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GLEICHHEIT/5131: Proteste in der Türkei - Zahl der Grubenopfer steigt


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Proteste in der Türkei:
Zahl der Grubenopfer steigt auf 274

Von Alex Lantier
16. Mai 2014



In der Türkei kam es am Mittwoch nach dem katastrophalen Bergwerksunglück in Soma zu Protesten. Die Regierung und das Unternehmen Soma Kumur, das das Bergwerk betreibt, hatten die Gewinnmaximierung und die Sicherheitsmängel dreist verteidigt, die zu der Tragödie geführt hatten.

In dem Bergwerk bei Soma sind weiterhin Rettungsversuche in Gange, die Zahl der Todesopfer lag am Mittwoch schon bei 274. Damit ist die Katastrophe von Soma der tödlichste Industrieunfall in der Geschichte der Türkei. Das war bisher die Bergwerksexplosion von Zonguldak im Jahr 1992, bei der 263 Menschen ums Leben kamen.

Einer der Toten war ein Fünfzehnjähriger, der dort offenbar ohne Papiere arbeitete.

Die Zahl der Toten in Soma wird vermutlich noch weiter steigen. Behörden erklärten, mindestens 120 Bergarbeiter seien noch in der Mine gefangen, laut mehreren Berichten sind es über 200. Die Hoffnung, dass sie noch leben könnten, schwindet schnell.

In dem Bergwerk selbst toben immer noch Brände. Ein Elektrikschaden in einem der Stromverteiler hatte am Dienstag eine Explosion von aufgestautem Methan ausgelöst. Dadurch fielen die Belüftungssysteme und die Förderkörbe aus, die die Bergarbeiter an die Oberfläche zurückgebracht hätten.

Rettungsteams, die herauskamen, erklärten, in dem Bergwerk sei es dunkel und rauchig, und es gäbe große Mengen von Kohlenmonoxid. Berichten zufolge starben die meisten Todesopfer an Kohlenmonoxidvergiftung.

Energieminister Taner Yildiz erklärte, die Hoffnung, die im Bergwerk gefangenen Arbeiter noch zu retten, werde immer kleiner. Möglicherweise haben einige der Bergarbeiter allerdings Notkammern erreicht, in denen sich Gasmasken und Luft befinden. Tausende von Verwandten und Freunden der eingeschlossenen Bergarbeiter versammelten sich am Mittwoch vor der Grube, in der Hoffnung auf Nachrichten von ihren Angehörigen.

Diese Katastrophe wäre zu verhindern gewesen, und die Verantwortung dafür liegt bei dem Bergwerksbetreiber und der türkischen Regierung, die kaltblütig Gewinne höher bewertet als das Leben der Grubenarbeiter.

Soma Kumur hat in den zehn Jahren seit der Privatisierung des Bergwerks die Kosten für die Kohleförderung von 140 Millionen auf 23,80 Millionen Dollar pro Tonne gesenkt und den Kauf von Standard-Sicherheitsausrüstung zur Überwachung der Methan-Konzentration verweigert. Diese Ausrüstung hätte die Explosion verhindern können.

Das Unternehmen verlässt sich auf die Komplizenschaft der Gewerkschaften und der Regierung. Sie haben es bisher dem Bergwerk Soma ermöglicht, trotz mehrerer Unfälle die lächerlichen Sicherheitsinspektionen problemlos zu bestehen.

Premierminister Recep Tayyip Erdogan von der islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung besuchte das Bergwerk am Mittwoch zusammen mit dem Führer der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kilicdaroglu.

Schamlos bezeichnete Erdogan die Katastrophe als unvermeidbar und verteidigte das Vorgehen seiner Regierung und von Soma Kumur. Er bezeichnete tödliche Bergwerksunglücke als "normal" und verwies auf Bergwerksunglücke vor zweihundert Jahren in Großbritannien. Doch seither sind schon lange moderne Sicherheitsanlagen erfunden worden, die in Soma eine Explosion verhindert hätten.

"Ich habe die britische Geschichte studiert. 1838 sind dort 204 Menschen beim Einsturz eines Bergwerks gestorben. 1866 sind in Großbritannien 361 Bergarbeiter gestorben. 1894 waren es bei einer Explosion 290 Menschen", erklärte Erdogan.

Er fügte hinzu: "In Amerika sind 1907 trotz aller Technologie 361 Bergarbeiter gestorben."

Wie schon 2010, als Erdogan einen tödlichen Unfall in einem Bergwerk bei Karodan in Zonguldak als Akt des Schicksals bezeichnete, behaupten die Politiker auch heute arrogant, Unfälle mit zahlreichen Toten seien im Leben unvermeidbar und müssten hingenommen werden. In Wirklichkeit sind es wirtschaftliche Zwänge, die die Bergarbeiter dazu bringen, für Unternehmen zu arbeiten, die sie und ihre Sicherheit nur verachten, und denen ihr Leben weniger zählt als Profite.

Nach diesen Äußerungen wurde Erdogan von Einwohnern der Stadt umringt, die ihn als Mörder beschimpften und seinen Rücktritt forderten. Andere griffen die örtliche AKP-Parteizentrale an. Auch Kilicdaroglu von der CHP wurde ausgebuht und am Betreten des Bergwerks gehindert.

Erdogans Leibwächter entfernten das Kennzeichen von seinem offiziellen Auto und versuchten, den Premierminister in einem Supermarkt zu verstecken, während Einheiten der Bereitschaftspolizei in die Stadt gebracht und gegen trauernde Familien und Einwohner eingesetzt wurden.

Ein weit verbreitetes Foto aus Soma zeigt, wie Erdogans Berater Yusuf Yerkel einen Demonstranten mit Füßen tritt, der von der Bereitschaftspolizei am Boden gehalten wird. Später verteidigte Yerkel seine Tat und erklärte, der Mann sei ein "aufständischer Linker" gewesen.

Die Proteste dehnten sich auf andere türkische Städte aus, auch auf Istanbul und die Hauptstadt Ankara. In Ankara griff die Bereitschaftspolizei Studenten der Technischen Hochschule des Nahen Ostens (ODTU) mit Tränengas und Wasserwerfern an, um sie daran zu hindern, zum Energieministerium zu marschieren. Eine Konfrontation an der Universität ging bis am Abend weiter, da die Polizei weiterhin den Ausgang blockierte.

Die Polizei setzte auch Tränengas und einen Wasserwerfer ein, um einen Protestmarsch in die Innenstadt von Ankara aufzuhalten.

In Istanbul griff die Polizei tausende von Demonstranten an, die auf dem Taksim-Platz, Schauplatz der regierungsfeindlichen Proteste der städtischen Jugend im letzten Jahr, den Rücktritt der Regierung forderten. Auch außerhalb des Hauptquartiers von Soma Holdings in Istanbul gab es Proteste, dort sprühten Jugendliche "Mördernest" an das Gebäude.

Die Erdogan-Regierung und das ganze politische Establishments der Türkei fürchten am meisten, dass die massive Empörung über die Katastrophe von Soma einen Aufstand der Arbeiterklasse auslösen könnte, wie es in Ägypten während der revolutionären Bewegung geschehen war, die zum 2011 Sturz des proamerikanischen Diktators Hosni Mubarak geführt hatte.

Erdogans Regime ist unpopulär und zunehmend diskreditiert wegen seiner brutalen Reaktion auf die Proteste auf dem Taksim-Platz im letzten Jahr, der Korruptionsvorwürfe gegen seine höchsten Ebenen und vor allem ihre Komplizenschaft im Syrien-Krieg. Der amerikanische Stellvertreterkrieg im Nachbarstaat Syrien wird von der türkischen Bevölkerung mit überwältigender Mehrheit abgelehnt.

Vor kurzem hatte das Regime den Zugang zu YouTube und den sozialen Netzwerken in der Türkei komplett blockiert. Davor waren Aufzeichnungen von internen Diskussionen an die Öffentlichkeit gelangt, die korrupte Geschäfte von Erdogan und seinen wichtigsten Partnern und eine Verschwörung von türkischen Geheimdienstoffizieren, um einen Krieg mit Syrien zu provozieren, enthüllt hatten.

Ein Teil der türkischen Gewerkschaftsbürokratie versucht jetzt, zahnlose Proteste zu organisieren, um den Widerstand der Arbeiterklasse gegen das Erdogan Regime unter Kontrolle zu behalten. Der Bund Progressiver Gewerkschaften (DISK), der Gewerkschaftsbund des Öffentlichen Dienstes (KESK) und die Architekten- und Ingenieurskammer forderten für den Donnerstag eine Arbeitsniederlegung und drei Schweigeminuten. Sie riefen außerdem dazu auf, zum Symbol der Trauer schwarz zu tragen.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 16.05.2014
Proteste in der Türkei: Zahl der Grubenopfer steigt auf 274
http://www.wsws.org/de/articles/2014/05/16/turk-m16.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2014