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GLEICHHEIT/5290: EU stellt Seenotrettung von Flüchtlingen ein


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

EU stellt Seenotrettung von Flüchtlingen ein

Von Martin Kreickenbaum
4. Oktober 2014



Die EU reagiert auf die horrenden Zahlen ertrunkener Flüchtlinge im Mittelmeer, indem sie die Seenotrettung weitestgehend einstellt. Die europäischen Regierungen haben es abgelehnt, die italienische Seeüberwachungsmission Mare Nostrum unter eigener Regie fortzusetzen. Stattdessen wird nur eine abgespeckte Operation durchgeführt, die keine Seenotrettung beinhaltet. Die EU macht mit dieser Entscheidung deutlich, dass sie die Flüchtlinge lieber hilflos ertrinken lässt als sie aufzunehmen.

Als vor genau einem Jahr vor der italienischen Insel Lampedusa zwei Flüchtlingsboote sanken [1] und 500 Menschen in einen grauenhaften Tod rissen, versprach die Europäischen Kommission, dass sich eine solche Katastrophe nicht wiederholen dürfe.

Das waren nichts weiter als leere Versprechungen. Während die Europäischen Union nicht einen Finger krümmte oder auch nur einen Euro für die Seenotrettung bereitstellte, startete die italienische Regierung die Mission Mare Nostrum, die in den letzten Monaten immer schärfer ins Kreuzfeuer der Kritik geraten ist. Die Mission rette zu viele Flüchtlinge, hieß es von Seiten der Kritiker.

Dabei war Mare Nostrum weit davon entfernt, eine Seenotrettungsmission zu sein. Das Hauptziel bestand darin, Schlepperboote zu identifizieren und Flüchtlingsboote zurück zum afrikanischen Festland zu eskortieren, wie der damalige italienische Verteidigungsminister Mario Mauro erklärte. Der massive Einsatz der italienischen Kriegsmarine sollte in erster Linie der Abschreckung von Flüchtlingen dienen.

Nicht zufällig kam es zu Beginn der Mission zu einem Zwischenfall, als das Marineschiff "Aliseo" mehrere Maschinengewehrsalven auf ein mit 176 Flüchtlingen besetztes Boot abfeuerte. Nach der Rettung der Flüchtlinge versank das Boot. Die italienische Marine rechtfertigte den Beschuss mit der Festnahme von 16 mutmaßlichen Schleusern.

Auch wenn die Rettung Schiffbrüchiger bei Mare Nostrum nur zweitrangig war, wurden von den beteiligten Marineeinheiten in den letzten zehn Monaten mehr als 91.000 Flüchtlinge aufgegriffen und nach Italien gebracht. Rechnet man die Flüchtlinge hinzu, die von Handelsschiffen gerettet wurden, sind insgesamt rund 130.000 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Italien gelangt.

Die Rettung der Flüchtlinge war der Europäischen Union zunehmend ein Dorn im Auge. Seit Monaten wird argumentiert, die Mare Nostrum-Mission habe das Schlepperwesen in Nordafrika erst richtig angeheizt. "Migranten wurden in unsichere und kleinere Boote gesetzt, weil die Wahrscheinlichkeit der Rettung erhöht wurde", erklärte etwa die noch amtierende EU-Kommissarin für Justiz und Inneres, Cecila Malmström, Anfang September.

Die Frage der Kosten für die Fortsetzung der Mission wurde schließlich zum willkommenen Anlass, die Rettung schiffbrüchiger Flüchtlinge auf ein Minimum zu reduzieren. Zunächst erklärte die italienische Regierung, dass sie die 9 Millionen Euro im Monat für Mare Nostrum nicht mehr allein tragen wolle und stattdessen die europäische Grenzschutzagentur Frontex die Operation übernehmen solle. Darauf antwortete diese, dass sie weder finanziell noch von ihren materiellen Ressourcen her dazu in Lage sei.

Das ist eine absurde Behauptung. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union geben Milliarden Euro für Kriege im Nahen Osten und in Afrika aus. Die satelliten- und drohnengestützte Überwachung des gesamten Mittelmeerraums verschlingt in den nächsten Jahren weitere 340 Millionen Euro. Zudem erstattet die EU ihren Mitgliedsstaaten teilweise die Kosten für die Flüchtlingsabwehr. Allein Italien hat zwischen 2007 und 2013 rund 250 Millionen Euro für die Grenzsicherung und 45 Millionen Euro für Abschiebungen erhalten.

Tatsächlich geht es nicht um fehlende finanzielle Mittel, sondern darum, die Flüchtlingsabwehr auch um den Preis noch höherer Opferzahlen durchzusetzen. Geeinigt hat man sich daher schließlich auf eine abgespeckte Alibimission, die weder finanziell noch vom Umfang der beteiligten Schiffe, Flugzeuge und Hubschrauber oder vom abgedeckten Meeresgebiet her auch nur annähernd die Mare Nostrum-Mission ersetzen kann.

In einem von Frontex erarbeiteten Konzeptpapier vom 28. August 2014 wird für die vorgesehene gemeinsame Operation Triton vorgeschlagen, neben zwei Überwachungsflugzeugen einige Küstenwachtboote im Bereich der italienischen Küstengewässer einzusetzen. Frontex veranschlagt für die Operation monatliche Kosten in Höhe von 2,8 Millionen Euro und bleibt damit weit hinter den 9 Millionen Euro zurück, die Mare Nostrum monatlich kostete. In dem Konzeptpapier wird dazu erklärt, dass Frontex nur Grenzschutzaufgaben übernehme und die Reichweite und Kosten von Mare Nostrum "weit jenseits der Möglichkeiten von Frontex" lägen.

Die Konsequenzen werden dabei mit atemberaubender Gleichgültigkeit aufgeführt. In dem Papier heißt es: "Es muss betont werden, dass der Rückzug von Marineeinheiten aus dem Seegebiet nahe der libyschen Küste ... wahrscheinlich zu einer höheren Anzahl von Todesfällen führt."

Dies wird nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern ist letztlich sogar beabsichtigt. Frontex verspricht sich von einem Rückzug der Marineeinheiten, dass "deutlicher weniger Migranten die Überfahrt bei schlechtem Wetter wagen und die Preise für die Überfahrten steigen werden". Dadurch würde die Zahl der Flüchtlinge wieder auf "das Niveau der Vorjahre" sinken.

Diese menschenverachtende und zynische Argumentation soll von den wirklichen Gründen für die steigende Zahl von Flüchtlingen ablenken. Tatsächlich haben erst die von der EU unterstützten Kriege in Syrien, Mali, Libyen oder dem Sudan sowie Israels Offensive gegen die Palästinenser im Gaza-Streifen die Zustände geschaffen, die Millionen Menschen zur Flucht treiben.

Auch die skrupellosen Schleuserbanden, die mit dem Elend der Menschen ihr schmutziges Geschäft betreiben, sind nicht das Ergebnis von Seenotrettungsaktionen, sondern haben ihre Ursache in der systematischen Abschottung der Europäischen Union. Für Flüchtlingen ist es heute unmöglich, legal nach Europa zu gelangen. Sie werden von der EU auf immer gefährlichere Routen über das Mittelmeer gedrängt.

Das Mittelmeer ist schon jetzt die weltweit gefährlichste Zone für Flüchtlinge. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) schätzt die Zahl der weltweit auf der Flucht gestorbenen Flüchtlinge seit dem Jahr 2000 auf 40.000. Mehr als die Hälfte davon, rund 25.000 Menschen, sind dabei im Mittelmeer ertrunken. Allein in diesem Jahr waren es 3.072. Laut IOM gehen Experten sogar davon aus, dass die tatsächliche Zahl dreimal so hoch ist, da die Welt von den meisten Todesfällen nie erfährt.

Jetzt soll die Todesgefahr bei der Überfahrt weiter erhöht werden, um die Zahl der Flüchtlinge gering zu halten. Am 9. September, genau zu der Zeit als vor Malta ein Flüchtlingsboot versank und 500 Flüchtlinge in den Tod riss, schrieb der deutsche Innenminister Thomas de Maizière einen Brief an die EU-Kommissarin Cecila Malmström. In Abstimmung mit seinen Amtskollegen aus Frankreich, Großbritannien, Spanien und Polen forderte er darin als "Antwort auf Migrationsfragen" die "Umsetzung prioritärer Maßnahmen".

Eine seiner zentralen Forderungen ist die Verschärfung der Grenzüberwachung und die konsequente Durchführung von Abschiebungen. Außerdem wird die Zerschlagung von Schleuserbanden und schließlich die engere Zusammenarbeit mit den Polizeibehörden in den Transitländern Nordafrikas angemahnt.

Für die hunderttausenden Flüchtlinge, die in Ägypten, Libyen, Tunesien und Marokko unter katastrophalen Bedingungen oft jahrelang in provisorischen Zeltlagern hausen, sind die geforderten Maßnahmen lebensbedrohend. Die Situation der Flüchtlinge dort ist schon heute dramatisch. In Tunesien und Marokko führt die Polizei - quasi im Auftrag der EU - regelmäßig Razzien in den Lagern durch und verbrennt oftmals das gesamte mickrige Hab und Gut der Flüchtlinge. Vor den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko werden Flüchtlinge von Schlägertrupps der marokkanischen Polizei unter den Augen der spanischen Guardia Civil misshandelt und verprügelt.

Mit ihrer bewussten Entscheidung, keinerlei Seenotrettungsmaßnahmen im Mittelmeer durchzuführen und damit auch einige hunderttausend Flüchtlinge aufzunehmen und zu versorgen, offenbart die EU ihr wahres Gesicht. Sie lässt die Menschen, die sie mit ihrer Kriegspolitik zu Flüchtlingen macht, eher ertrinken, als dass sie sie aufnehmen würde.


Anmerkungen:
[1] https://www.wsws.org/de/articles/2013/10/17/pers-o17.html

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Quelle:
World Socialist Web Site, 04.10.2014
EU stellt Seenotrettung von Flüchtlingen ein
http://www.wsws.org/de/articles/2014/10/04/mare-o04.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2014