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GLEICHHEIT/4608: Wachsende politische und soziale Spannungen in Russland


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Wachsende politische und soziale Spannungen in Russland

Von Clara Weiss
1. März 2013



In Russland verschärfen sich die Spannungen innerhalb der herrschenden Eliten. Hintergrund sind die Proteste unzufriedener Mittelschichten, die Präsident Putin durch eine verlogene Anti-Korruptionskampagne wieder an sich zu ziehen versucht, und der wachsende Unmut der Arbeiterklasse.

In den letzten Monaten haben mehrere Duma-Abgeordnete der Kreml-Partei Einiges Russland ihre Mandate abgegeben, was Spekulationen über vorgezogene Neuwahlen der Duma auslöste.

Wladimir Pechtin, Mitglied der Regierungspartei Einiges Russland, sah sich Mitte Februar zum Rücktritt gezwungen, nachdem der rechts-liberale Blogger Alexey Nawalny im Internet über Pechtins nicht deklarierte Luxuswohnungen in Miami berichtet hatte. Viele reiche Russen besitzen Luxusimmobilien im Ausland, vornehmlich in den USA, und bunkern ihr Vermögen auf westlichen Konten.

Bald darauf gaben zwei weitere Duma-Abgeordnete für Einiges Russland, der milliardenschwere Unternehmer Anatolij Lomakin und Wasilij Tolstopjatow, ihre Mandate ab. Ihr Parteifreund Alexey Knyschow war schon Ende letzten Jahres von seinem Abgeordnetenmandat zurückgetreten.

In russischen Medien wird darüber spekuliert, wer als nächstes dran sein könnte. Andrej Isajew, ein führender Gewerkschaftsfunktionär und Duma-Abgeordneter für Einiges Russland, ist durch Enthüllungen liberaler Oppositioneller in einen ähnlichen Korruptionsskandal wie Pechtin verwickelt. Isajew selbst bestreitet zwar, sein Mandat abgeben zu wollen, schließt aber nicht aus, dass andere Parteimitglieder dem Beispiel Pechtins und Lomakins folgen werden. Die liberale Nesawisimaja Gaseta berichtete unter Berufung auf eine Quelle in der Duma, dass die "Deputaten-Flucht aus der Duma" gerade erst begonnen habe.

Die Kreml-Partei Einiges Russland stützt sich vor allem auf die Staatsbürokratie und hatte nie großen Rückhalt in der Bevölkerung. Derzeit bilden sich verschiedene Fraktionen in ihr heraus. Ein neu gegründeter "liberaler" Flügel hat bereits ein Manifest veröffentlicht. Auch ein "linker" und ein "konservativer" Flügel sind in Vorbereitung. Präsident Putin, der selbst nie Mitglied der Partei war, sich jedoch in seinen ersten beiden Amtszeiten auf sie stützte, hat sich bereits seit Jahren von Einiges Russland distanziert.

Die Rücktritte der Duma-Abgeordneten erfolgten aber zweifellos mit Putins Einverständnis. Der Präsident führt seit mehreren Monaten eine zynische Anti-Korruptionskampagne, die der Reorganisation der herrschenden Eliten dient. Der "Kampf gegen die Korruption" wird von einer nationalistischen Kampagne begleitet, die den betroffenen Regierungsbeamten mangelnden Patriotismus vorwirft.

Im September war dem bekannten Politiker Gennadij Gudkow von "Gerechtes Russland" das Duma-Mandat unter dem Vorwand eines Korruptionsskandals entzogen worden, weil er öffentlich die Protestbewegung unterstützt und Putin kritisiert hatte (Siehe: Russische Staatsduma entzieht Putin-Kritiker das Mandat [1]).

Im November letzten Jahres feuerte Putin den Verteidigungsminister Anatolij Serdjukow, angeblich wegen Korruptionsvorwürfen. Ihm wurde Veruntreuung von bis zu 100 Mio. Euro vorgeworfen. Serdjukow und sein Ministerium waren ohne Zweifel korrupt. Der wahre Grund für die spektakuläre Entlassung war jedoch die Opposition von Teilen des Militärs und der Rüstungsindustrie gegen Serdjukows Umsetzung der Militärreform.

Mit einem neuen Gesetz, das Duma-Abgeordneten die Führung ausländischer Bankkonten verbietet, bereitet Putin die rechtliche Grundlage für die strafrechtliche Verfolgung weiterer Abgeordneter vor.

Die Anti-Korruptionskampagne ist schon deshalb verlogen, weil Korruption der modus operandi der russischen Oligarchie und der Kreml-Bürokratie ist. Die herrschenden Eliten Russlands haben - wie auch Putin selbst - ihre Vermögen durch die Zerstörung der Sowjetwirtschaft, kriminelle Börsen- und Mafiageschäfte und den billigen Aufkauf ganzer Industriezweige gemacht.

Auch die Korruption von Duma-Abgeordneten, die größtenteils Millionäre und Milliardäre sind, ist nicht neu. Der Ökonom Anders Aslund, der in den 1990er Jahren die Jelzin-Regierung beriet, schätzte 2007, dass ein Duma-Sitz für rund zwei Millionen US-Dollar zu kaufen sei. An dieser Praxis dürfte sich seither kaum etwas geändert haben, außer dass der Preis gestiegen ist.

Putin benutzt die Anti-Korruptionskampagne, um in den herrschenden Eliten aufzuräumen und den Unmut der Mittelschichten zu kanalisieren, die nach den gefälschten Duma-Wahlen vom Dezember 2011 in Moskau, St. Petersburg und anderen Städten auf die Straße gegangen sind. Dabei konzentriert er sein Feuer zunehmend auf Einiges Russland und auf die Duma, die in den Augen der Bevölkerung zutiefst diskreditiert sind. In einer jüngsten Umfrage lehnte über die Hälfte der Befragten die Politik der Duma ab.

Putin braucht die Unterstützung der Mittelschichten gegen die Arbeiterklasse. Diese stand den Protesten gegen die gefälschten Wahlen distanziert gegenüber und beginnt angesichts der Wirtschaftskrise und der massiven Sparmaßnahmen des Kreml zunehmend ihre eigenen Interessen zu artikulieren.

Im vergangenen Jahr fanden in Russland mehr Streiks und Arbeiterproteste statt als im Jahr 2009, dem bisher schlimmsten Krisenjahr. Damals war die Industrieproduktion um 19 Prozent geschrumpft und in vielen Fabriken sogar um die Hälfte zurückgegangen. Von diesem Wirtschaftseinbruch hat sich die russische Wirtschaft kaum erholt. Anfang 2013 verzeichnete die Industrieproduktion erstmals seit 2009 wieder ein Minuswachstum.

Die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse, die durch die Einführung des Kapitalismus in den 1990er Jahren bereits auf ein Minimum gedrückt wurden, werden seit 2008 in einer zweiten sozialen Konterrevolution weiter untergraben. Für 2013 bis 2015 hat der Kreml massive Sparmaßnahmen beschlossen, die insbesondere den Bildungs- und Gesundheitsbereich betreffen. In vielen Regionen kommt es bereits seit Monaten zu breitflächigen Schließungen medizinischer Einrichtungen. (Siehe: Wirtschaftliche und soziale Krise in Russland vertieft sich [2])

Auch die Preise für Lebensmittel steigen ununterbrochen. Die Preiserhöhungen für Strom, Wasser und Heizung in verschiedenen russischen Regionen haben allein im letzten Jahr 10 bis 225 Prozent betragen. In einer Umfrage in der Region Swerdlowsk waren fast 90 Prozent der Befragten der Ansicht, die Preiserhöhungen seien ungerechtfertigt und übertrieben. Angesichts von Inflation, Lohnzurückhaltung und Entlassungen bedeuten derartige Preiserhöhungen für Arbeiter eine kaum zu bewältigende Belastung.

Die meisten Unternehmen haben auf die Krise mit Entlassungen, Zwangsurlaub und das Zurückhalten der Löhne reagiert. Laut offiziellen Angaben haben im Januar rund 80.000 Arbeiter ihren Lohn nicht ausgezahlt bekommen. Diese Zahl ist aber schon deshalb verzerrt, weil rund 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts Russlands in der Schattenwirtschaft produziert werden, d.h. ein bedeutender Teil der arbeitenden Bevölkerung in offiziellen Statistiken überhaupt nicht erfasst wird.

Die Lage in den Monostädten, wo rund 35 Mio. Menschen leben, ist besonders explosiv. Das gesamte soziale und kulturelle Leben solcher kleinen Industriestädte hängt von einer oder einigen wenigen Fabriken ab. Schließungen und Lohnkürzungen treiben so ganze Städte in den Ruin.

Im Jahr 2009 kam es in der Monostadt Pikaljowo bei St. Petersburg zu Massenprotesten wegen der drohenden Schließung der Fabriken, die dem Putin-nahen Oligarchen Oleg Deripaska gehörten. Damals konnten nur die persönliche Intervention von Putin und massive staatliche Subventionen auf nationaler Ebene ein Übergreifen der Proteste verhindern.

Anders als 2008/09, als der Staat zahlreiche Unternehmen und Fabriken mit Subventionen vor dem Bankrott rettete, reagiert der Kreml nun mit Subventionskürzungen auf die Verschärfung der Krise. In vielen Monostädten finden derzeit Massenentlassungen statt. Arbeiter und ihre Familien müssen in solchen Fällen buchstäblich ums Überleben fürchten, nicht zuletzt, weil es vom Staat so gut wie keine soziale Unterstützung für Arbeitslose gibt.

Anmerkungen:
[1] http://www.wsws.org/de/articles/2012/09/duma-s20.html
[2] http://www.wsws.org/de/articles/2013/02/russ-f06.html

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Quelle:
World Socialist Web Site, 01.03.2013
Wachsende politische und soziale Spannungen in Russland
http://www.wsws.org/de/articles/2013/03/01/russ-m01.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2013