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GLEICHHEIT/5189: Bundestag beschließt Mindestlohn


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Bundestag beschließt Mindestlohn

Von Dietmar Henning
4. Juli 2014



Am Donnerstag verabschiedete der Bundestag einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) sprach von einem "Meilenstein" in der Arbeits- und Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland, die Süddeutsche Zeitung von einer "historischen Reform".

Der Mindestlohn ist nichts dergleichen. Er verfolgt einzig und allein den Zweck, Kritiker der Billiglöhne in Deutschland zum Schweigen zu bringen. Die Regierung hat auch nicht einen Augenblick an die über 5,2 Millionen Beschäftigten gedacht, die aktuell weniger als 8,50 Euro in der Stunde erhalten, 1,4 Millionen davon sogar weniger als fünf Euro.

In einer Bundestagsrede Anfang Juni hatte Nahles den Mindestlohn in eine Reihe mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Jahr 2003 gestellt. Diese ist den meisten besser bekannt als Hartz IV. Die von der damaligen rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) beschlossene Reform hat den wachsenden Niedriglohnsektor überhaupt erst geschaffen, indem sie die Arbeitslosen zwang, auch die schlechtesten Jobs anzunehmen.

Das jetzt im Bundestag mit nur fünf Gegenstimmen verabschiedete Gesetz zum Mindestlohn wird an der elenden Situation der meisten Niedriglohnbeschäftigten wenig ändern.

Dafür sorgen zunächst die zahlreichen Ausnahmen. Junge Menschen bis 18 Jahre sind ganz von den Mindestlohnregelungen ausgenommen. Angeblich würde ein Mindestlohn sie davon abhalten, eine Ausbildung zu beginnen. Das ist ein offensichtlich vorgeschobenes Argument. Die Jugendlichen wissen sehr wohl, wie wichtig gerade in Deutschland eine Ausbildung ist, um überhaupt eine Jobperspektive zu haben. Auch heute könnten junge Menschen als Helfer arbeiten und meistens mehr verdienen als in der Ausbildung. Dennoch entscheiden sich fast 100 Prozent der Jugendlichen - wenn sie denn eine Wahl haben - für eine Ausbildung oder ein Studium.

Langzeitarbeitslose sind während der ersten sechs Monate einer Beschäftigung vom Mindestlohn ausgenommen. Der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Ingo Kramer hatte der Süddeutschen Zeitung schon vor Wochen erklärt: "Wenn für Langzeitarbeitslose die 8,50 Euro von Anfang zu zahlen sind, wird es für sie noch schwerer, einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden. Das kann doch keiner wollen."

Langzeitarbeitslosen, die es wieder in Beschäftigung schaffen, kommen zum Großteil in Niedriglohnarbeit unter, meist in Zeitarbeit. Das jetzige System, nach denen Langzeitarbeitslose auch bei einer Beschäftigung weiterhin aufstockende Hartz-IV-Gelder beziehen, wird somit aufrecht erhalten. Auch künftig wird Unternehmen Tür und Tor geöffnet, sich an Hartz IV-Beziehern - staatlich subventioniert - zu bereichern. Die Konsequenzen für die Betroffenen sind absehbar. Die Unternehmen werden verstärkt Langzeitarbeitslose zu miserablen Bedingungen befristet auf ein halbes Jahr einstellen.

Weitere Ausnahmen vom Mindestlohn gibt es für Saisonarbeiter und Erntehelfer. Die Arbeitgeber - Landwirtschaftsbetriebe und Bauern - sollen Kosten für Unterkunft und Verpflegung in den Mindestlohn einrechnen dürfen. Außerdem wird die Beschäftigungsdauer von ursprünglich geplanten 50 Tagen auf 70 Tage im Jahr ausgeweitet.

Pflichtpraktika, das betrifft vor allem Studenten, bleiben ebenfalls vom Mindestlohn ausgespart. Bei "freiwilligen Praktika" - nach dem Studium - sind die Praktikanten drei Monate vom Mindestlohn ausgenommen. Ursprünglich waren sechs Wochen geplant.

Zeitungsverlage erhalten für zwei Jahre eine Ausnahme vom Mindestlohn, sie müssen ihn erst ab 2017 zahlen. Die Verschlechterungen bei Praktika, Saisonarbeitern und auch Zeitungsausträgern gegenüber den ursprünglichen Gesetzesentwürfen wurden erst ein paar Tage vor der Verabschiedung zwischen den Regierungsparteien ausgehandelt.

Der Bundesverband der Deutschen Zeitungsverleger (BDZV) spricht von etwa 160.000 Zeitungsausträgern, die davon betroffen sind, in der Mehrzahl handelt es sich um Minijobber. Die Gesamtzahl der von den Ausnahmeregelungen Betroffenen dürfte bei mehreren Millionen Menschen liegen.

Das ist auch deshalb der Fall, weil eine Übergangsfrist dafür sorgt, dass viele Branchen vorerst vom Mindestlohn ausgenommen werden. Das Gesetz besagt nämlich, dass zwischen Unternehmensverbänden und Gewerkschaften abgeschlossene Branchenmindestlöhne, die von der Regierung als allgemeinverbindlich erklärt wurden, noch bis Januar 2017 gelten, auch wenn sie niedriger sind als der Mindestlohn.

Als die Einführung des Mindestlohns absehbar war, nutzten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände diese Frist um für Fleischer, Friseure, Reinigungsfachkräfte, im Wach- und Sicherheitsdienst und in der Zeitarbeit, insbesondere in Ostdeutschland einschließlich Berlin, noch schnell niedrigere Löhne für die nächsten zwei Jahre festzulegen. So haben die Fleischindustrie und die Gewerkschaft NGG erst im Januar einen eigenen Mindestlohntarifvertrag abgeschlossen, der bei 7,75 Euro liegt. Diese verbindliche Lohnuntergrenze wird bis zum 1. Dezember 2016 in drei Schritten auf 8,75 Euro angehoben. Der Tarifvertrag gilt bis Ende 2017.

Selbst wer den Mindestlohn von 8,50 Euro erhält, verdient im Monat nur 1.400 Euro brutto. Dieser niedrige Lohn wird bis 2018 nicht erhöht. Anschließend achten Gewerkschaften und Unternehmensverbände darauf, dass er für die Wirtschaft annehmbar bleibt. Vertreter beider Institutionen bilden eine Mindestlohnkommission, die ab 2018 über eine Erhöhung entscheidet. Danach soll der Mindestlohn jährlich angepasst werden. Unternehmen und Gewerkschaften haben aber schon erklärt, dass sie eine Anhebung nur alle zwei Jahre für sinnvoller halten. Der Maßstab für die Erhöhung soll die Entwicklung der Tariflöhne in den vorangegangenen zwei Jahren sein.

Trotz aller Regelungen zum Mindestlohn behalten die Unternehmen auch weiterhin die Möglichkeit, sie durch Werkvertragsarbeit oder Scheinselbständigkeit ganz legal zu umgehen. Für Werkverträge mit ausländischen Unternehmen gelten ohnehin andere Regeln.

Das Aufkommen von Scheinselbständigen im Friseurgewerbe zeigt, wie der Mindestlohn unterlaufen werden kann. So gebe es den Trend zur "Stuhlvermietung". Friseure arbeiten als Scheinselbstständige auf eigene Rechnung in einem Salon und entrichten einen Obolus für die Nutzung eines Friseurstuhls.

Auch pädagogische Beschäftigte in der Aus- und Weiterbildungsbranche kennen dies. Die aktuelle Mindeststundenvergütung von 12,60 Euro in West- bzw. 11,25 Euro in Ostdeutschland für Dozenten, Sozialpädagogen und ähnliche Berufsgruppen werden durch die massenhafte Verlagerung der Arbeit an Honorarkräfte unterlaufen.

Die Unternehmen und die letzten drei Bundesregierungen hatten sich jahrelang gegen einen Mindestlohn gewehrt. In 21 von 28 EU-Mitgliedsstaaten gilt ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn. In Luxemburg ist er mit 11,10 Euro pro Stunde am höchsten, gefolgt von Frankreich (9,53 Euro).

Die europäischen Staaten, die im Zuge der Finanzkrise ausgepresst wurden, haben bedeutend niedrigere Mindestlöhne: Spanien 3,91 Euro, Griechenland 3,46 Euro, Portugal 2,92 Euro. Schlusslichter sind Rumänien (1,14 Euro) und Bulgarien (1,04 Euro).

Großbritannien hat mit derzeit 7,43 Euro den sechsthöchsten Mindestlohn in der EU. Doch auch hier gibt es wie in vielen anderen Ländern Ausnahmeregelungen, etwa für Langzeitarbeitslose und junge Menschen.

Laut dem jüngsten Jahresgutachten des Paritätischen Gesamtverbands [1] waren 2012 in Deutschland 7,1 Millionen Menschen in Teilzeit und weitere 4,8 Millionen geringfügig beschäftigt. Sie arbeiteten auf Minijob-, Midi- oder Leiharbeitsbasis und in Kurzarbeit. Weitere drei Millionen Menschen gingen neben ihrem Hauptjob zusätzlich einer geringfügigen Beschäftigung nach.

An ihrem Schicksal und an der weit verbreiteten Armut wird der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro nur wenig ändern. Er ist eher als Beruhigungsmittel gedacht, als Placebo, das die wachsende Opposition gegen Armut und Ausbeutung zum Stillschweigen bringen soll.

Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns geht auf die Gewerkschaften zurück. Schon vor zehn Jahren hatten sie erste entsprechende Forderungen aufgestellt, nachdem sie sich zuvor geweigert hatten, die Proteste gegen die Hartz-Reformen der rot-grünen Regierung zu unterstützen.

Entsprechend fiel jetzt ihr Lob für die Bundesregierung aus. Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) Reiner Hoffmann sagte der Augsburger Allgemeinen vom Donnerstag: "In der politischen Gesamtbewertung ist ganz klar: Der Mindestlohn ist ein Erfolg für uns Gewerkschaften." Die SPD habe in der großen Koalition "viele von unseren Vorstellungen durchgesetzt".

Auch der Vorsitzende der Gewerkschaft IG Bergbau, Energie, Chemie Michael Vassiliadis sagte vor der Abstimmung im Bundestag der Neuen Osnabrücker Zeitung, der bundesweite Mindestlohn sei ein "Riesenerfolg". Er bringe "unser Land einen Schritt nach vorn".


Anmerkung:
[1] https://www.wsws.org/de/articles/2014/06/24/ungl-j24.html

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Quelle:
World Socialist Web Site, 04.07.2014
Bundestag beschließt Mindestlohn
http://www.wsws.org/de/articles/2014/07/04/mind-j04.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juli 2014