist Web Site, 23.03.2020
Beschäftigte des italienischen Gesundheitswesens äußern sich zur Coronavirus-Pandemie
https://www.wsws.org/de/articles/2020/03/23/ital-m23.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2020

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