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GLEICHHEIT/3933: Wachsende Proteste gegen den Griff nach der Macht durch das ägyptische Militär


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Wachsende Proteste gegen den Griff nach der Macht durch das ägyptische Militär

Von Patrick Martin
12. November 2011


Tausende junge Menschen nehmen auf dem Tahrir-Platz an neuerlichen Protesten teil, die sich gegen den Kurs der regierenden ägyptischen Militärjunta richten. Diese will ihre Position festigen und die Kontrolle über Ägypten aufrechterhalten.

Die Demonstrationen unter dem Motto "verlangt die Revolution zurück" drücken das weit verbreitete Misstrauen aus, das die Bevölkerung gegen den Obersten Rat der Streitkräfte (SCAF) hegt. Dieser hatte nach dem Sturz von Präsident Hosni Mubarak im Februar die Macht ergriffen.

SCAF Führer Mohammed Tantawi, ein langjähriger Handlanger Mubaraks, hat versprochen, nach den Parlamentswahlen die Macht an eine zivile Regierung abzugeben.

Die Wahlen zum Unterhaus beginnen am 28. November, aber der absichtlich schwerfällig gestaltete Prozess erstreckt sich über sechs Monate. Danach sollen die gewählten Gremien eine Verfassung ausarbeiten, die Ende 2012 oder Anfang 2013 zu Präsidentschaftswahlen führen soll.

Während dieser ganzen Zeit hat der SCAF im Wesentlichen freie Hand bei der Ausübung der Exekutivgewalt. Die Militärführer haben die verhassten Notstandsgesetze beibehalten, die während Mubaraks 30-jähriger Präsidentschaft in Kraft waren und jede politische Opposition erst einmal als illegal einstuften.

Der offizielle Start des Wahlkampfs am 2. November wurde jedoch von einer anmaßenden Äußerung der Generäle überschattet, die künftig ein Vetorecht bei allen das Militär betreffenden Gesetzen beanspruchen. Außerdem wollen sie die Streitkräfte von einer Kontrolle durch den Gesetzgeber befreit wissen. Das Militär würde dadurch im Wesentlichen zu einer unabhängigen Macht, die niemandem Rechenschaft schuldig ist, außer sich selbst.

Die Initiative, die das Kabinett, aber noch nicht der SCAF selbst abgesegnet hat, würde eine "Charta der Prinzipien" mit 24 Artikeln einführen, die viel von der neuen Verfassung schon vorwegnimmt. Eins dieser "Prinzipien" würde die Streitkräfte zur Schutzmacht der "verfassungsmäßigen Legitimität" erklären. Eine solche Formulierung hätte die bedenklichsten Folgen für die Demokratie, besonders in einem Land, das in den letzten 60 Jahren eine Militärdiktatur war - und davor eine Monarchie und ein Kolonialland.

Die Charta würde dem neu gewählten Parlament gerade mal erlauben, zwanzig Mitglieder des einhundert Köpfe zählenden Gremiums zu wählen, das den Auftrag zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung hätte. Die restlichen achtzig Mitglieder würden von anderen Institutionen ausgewählt, einschließlich der miltärischen Elite, Justiz- und Universitätskreisen (die ehemals alle von Mubarak ernannt wurden) und anderen angeblichen Vertretern der "Zivilgesellschaft". Mit anderen Worten, das verfassungsgebende Gremium würde im Wesentlichen aus Überbleibseln der Mubarak-Diktatur und direkten Vertretern des Großkapitals bestehen.

Der unverfrorene Versuch, das verfassungsgebende Gremium zu manipulieren, fällt mit einer verschärften Unterdrückung politischer Aktivisten zusammen. Ein bekannter Blogger, Alaa Abdel Fattah, der wegen seiner frühen Opposition gegen die Mubarak-Diktatur bekannt ist, wurde Ende Oktober von einem Militärgericht wegen Anstiftung zu Gewalt gegen das Militär ins Gefängnis geworfen.

Abdel Fattah hatte das Militär öffentlich für das Blutbad an koptischen Demonstranten im letzten Monat verantwortlich gemacht, bei dem mindestens siebenundzwanzig Menschen erschossen oder von Militärfahrzeugen zerdrückt wurden. Der Blogger ist einer von dreißig Personen, die für mindestens fünfzehn Tage ins Gefängnis geworfen wurden, während die Anklagen gegen sie vor dem Militärgericht verhandelt werden. Unter den Notstandsgesetzen können sie auf unbestimmte Zeit inhaftiert bleiben.

Ein am 3. November herausgegebenes und von zahlreichen Aktivisten-Gruppen unterzeichnetes Kommuniqué wurde auf der Kampagnen-Website "Nein zu Militärprozessen" veröffentlicht - zusammen mit dem Aufruf zu Massenprotesten am Samstag, den 12 November, sowohl in Ägypten als auch international.

Laut dem Guardian stand in der Erklärung: "Immer und immer wieder hat uns die Armee und die Polizei angegriffen, uns geschlagen, uns verhaftet, uns getötet. Wir haben Widerstand geleistet, wir haben weiter gemacht; an einigen dieser Tage haben wir verloren, an anderen haben wir gewonnen, aber nie ohne Verluste. Mehr als tausend haben ihr Leben gegeben, um Mubarak loszuwerden. Und noch viele weitere sind ihnen seitdem in den Tod gefolgt. Wir werden weiter machen, damit ihr Tod nicht umsonst gewesen ist."

Die Erklärung verspricht dann, jegliche Zusammenarbeit in den Militärgerichtsverhandlungen und -ermittlungsverfahren zu verweigern sowie keinerlei Fragen, die von den Militärgerichten gestellten werden, zu beantworten.

In einer aus dem Gefängnis geschmuggelten Nachricht, die im Guardian und der ägyptischen Tageszeitung Al-Shorouk veröffentlicht wurde, sagte Abdel Fattah, ihm sei die Entlassung aus dem Gefängnis angeboten worden, wenn er darauf verzichte, den Chef des Militärrats Tantawi öffentlich zu kritisieren. Er lehnte das Angebot ab.

Lalia Soueif, Abdel Fattahs Mutter und Universitätsprofessorin, begann am 6. November einen Hungerstreik, um gegen die Inhaftierung ihres Sohnes zu protestieren. Sie erzählte den ägyptischen Medien, sie habe die Staatsanwaltschaft von ihrem Hungerstreik in Kenntnis gesetzt.

Die Muslimbruderschaft, die führende rechte, bürgerliche politische Organisation, hat sich gegen die neue "Charta der Prinzipien" ausgesprochen, aber hält Distanz zu den Gruppen der Jugendlichen, die für den 12. November zu Protesten aufgerufen haben. Die Islamisten haben Freitag, den 18. November, für ihren eigenen Protest gegen die militärische Usurpation auf dem Tahrir-Platz angesetzt.

Die Muslimbruderschaft fordert den Rücktritt des stellvertretenden Ministerpräsidenten Ali al-Silmi, der als erster mit dem Vorschlag für die "Charta der Prinzipien" an die Öffentlichkeit getreten ist. Saad el-Katatni, ein Sprecher für die Partei Freiheit und Gerechtigkeit, dem politischen Arm der Bruderschaft, sagte: "Dieser Kurs ist gegen den Willen des Volkes gerichtet und wird zu einer weiteren Revolution führen. Wir rufen die Menschen in Ägypten auf, ihre Rechte zu verteidigen und das Dokument zurückzuweisen."

In der Presse wurde berichtet, dass die militärische Führung die Unterstützung von liberalen bürgerlichen Gruppen, und vor allem von den großen imperialistischen Mächten zu gewinnen versucht, indem sie den neuen Plan als den Versuch ausgibt, der Übernahme des verfassungsgebenden Gremiums durch die Muslim-Bruderschaft zuvorzukommen. Von letzterer wird angenommen, dass sie wenigstens eine Mehrheit der Sitze im neuen Parlament gewinnen wird.

Tantawi und seine Anhänger haben sich offenbar verschätzt. Die Reaktion des Volkes hat es sowohl für die Liberalen als auch für die imperialistischen Mächte, zumindest für den Moment, unmöglich gemacht, seinen dreisten Angriff auf demokratische Prinzipien offen zu unterstützen.

Mohammed ElBaradei, der ehemalige Leiter der nuklearen UN-Kontrollagentur IAEA und aussichtsreicher liberaler Präsidentschaftskandidat, kritisierte den Vorschlag als einen Plan für eine "militärische Bevormundung".

In der westlichen Presse gab es kritische Kommentare, wobei die Washington Post den Plan als "Ägyptens Schritt zurück" bezeichnete. Der Leitartikel der Post forderte die Obama-Regierung auf, ihren Einfluss, vor allem die großen US-Finanzzuschüsse für das ägyptische Militär, zu nutzen, um "zu fordern, dass die Streitkräfte ihr Versprechen einhalten, einen demokratischen Übergang zu gewährleisten."

Solche pseudo-demokratische Rhetorik zeigt nur, dass Washington angesichts des breiten Widerstands der Arbeiterklasse und der Jugend eine militärische Unterdrückung in Ägypten befürchtet, weil Tantawi und der SCAF jetzt schon diskreditiert sind. Die gleiche Zeitung, und die herrschende Elite, für die sie spricht, begrüßen viel brutalere Unterdrückungsmaßnahmen, die von langjährigen amerikanischen Verbündeten wie Saudi-Arabien, Bahrain, Jordanien und Marokko durchgeführt werden.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 12.11.2011
Wachsende Proteste gegen den Griff nach der Macht durch das ägyptische Militär
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. November 2011