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GLEICHHEIT/5203: Wiener Justiz geht gegen Demonstranten vor


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Wiener Justiz geht gegen Demonstranten vor

Von Denis Krassnin
15. Juli 2014



An Josef S., einem Studenten aus Jena, soll in Wien ein Exempel statuiert werden. Ihm drohen fünf Jahre Haft, weil er Anfang dieses Jahres gegen den "Wiener Akademikerball", zu dem Rechtsextreme aus ganz Europa anreisen, demonstriert hat.

Der deutsche Student sitzt seit dem 24. Januar als einziger von etwa 8.000 Demonstrationsteilnehmern in Untersuchungshaft. Er ist wegen Landfriedensbruch, schwerer Sachbeschädigung sowie absichtlicher schwerer Körperverletzung angeklagt, obwohl es dafür keine tragfähigen Beweise gibt.

Es ist nicht das erste Mal, dass gegen den Ball demonstriert wird. Bis 2012 war der Wiener Korporations-Ball von rechten Burschenschaften in der Hofburg ausgerichtet worden, der ehemaligen Residenz der Habsburger Monarchie und dem heutigen Sitz des österreichischen Bundespräsidenten. Danach weigerte sich die Hofburg wegen der zunehmenden Proteste, die Räumlichkeiten weiter an die Burschenschaften zu vermieten.

Letztes Jahr übernahm dann der Wiener Landesverband der rechtsextremen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) die Schirmherrschaft über das Ereignis und gab ihm einen neuen Namen. Weil die FPÖ drittgrößte Kraft im Parlament ist, können von ihr organisierte Aktivitäten nicht verboten werden.

Die FPÖ arbeitet in Europa mit extrem rechten Organisationen zusammen. Im Europaparlament kooperiert sie mit dem französischen Front National, der niederländischen Freiheitspartei von Geert Wilders, der italienischen Lega Nord und dem belgischen Vlaams Belang. Dementsprechend waren in letzter Zeit immer wieder hochrangige Rechtsextreme aus ganz Europa zum Wiener Akademikerball gekommen, z. B. die Vorsitzende des Front National Marine Le Pen, wie das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes herausfand.

Zum Schutze dieser Personengruppen sperrt die Polizei Wien weiträumig ab. Selbst für den damaligen US-Präsidenten George W. Bush war die Sperrzone bei seinem Besuch 2006 kleiner gestaltet, als für den Wiener Akademikerball. Auch dieses Jahr war die Innenstadt weiträumig verbotenes Gebiet. Die einige Hundert Gäste schützte ein Großaufgebot von 2.000 Beamten der Polizei. Medien hatten bis auf Einzelfälle keinen Zugang zum Sperrgebiet, genauso wenig wie zu dem eigentlichen Ball.

Die Staatsanwaltschaft behauptete am ersten Prozesstag am 6. Juni, Josef S. sei Teil einer vermummten, gewalttätigen Gruppe gewesen und habe unter anderem Jagd auf Polizeibeamte gemacht, die die rechten Ballgäste beschützten. Die dürftigen Beweise der Staatsanwaltschaft und die Gegenbeweise der Verteidigung lassen aber vermuten, dass der Student der Werkstoffwissenschaft unschuldig ist.

Die Anklage stützt sich hauptsächlich auf die zweifelhaften Aussagen eines Zivilpolizisten der Sondereinheit Wiener Einsatzgruppe Alarmabteilung. Er soll wegen seines auffälligen Pullovers auf Josef S. aufmerksam geworden sein. Laut diesem Zeugen soll der Student "gestikulierende Anweisungen" gegeben und zum Weitermachen aufgerufen haben, als er an der Spitze einer Gruppe auf die Polizei zulief. Dabei habe er Steine und einen Abfalleimer auf die Einsatzkräfte geworfen. Der Zivilpolizist behauptet weiter, der Angeklagte habe ein Polizeiauto beschädigt und eine Rauchbombe durch die eingeschlagene Fensterscheibe geworfen.

Beweise oder Belege für diese Beschuldigungen gibt es allerdings nicht. Insbesondere existieren keine Videoaufnahmen, obwohl die Demonstration genauestens beobachtet und gefilmt wurde. Der Zivilpolizist musste vor Gericht auch zugeben, dass er selbst zwischenzeitlich von anderen Beamten festgenommen wurde, was darauf hindeutet, dass er als Agent Provocateur tätig war. Einziges "eindeutiges" Beweisstück soll eine Stimme sein, die "Weiter! Weiter!" ruft. Sie wurde von dem Zivilbeamten aufgenommen und dem angeklagten Studenten zugeschrieben.

Die Verteidigung stützt sich hauptsächlich auf Videoanalysen verschiedener Quellen und auf ein Tongutachten zur besagten Stimme. Laut Anwalt Clemens Lahner gibt es kein Video oder Foto, das den Studenten mit seinem auffälligen Pullover vermummt zeigt. Das Tongutachten belegt, dass es sich bei der vom Hauptzeugen aufgenommen Stimme nicht um die von Josef S. handelt.

Lahner sagte, er habe auf "keinem Video oder Foto der tausendfach dokumentierten Demonstration" Belastendes entdecken können. Eine Sequenz aus einem Bericht des Österreichischen Rundfunks zeigt, wie Josef S. einen Mülleimer aufrichtet und nicht wirft, wie ihm vorgeworfen wird. Überwachungskameras von Geschäften zeigen S. lediglich laufend, nicht prügelnd oder gewalttätig.

Zwei weitere Zeugen, ebenfalls Polizisten des Einsatzes vom Januar, konnten ein Vergehen im Sinne der Anklage ebenfalls nicht belegen. An den nächsten Prozesstage am 21. und 22. Juli soll ein Gutachten vorgelegt werden, das klären soll, ob Josef S. Schmauchspuren an den Händen hatte, von der Rauchbombe, die er angeblich in einen Polizeiwagen schmiss. Weitere Polizeivideos sollen gesichtet und weitere Zeugen vernommen werden. Stichhaltige Beweise gegen Josef S. werden wohl auch sie nicht zu Tage fördern.

Während seiner Untersuchungshaft erhielt Josef S. breite Solidarität, unter anderem auch von dem Lehrpersonal an der Uni Jena. Seine Professorin aus Jena, Dörte Stachel, setzt sich für den Häftling ein und beschreibt ihn als "friedlichen, aufrechten Menschen". Der Direktor des Instituts für Materialforschung in Jena, Markus Rettenmayr, hat im Namen des ganzen Kollegiums einen Brief an die Eltern geschrieben aus dem die Süddeutsche Zeitung zitiert. Der Student sei ein junger, höflicher Student, der sich "keine Versäumnisse und Aufschübe" geleistet habe. "Die ihm vorgeworfene Bereitschaft zu Gewalttätigkeiten wurde bei uns zu keiner Zeit sichtbar."

Unterstützer schätzen ihn als einen ruhigen jungen Mann ein, der deeskalierend gewirkt habe, wenn es um "bürgerlichen Ungehorsam" ging. Er war bisher auch noch nie polizeilich aufgefallen. Das Erstarken der Rechten im ostdeutschen Jena und die NSU-Morde hätten seinen Sohn politisiert, sagt der Vater.

Trotz des Fehlens stichhaltiger Beweise gegen Josef S. behauptete der Richter am ersten Prozesstag, die Beweislage habe sich "verhärtet". Obwohl der Student seit über fünf Monaten unter äußerst schweren Bedingungen hinter Gittern sitzt (er darf pro Woche nur eine halbe Stunde Privatbesuch empfangen), hob das Gericht die Untersuchungshaft nicht auf. Die Süddeutsche Zeitung überschrieb ihren Bericht zu dem Fall mit "Prozess mit kafkaesken Ausmaßen".

Alles deutet darauf hin, dass an Josef S. ein Exempel statuiert werden soll. Wer es wagt, dem rechten Treiben entgegenzutreten, bekommt die volle Staatsgewalt zu spüren.

Mit der Anklage des "Landfriedensbruchs", eines erst seit kurzem wieder genutzten juristischen Mittels, hat der Staat starke Karten in diesem Prozess. Laut diesem Paragrafen kann jede Person festgenommen und angeklagt werden, die an einer "Zusammenrottung" teilnimmt, bei der es etwa zu schweren Sachbeschädigungen oder Körperverletzungen kommt. Man muss diese Straftaten nicht selbst begangen haben. Es reicht, wenn man davon Kenntnis hat und sich nicht zurückzieht.

Der Paragraf öffnet Manipulationen und Provokationen Tür und Tor. Bei Protesten etwa, die bewusst von als Demonstranten getarnten Zivilpolizisten eskaliert werden, können willkürlich Teilnehmer festgenommen werden.

"Zusammenrottungen" von Rechtsextremen in hoch exklusiven Gebäuden wie der Hofburg werden dagegen vom Staat geschützt. Zu den Bällen der Rechtsextremen sind nicht wenige aus der österreichischen Elite geladen. Proteste dagegen werden hingegen immer stärker kriminalisiert, und das Demonstrationsrecht wird durch die Vollabsperrung der Wiener Innenstadt immer weiter eingeschränkt.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 15.07.2014
Wiener Justiz geht gegen Demonstranten vor
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2014