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GLEICHHEIT/5758: Russisch-türkische Konfrontation in der Ägäis


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Russisch-türkische Konfrontation in der Ägäis

Von Thomas Gaist
15. Dezember 2015


Ein russischer Zerstörer gab am Sonntag während einer ernsten Konfrontation im Ägäischen Meer Warnschüsse auf ein türkisches Fischerboot ab, teilte die russische Regierung mit.

Der russische Verteidigungsminister bestellte nach dem Zwischenfall den türkischen Militärattaché in Moskau ein. Der türkischen Seite "wurde in deutlichen Worten erklärt, dass Ankaras rücksichtsloses Vorgehen gegen das russische Militärkontingent, das in Syrien den internationalen Terrorismus bekämpft, ernste Konsequenzen haben kann", hieß es in einer Erklärung des russischen Verteidigungsministeriums.

Die russischen Beamten warnten ihre türkischen Gesprächspartner, dass die Regierung von Präsident Wladimir Putin "weitere türkische Provokationen befürchtet."

Russland hat klargestellt, dass es den Zwischenfall für eine gezielte Provokation der türkischen Marine hält. Nach Angaben russischer Vertreter hatte man Warnschüsse abgefeuert, nachdem das türkische Fischerboot auf Kollisionskurs blieb und direkt auf den russischen Zerstörer zusteuerte. Zuvor hätte es auf Funk- und Lichtsignale nicht reagiert.

Das türkische Boot drehte schließlich ab und "vollzog eine scharfe Kursänderung", wie es nach russischer Darstellung heißt, und zwar erst nach den Warnschüssen, nachdem es sich dem Zerstörer auf weniger als einen halben Kilometer genähert und die ganze Zeit nicht auf Funksignale reagiert hatte.

Der Zusammenstoß ist die jüngste einer Reihe von eskalierenden Provokationen und Vergeltungsmaßnahmen zwischen Moskau und Ankara nach dem Abschuss des russischen Shukoi Kampfflugzeugs am 24. November an der türkisch-syrischen Grenze. Es war der erste Abschuss eines russischen Flugzeugs durch ein Nato-Mitglied seit über 50 Jahren, zweifellos im Vorhinein gebilligt durch die USA und das Nato-Kommando. Moskau sollte erniedrigt und bestraft und eine westliche Intervention in Syrien und der Region erleichtert werden.

Seit dem Abschuss am 24. November haben sich die Spannungen zwischen dem US-Verbündeten Türkei und Russland kontinuierlich verschärft. Putin bezeichnete den Abschuss als "Dolchstoß" und bezichtigte die türkische Regierung öffentlich, den IS militärisch zu unterstützen und regelmäßig von ihm gefördertes Öl zu beziehen.

Als die Türkei sowie die USA und die Nato den Abschuss ausdrücklich verteidigten, verhängte Russland Wirtschaftssanktionen gegen Ankara und verlegte moderne Flugabwehrsysteme nach Nordsyrien.

Seit dem 3. Dezember führt die Türkei neue Bodenoperationen im Nordirak durch. Hunderte Soldaten der schweren Infanterie trafen in Bashiq nahe Mossul ein. Analysten in der Region meinen, der türkische Einfall diene Plänen, die Kontrolle über den Nordirak zu erlangen, um die Errichtung eines unabhängigen Kurdenstaates zu verhindern, Opposition von kurdischen Gruppen im Innern der Türkei zu unterdrücken und Ankaras Position gegenüber dem Iran und Saudi-Arabien zu verbessern, den beiden regionalen Hauptkonkurrenten um die Vormachtstellung.

Die schiitische Regierung in Bagdad und weitere pro-iranische Kräfte im Irak haben auf das türkische Vorgehen mit wütenden Demonstrationen reagiert und bewaffnete Angriffe auf die türkische Armee angedroht.

Schiitische Milizen organisierten am Wochenende antitürkische Demonstrationen, bei denen türkische Fahnen verbrannt wurden. Die Demonstranten riefen: "Tod der Türkei, Tod Erdogan." Die türkische Präsenz sei ein Akt "ausländischer Aggression", die der Irak "mit allen erdenklichen Mitteln" abwehren müsse, erklärte Hadi al-Amiri, Führer der Miliz der schiitischen Badr-Organisation vor Demonstranten am Sonntag in Bagdad.

Führende russische Diplomaten betonten in Erklärungen zum türkischen Eindringen in den Irak am Wochenende, dass Moskau darin vor allem eine kriegerische Handlung gegen den Irak sieht. Russland weist die türkische Behauptung zurück, dass es dem Kampf gegen den IS dient.

"Das Vorgehen der Türkei im Nordirak ist illegal. Sie dringt in das Gebiet eines benachbarten Staates in einem Ausmaß ein, das mit Vorbereitung, Ausbildung etc. kaum mehr gerechtfertigt werden kann. Wir sind sehr besorgt darüber", verlautete am Sonntag aus dem russischen Außenministerium.

Die Weigerung Ankaras, seine Truppen zurückzuziehen, kann dazu führen, dass der Irak ein neues Aufmarschgebiet für die zahlreichen Parteien des Stellvertreterkriegs wird, den die USA und Russland in Syrien gegeneinander führen.

"Die Spannungen zwischen der Türkei und dem Irak könnten bald eine neue Front im Nahen Osten eröffnen. Ein Krieg zwischen den beiden Ländern kann nicht länger ausgeschlossen werden", schreiben die Deutsche Wirtschafts Nachrichten (DWN).

Bereits letzte Woche wurde die Gefahr eines direkten Kriegs zwischen Russland und der Türkei deutlich, als ein russischer Soldat beim Durchqueren der strategisch wichtigen Wasserstraße, die durch Istanbul verläuft, einen Raketenwerfer bedrohlich auf die Küste Istanbuls richtete.

Seither ist es zwischen den beiden Regierungen zu heftigen gegenseitigen Beschuldigungen gekommen. Am Wochenende warnte der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu, die Türkei wolle russische Provokationen nicht länger hinnehmen. Er warf Russland vor, "jede Gelegenheit" wahrzunehmen, um Vergeltung für den Abschuss des russischen Flugzeugs zu üben.

In einer Rede an die Nation verurteilte der russische Präsident Putin kaum verhüllt die türkische und amerikanische Regierung dafür, dass sie die extremen islamistischen Milizen unterstützen würden, um ihr Ziel, den Sturz der syrischen Regierung, zu erreichen.

Die russischen Bemühungen, den Terrorismus in Syrien zu bekämpfen, seien durch "Versuche, [Terroristen] für eigennützige Ziele einzuspannen" und "kriminelle, blutige Geschäfte mit Terroristen" zu machen, erschwert worden, sagte Putin. Dann gab er bekannt, dass Russland Gespräche mit Ankara über eine gemeinsame Beteiligung an einem großen Pipeline-Projekt auf Eis lege.

Zwar sind die Provokationen und Gegenprovokationen zwischen der Türkei und Russland ein wichtiger Gradmesser für die explosiven Spannungen, die sich in der Region aufbauen, letztlich sind sie aber nur eine Folge des globalen Kriegstreibens der USA, mit dem Washington seine militärische und politische Kontrolle über den Nahen Osten festigen will. Die Ausweitung des Krieges im Nahen Osten mit Schwerpunkt Irak und Syrien ist kein Ergebnis der Manöver der Putin-Regierung, sondern der jahrzehntelangen militärischen und geheimen Operationen der USA gegen russlandfreundliche Regierungen, wie Syrien und den Iran in dieser Region, und darüber hinaus.

Washington weitet momentan seine militärische Intervention in beiden Ländern ständig aus. Im Vorfeld des Flugzeugabschusses am 24. November durch die Türkei zogen die USA neue Kräfte entlang der türkisch-syrischen Grenze zusammen. Dazu zählte die Verlegung von weiteren US F-16 Jets auf Luftstützpunkte im Südosten der Türkei und weitere amerikanisch-türkische Militäroperationen an der türkisch-syrischen Grenze. Die USA eskalieren ihre Operationen auf beiden Seiten der syrisch-irakischen Grenze, berichtete US-Verteidigungsminister Carter dem Streitkräfte-Ausschuss des Senats.

Die jüngsten Entwicklungen in der Ägäis sind eine bedrohliche Warnung für die internationale Arbeiterklasse. Die sich jagenden Ereignisse erhöhen ständig die Gefahr, dass der syrische Bürgerkrieg, der sich schnell zu einem großen, die ganze Region erfassenden Konflikt entwickelt hat, seit die USA und Nato-Mächte ihn ab 2011 geschürt haben, jederzeit in einen globalen Zusammenstoß von Atommächten ausufert.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 15.12.2015
Russisch-türkische Konfrontation in der Ägäis
http://www.wsws.org/de/articles/2015/12/15/turk-d15.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Dezember 2015

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