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GLEICHHEIT/6527: Brüssel leitet Sanktionsverfahren gegen Polen ein


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Brüssel leitet Sanktionsverfahren gegen Polen ein

Von Clara Weiss
27. Dezember 2017


Die Europäische Kommission hat am 20. Dezember angekündigt, ein Sanktionsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags gegen Polen einzuleiten. Die polnische Regierung der nationalistischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hatte davor die Unabhängigkeit der polnischen Gerichte von der Regierung de facto abgeschafft. Der Konflikt zwischen Brüssel und Warschau ist ein Symptom des fortschreitenden Aufbrechens der Europäischen Union.

Die Gesetze der PiS zur Unterordnung der Justiz unter die Regierung führen seit über zwei Jahren zu hitzigen Konflikten zwischen PiS auf der einen und der EU und der polnischen liberalen Opposition auf der anderen Seite. Die jüngsten zwei Gesetze betreffen den Obersten Gerichtshof und den Nationalrat der Justiz. Durch das eine können nun Politiker die Mitglieder des Rates bestimmen, welcher wiederum Richter im ganzen Land ernennt. Das zweite Gesetz setzt das Rentenalter für Richter des Obersten Gerichtshofes so weit herab, dass etwa 40 Prozent der jetzigen Richter sofort gehen müssen.

Im Sommer hatte der polnische Präsident Andrzej Duda ein Veto [1] gegen Aspekte der jüngsten Gesetze eingelegt, weil die innen- und außenpolitischen Spannungen stark angewachsen waren. Im Herbst schwenkte er dann aber voll auf Regierungskurs ein, und im Dezember unterzeichnete er die neuen Gesetze.

Malgorzata Gersdorf, die Vorsitzende des Obersten Gerichtshofes in Polen, verglich in einem Offenen Brief die neuen Gesetze mit einem "Staatsstreich".

In ihrer Erklärung vom 20. Dezember warnt die EU-Kommission vor den wirtschaftlichen Folgen der Justizreformen für ausländische Investoren und den europäischen Binnenmarkt. Die EU gibt Polen nun drei Monate Zeit, die jüngsten Gesetze rückgängig zu machen. Sollte dies nicht geschehen, werden die Mitgliedsstaaten über den Beginn eines Sanktionsverfahrens abstimmen, das die deutsche Tageszeitung Die Welt als "Teilrauswurf" bezeichnete.

Polen könnte dadurch das Stimmrecht in der EU verlieren. Die EU benötigt für die Aufnahme des Verfahrens die Zustimmung von 22 der 28 Mitgliedsstaaten im EU-Rat.

Es sagt einiges über den Zustand der EU aus, dass europäische Medien den Konflikt durchweg mit militärischem Vokabular beschreiben. So bezeichnete Die Welt das Sanktionsverfahren als "nukleare Option", die französische konservative Zeitung Le Figaro sprach von "schwerer Artillerie", die spanische Zeitung ABC schrieb: "Brüssel beginnt einen Krieg mit Polen wegen des Angriffs auf die Rechtsstaatlichkeit." Deutsche Medien wie Die Welt und die Süddeutsche Zeitung begrüßen dabei die Maßnahme als harten, aber notwendigen Schritt. Stefan Kornelius warnte in der Süddeutschen gleichzeitig, dass nun nach dem Brexit "ein Poexit als letzte Konsequenz stehen" könnte.

Die polnischen Medien reagierten auf die Ankündigung der EU-Kommission mit Panik. Die Gazeta Wyborcza, das wichtigste Sprachrohr der pro-deutschen und pro-europäischen liberalen Opposition, sprach vom "Tag des Jüngsten Gerichts". Die konservative Rzeczpospolita, die der Regierungslinie oft zustimmt, war nicht weniger entsetzt. In einem ersten Kommentar hieß es: "Das schlimmste steht noch vor uns." Die Zeitung verglich die polnische Politik mit einem schnellen Wagen, "der seit Monaten auf eine Wand zugefahren und nun spektakulär in sie hinein gekracht ist".

Die Rzeczpospolita warnte auch vor dem Rückzug privater ausländischer Investoren aus Polen und sagte schwere wirtschaftliche Folgen für das Land voraus. Ein anderer Kommentator für die Zeitung schrieb: "Einige Kollegen diskutieren schon darüber, wohin sie nach dem Polexit am besten ausreisen werden. Wir hoffen, dass diese Diskussion gegenstandslos ist." Der Kommentar zählte dann einige Faktoren auf, die einen Rauswurf Polens aus der EU verhindern könnten, darunter die daraus resultierende geographische Isolation der baltischen Staaten, die nach einem Poexit keine Grenze mit der EU haben würden.

Dass die EU nun ein Sanktionsverfahren gegen Polen aufnimmt, das im Austritt des Landes aus der EU resultieren könnte, ist ein Symptom extremer nationaler Spannungen innerhalb der EU und ihres immer schneller fortschreitenden Aufbrechens. In ganz Europa sind nationalistische Kräfte auf dem Vormarsch. In der Ukraine wurden sie direkt von Brüssel, Berlin und Washington an die Macht geputscht. In mehreren EU-Ländern, darunter nicht nur in Ungarn und mehreren osteuropäischen Ländern, sondern auch in Österreich, sind sie mittlerweile an der Regierung.

Wie die PiS verfolgen sie dabei oft eine Innen- und Außenpolitik, die den Interessen Deutschlands und der EU widersprechen. Die PiS hat in den vergangenen Jahren gezielt eine Strategie des so genannten Intermariums verfolgt, in deren Rahmen sie eine Allianz von anti-russischen, rechtsextremen und nationalistischen Kräften in Ost- und Mitteleuropa aufbaut. Diese Allianz, die vor allem in diesem Jahr gefördert wurde, sieht die Schaffung von wirtschaftlichen, politischen und militärischen Strukturen vor, die in Konkurrenz zur EU stehen.

Bei seinem Besuch in Warschau [2] im Sommer dieses Jahres, hatte US-Präsident Donald Trump der polnischen Regierung seine volle Unterstützung zugesichert, ihren nationalistischen Kurs bestärkt und signalisiert, dass er sie als Instrument sowohl gegen Deutschland als auch Russland betrachtet.

Auch die britische Regierung versucht den polnisch-europäischen Konflikt im Sinne ihrer nationalen Interessen auszuschlachten. So reiste Theresa May gleich nach der Ankündigung des Sanktionsverfahrens mit ihrem Kanzler Philip Hammond und dem Staatssekretär Amber Rudd, dem Außenminister Boris Johnson, dem Verteidigungsminister Gavin Williamson sowie dem Wirtschaftssekretär Greg Clark nach Warschau, um weitreichende bilaterale Verträge abzuschließen.

May und der neue polnische Premierminister Mateusz Morawiecki, der erst vor wenigen Wochen Beata Szydlo abgelöst hatte, unterzeichneten einen Vertrag über Verteidigungs- und Sicherheitszusammenarbeit. Darin verpflichtet sich Polen, Großbritannien bei einem Brexit-Deal gegen den "sehr gefährlichen" EU-Protektionismus zu helfen. Theresa May erklärte auf einer Pressekonferenz: "Ich bin entschlossen, dass der Brexit unserer Beziehungen mit Polen nicht schwächt. Stattdessen wird er ein Katalysator für eine Stärkung der Beziehungen sein."

Großbritannien war auch vor dem Brexit-Referendum einer der wichtigsten Verbündeten Polens, da es einen ähnlich harten anti-russischen Kurs verfolgte und sich gegen die Übermacht von Frankreich und Deutschland innerhalb der EU stellte. (Siehe auch: "Polnisch-britisches Gipfeltreffen zeigt wachsende nationale Spannungen in Europa" [3])

Die EU, die in Griechenland, Spanien und vielen anderen Ländern brutale Spardiktate durchgesetzt hat, ohne auch nur des Anscheins halber auf demokratische Mechanismen zurückzugreifen, versucht mit dem Sanktionsverfahren Warschau nun auf Linie zu peitschen. Der britische Independent begrüßte dies mit dem Argument: "Es wird immer deutlicher, dass die Nationalisten Europas kein tieferes Verständnis liberaler Werte oder wirtschaftlichen Fortschritts haben, und sich an diese nicht binden werden. Es ist Zeit, ihnen eine Lektion zu erteilen: Ihr könnt nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen."

Die innen- und außenpolitischen Maßnahmen der PiS in Polen während der letzten zwei Jahre waren durchweg reaktionär und stellen eine ernsthafte Gefahr für die Arbeiterklasse dar. Die PiS hat die Kontrolle über die Geheimdienste übernommen, unabhängige Gerichte de facto abgeschafft, den Sejm entmachtet, öffentliche Medien der Regierung unterstellt und weitgehende Schritte zur fortschreitenden Militarisierung der Gesellschaft unternommen. Die Demonstration von über 60.000 Faschisten im Warschauer Stadtzentrum [4] im November war ein direktes Ergebnis der Politik der PiS, die seit ihrem Regierungsantritt rechte und offen faschistische Tendenzen unterstützt und propagandistisch gestärkt hat.

Doch PiS ist nicht vom Himmel gefallen. Die Kräfte, die sich in der Partei sammeln, sind aus der kapitalistischen Restauration hervorgegangen, die von Westeuropa und den USA mit vorangetrieben wurden. Sie sind gestärkt worden durch die soziale Katastrophe, die mit der Restauration und dem EU-Beitritt verbunden waren und Polen in ein Niedriglohnparadies für westeuropäische und insbesondere deutsche Konzerne verwandelt haben. Auch der Aufbau Polens als Bollwerk der NATO in Osteuropa, der zu einer extremen Militarisierung der polnischen Gesellschaft geführt hat, war Bestandteil einer gezielten Politik.

Mit anderen Worten: dieselben Kräfte in Brüssel, die nun versuchen, Warschau mit dem Sanktionsverfahren auf Linie zu peitschen, sind für den Aufstieg von PiS und ähnlichen Kräften in Europa mitverantwortlich. Die Antwort der EU auf diese Krise wird diese weiter verschärfen und den nationalistischen Kräften in ganz Europa weiter Aufschub geben.


Anmerkungen:
[1] https://www.wsws.org/de/articles/2017/07/26/pole-j26.html
[2] https://www.wsws.org/de/articles/2017/07/24/pole-j24.html
[3] https://www.wsws.org/de/articles/2016/12/22/grie-d22.html
[4] https://www.wsws.org/de/articles/2017/11/15/pola-n15.html

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Quelle:
World Socialist Web Site, 27.12.2017
Brüssel leitet Sanktionsverfahren gegen Polen ein
http://www.wsws.org/de/articles/2017/12/27/pole-d27.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2017

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