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GLEICHHEIT/5585: Bericht aus Athen - Griechische Arbeiter nach dem "Nein"


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Bericht aus Athen
Griechische Arbeiter nach dem "Nein": "Wir leben im 21. Jahrhundert und wir wollen mehr als das."

Von Robert Stevens und Christoph Dreier
9. Juli 2015


Nachdem am Samstag fast zwei Drittel gegen die Sparmaßnahmen der Europäischen Union gestimmt hatten, erwartet die Bevölkerung auf den Straßen Athens mit Besorgnis die ersten Resultate der Brüsseler Verhandlungen über ein neues Memorandum.

Die Mehrheit hofft, dass Syriza-Premierminister Alexis Tsipras nach dem "Nein" in der Lage sein wird, einen besseren Deal mit den EU-Gläubigern auszuhandeln. Allerdings gibt es wenig Zuversicht, dass die Regierung ihren Auftrag erfüllen und die Austerität beenden wird. Die meisten Menschen fürchten neue Sparmaßnahmen, die die Masse der Bevölkerung nicht mehr ertragen kann.

An der Metrostation Agios Ioannis sprachen WSWS-Reporter mit Stephanos. Er war sich nicht sicher, ob Tsipras in der Lage sein wird, eine bessere Vereinbarung zu erzielen. "Es hängt sehr von der deutschen und von anderen Regierungen ab", sagte er. "Aber die Bevölkerung in Griechenland kann keine weiteren Sparmaßnahmen mehr aushalten. Es würde also sehr schwierig für die Regierung werden, wenn sie weiteren Sozialkürzungen zustimmt."

Stephanos studiert Chemie und Lebensmittelwissenschaft. Seine Mutter arbeitet 30 Stunden wöchentlich in einem Supermarkt und verdient nur 350 Euro. Sein Vater ist Busfahrer. Er hat früher über 1.000 Euro monatlich nach Hause gebracht, aber aufgrund der Sozialkürzungen, die die EU und der Internationale Währungsfond diktiert haben, verringerte sich sein Gehalt auf 600 Euro. Die Familie muss außerdem die verhasste Immobiliensteuer aufbringen, weil sie ein kleines Appartement besitzt.

Für Stephanos und seinen Freund Kevin besteht die einzige Hoffnung in einem europaweiten Kampf gegen Sozialkürzungen. "Unser 'Nein' war eine Botschaft", sagte er. "Wir müssen in jedem Land Europas die Sparmaßnahmen beenden, nicht nur in Griechenland. Und darum müssen wir vereint und nicht getrennt sein." Als ihm die WSWS-Reporter von der wachsenden Streikwelle in Deutschland berichteten, die sich gegen die Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiter richtet, sagte er: "Die deutschen Lokführer, Postarbeiter und Erzieherinnen, die Arbeiter in Belgien, Frankreich und hier in Griechenland müssen sich vereinen, um gegen die Krise kämpfen zu können."

Eleni, die Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft unterrichtet, sprach mit den WSWS-Reportern vor dem geschäftigen Arbeitsamt OAED in Omonia im Zentrum Athens. Beim Referendum stimmte sie mit "Nein". "Das klare 'Nein' ist sehr wichtig", sagte sie. "Anderenfalls würden wir direkt zurück in die Vergangenheit gehen. Wir würden einen Polizeistaat nebst umfangreichen Austeritätsdeals bekommen und die Renten der alten Leute würden weiter sinken - genauso wie mein eigenes Einkommen."

Eleni hofft, dass das "Nein" der Regierung eine bessere Verhandlungsposition mit Griechenlands Gläubigern verschafft, um weitere umfangreiche Sparmaßnahmen zu verhindern. Die Lehrer in Griechenland werden in den Sommerferien entlassen und Eleni musste sich im Arbeitsamt arbeitslos melden. Ihr erhält im Moment lediglich 360 Euro Arbeitslosengeld. Ihre Miete beträgt 270 Euro und sie hat Probleme, sie zu zahlen, da auch ihr Partner arbeitslos ist. "Meine Eltern helfen", sagte sie. "Jeder hilft dem anderen. Einige Freunde sind Bauern und geben uns etwas Gemüse. Wir versuchen zu überleben."

Eleni betrachtet Griechenland als Bestandteil eines "großen Experiments" in allen südlichen Ländern. Sie glaubt, dass Deutschland bewusst daran arbeitet, die griechischen Löhne zu drücken, um billige Arbeitskräfte in Europa zu erhalten. "Da wir dieselbe Währung haben, ist es schwierig, das innerhalb der EU zu vermeiden", bemerkte sie. Gleichzeitig ist sie aber gegen einen Austritt aus der EU.

Auf die Frage, wie die Austerität in Europa ihrer Meinung nach beendet werden könne, verlieh sie ihrer Hoffnung Ausdruck, dass die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ihre Meinung zu Europa ändert. "Hier leben Menschen. Es gibt nicht nur Banken," sagte sie.

Auch Christos arbeitet als Lehrer in einer privaten Schule und urde über den Sommer entlassen. Im Verlauf von weniger als zehn Jahren wurde sein Lohn von 16.000 Euro auf lediglich 6.000 Euro jährlich gekürzt. Er muss für die Behandlung seiner schwerkranken Mutter aufkommen und hat lediglich 250 Euro pro Monat, um seine Miete, seine Versicherung und seine Lebensmittel zu bezahlen.

Er hofft auf einen Schuldenschnitt, damit Griechenland Geld zur Verfügung hat, um die Wirtschaft anzukurbeln. Aber er hat wenig Vertrauen, dass die europäischen Regierungen sich darauf einlassen. "Die Hoffnung besteht darin, dass das, was wir tun, anderen Hoffnung gibt, sich ebenfalls zu erheben," sagte Christos und fügte hinzu: "Sie können nicht die Bevölkerung überwältigen. Im Interesse der Menschen müssen sie in die kleine Flamme, die wir gerade entzündet haben, weiteren Brennstoff gießen. Wir brauchen die Hilfe der Bevölkerungen anderer Länder. Ich glaube nicht, dass die Menschen in Deutschland die griechische Bevölkerung leiden sehen wollen."

Eleni ist eine 24-jährige Arbeiterin von der griechischen Insel Kreta. "Ich war nicht zuhause und konnte darum nicht abstimmen. Aber ich hätte mit 'Nein' gestimmt. Ich denke, sie wollen einen besseren Deal bekommen, nur ein bisschen besser als den vorherigen."

Sie glaubt, dass es Kürzungen geben wird, egal welcher neue Deal vereinbart wird. "Ich glaube nicht, dass es anders werden wird. Ich bin nicht wirklich optimistisch."

Auf die Frage, wie sie auf eine Einigung mit den Gläubigern zu mehr Sparmaßnahmen reagieren würde, antwortete Eleni: "Ich hätte mit 'Nein' gestimmt, also will ich diesen Deal nicht." Ein neuer Deal, sagte sie, "wäre nicht schlimmer als es jetzt schon ist. Aber es wird schlimmer sein, als es vor vier Jahren war."

Über die Auswirkungen der sozialen Krise sagte sie: "Der Grund, warum die meisten Leute trotz der Austerität noch am Leben sind, ist der, dass viele bei ihren Eltern leben."

"Ich war sicher, dass die Abstimmung mit 'Nein' augeht," ergänzte sie "Ich glaubte, dass nur die reichen Leute mit 'Ja' stimmen würden, und es gibt nicht mehr viele Reiche hier. Mir war nicht bange vor dem Referendum. Wir jungen Leute wurden ohne Vorwarnung in diese Situation gebracht, und jetzt sind wir so. Wir können uns das Leben nicht leisten. Ich glaube, niemand in meinem Alter will Kinder haben, wenn es so bleibt, wie es ist."

Als die Krise vor fünf Jahren begann, war Eleni noch Schülerin. "Ich war schon zu Anfang sicher, dass es schlimmer kommen würde", sagte sie. Über die Situation auf Kreta berichtete sie, dass über 70 Prozent für die Ablehnung der EU-Austeritätsverträge gestimmt haben. Und das obwohl die Bevölkerung auf der Insel durch die Kürzungen nicht so stark in Mitleidenschaft gezogen wurde wie die Menschen auf dem Festland.

Eleni sagte der WSWS, dass sie an der Massendemonstration [1] für das "Nein", die zwei Tagen vor der Abstimmung in Athen stattgefunden hatte, nicht teilnehmen konnte. Sie zeigte sich frustriert darüber, dass nach den früheren großen Anti-Austeritäts-Demonstrationen, "die Kürzungsprogramme schließlich trotzdem fortgesetzt wurden."

Elena, die im Januar für Syriza gestimmt hatte, sagte: "Wir brauchten wirklich etwas anderes." Eine Lösung der Wirtschaftskrise und der unaufhörlichen Sparmaßnahmen bestehe darin, "die dafür verantwortlichen Leute zahlen zu lassen. Es kann nicht sein, dass wir weniger Geld haben als nötig zum Überleben ist. Die reichen Leute sollen weniger Geld haben."

Sie erklärte, dass die Medien alles unternommen hätten, um ein "Ja" bei der Abstimmung sicherzustellen. Sie fügte hinzu: "Mit dem Internet bleibt uns Hoffnung. Gäbe es nicht das Internet, so denke ich, würden wir nicht mit 'Nein' gestimmt haben. Die Propaganda für das 'Ja' war wirklich massiv. Man sagte uns, dass bei einem 'Nein' jeder hungern und auf der Straße sterben müsse." Eine Frau im Fernsehen habe erklärt, dass die Reichen und die Armen, das 'Ja' wollten.

Dann berichtete Eleni über ihre eigene Situation: "Welchen Job ich auch mache, ohne die Hilfe meiner Eltern kann ich nicht überleben. Ich will das nicht." Ihr letzter Job war der Verkauf von SIM-Karten an Passanten, wofür sie lediglich 400 Euro monatlich bekam. Sie sagte: "Davon musste ich Miete, Strom und Lebensmittel bezahlen, zurück blieb nichts. Außerdem brauche ich 100 Euro im Monat für Medizin. Ich bin zwar krankenversichert, aber nicht alles wird übernommen, also muss ich zuzahlen."

Manchmal muss ich meine Eltern um etwas Geld bitten. Wir können als junge Menschen nicht sparen. Wir wollen nicht reich sein, wir wollen bloß ein normales Leben. Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert und wir wollen mehr als das."


Anmerkung:
[1] http://www.wsws.org/de/articles/2015/07/06/gree-j06.html

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Quelle:
World Socialist Web Site, 09.07.2015
Bericht aus Athen - Griechische Arbeiter nach dem "Nein":
"Wir leben im 21. Jahrhundert und wir wollen mehr als das."
http://www.wsws.org/de/articles/2015/07/09/athe-j09.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juli 2015

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