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GLEICHHEIT/3826: New York Times bejubelt "humanitären" Krieg gegen Libyen


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

New York Times bejubelt "humanitären" Krieg gegen Libyen

Von Bill Van Auken
6. September 2011


In mehreren Artikeln ihrer führenden Leitartikel-Schreiber in der letzten Woche erklärte die New York Times den von der Nato gegen Libyen geführten Krieg zum neuen Modell für "humanitären" Interventionismus.

Während die Kämpfe in Libyen weitergehen, beeilte sich die Times, wie der Rest der Massenmedien in den USA, den Krieg für beendet und den "Auftrag für erfüllt" zu erklären. Dies wird ausdrücklich in der Überschrift des Leitartikels vom 29. August von Roger Cohen, dem Chefredakteur für Außenpolitik, auf den Punkt gebracht: "Eins zu Null für Interventionismus".

Cohen, der am laufendem Band Artikel zur Unterstützung von US-Interventionen - angefangen vom Balkan in den 1990er-Jahren, über den Krieg gegen den Irak, bis zu den Destabilisierungskampagnen gegen den Iran - produziert, gesteht, dass er ein Befürworter militärischen Eingreifens ist und "wie viele meiner Generation" durch die Ereignisse in Bosnien dazu geworden ist.

Diese Aussage enthält ein Körnchen Wahrheit, aber man muss sich beeilen hinzuzufügen, dass er nicht für eine gesamte Generation spricht, sondern für eine sehr definitive gesellschaftspolitische Schicht dieser Generation. Sie besteht aus früheren linken Liberalen und Ex-Radikalen, die bis zu einem gewissen Grad durch den Vietnam-Krieg radikalisiert worden waren und sich zwanzig Jahre später getrieben fühlen, sich dem Imperialismus anzupassen.

Sie wurden von einem machtvollen Klassendruck angetrieben, nicht zuletzt von der sozialen Polarisierung, die die finanziell besser gestellten Schichten des Kleinbürgertums immer schärfer von der Masse der arbeitenden Bevölkerung abhoben. Nachdem sie für sich selbst komfortable Pöstchen als Akademiker, gut bezahlte Journalisten und als Experten verschiedener Fachgebiete gefunden hatten, begannen sie ihre eigenen Interessen mehr und mehr mit denen der Finanzaristokratie zu identifizieren. Gleichzeitig spielte die Selbstauflösung der sowjetischen stalinistischen Bürokratie, auf deren scheinbarer Stärke das Linksein nicht Weniger aus dieser Schicht beruhte, eine wichtige Rolle.

In Bosnien fand diese Schicht einen Anlass, der es ihnen erlaubte, "wieder heimzukommen". Sie ignorierten bewusst die Rolle, die der amerikanische, deutsche und britische Imperialismus spielte, um das Auseinanderbrechen Jugoslawiens zu provozieren und die dann dieses Auseinanderbrechen für ihre eigenen Ziele ausgebeutet haben. Und sie verhielten sich gegenüber allen Arten von ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen Zivilisten gleichgültig, außer denjenigen, die von Serben gegen bosnische Muslime verübt wurden. Auf dieser Grundlage unterstützten sie den von den USA und der Nato geführten Luftkrieg und die Besetzung Bosniens als einen moralischen Kreuzzug, der angeblich nichts mit den geostrategischen Interessen der USA zu tun habe.

Cohen setzt seine Argumentation damit fort, dass nicht wenige bekannte Liberale - er nennt den Fall des Historikers Arthur Schlesinger Jr. - sich fälschlicherweise gegen die US-Intervention in Bosnien ausgesprochen hatten, weil sie sie "durch das Prisma von Vietnam" betrachtet hätten. Und fügt dann hinzu, dass nach den US-Kriegen auf dem Balkan, "Das Pendel herum geschwungen ist. Von Vietnam beeinflusste Vorsicht hat der von Bosnien beeinflussten Hybris Platz gemacht." Dies erkläre angeblich, warum eine Schicht früherer Liberaler den kriminellen Krieg der Bush-Regierung gegen den Irak unterstützt habe.

"Ich habe mich auch davon beeinflussen lassen", schreibt er zynisch. "Mea culpa."

Jetzt sei das Pendel angeblich wieder zurück geschwungen. Der Libyen-Krieg sei ein weiterer moralischer Krieg der unvermeidbar war, um "ein vorhersehbares Massaker in Bengasi" zu verhindern.

Dieses Argument trieft nur so von Unaufrichtigkeit. Die USA und die Nato zogen nicht in den Krieg, um die Bevölkerung von Bengasi zu schützen. Es ist inzwischen offensichtlich, dass ihr Ziel darin bestand, Gaddafis Truppen aus der Luft zu zerstören und eine Rebellenarmee am Boden zu organisieren und zu bewaffnen, um einen Regimewechsel herbeizuführen. Das Ziel bestand darin, eine Marionetten-Regierung, die von Washington, ihren Nato-Alliierten und den westlichen Ölkonzernen kontrolliert wird, zu installieren.

Angesichts dieser arglistigen Täuschung macht sich Cohen noch nicht einmal die Mühe zu erklären, warum er seine Position vom letzten März, als er gegen eine Intervention in Libyen argumentierte aufgrund der "bitteren Erfahrungen mit dem Irak" und der "Bedeutung dieser einheimischen arabischen Befreiungsbewegungen" geändert hat.

Jetzt schreibt er, er sei "froh, dass ich der Versuchung widerstanden habe, Libyen durch das Prisma des Irak zu betrachten." "Ein anderer Zyklus hat begonnen." Die Logik hier ist so fadenscheinig, dass Cohen sich noch nicht einmal die Mühe macht zu bedenken, wohin das Pendel jetzt ausschlägt oder dass das Triumphgeschrei, das er und die Times wegen Libyen zu erzeugen versuchen, dabei mithelfen den nächsten und noch katastrophaleren Krieg vorzubereiten.

Er schließt seinen Artikel, indem er versichert: "Am Ende glaube ich, dass Interventionismus unentwirrbar mit der amerikanischen Idee verbunden ist.... Die Idee, dass der Westen bereit sein muss, für seine Werte gegen die Barbarei zu kämpfen, ist die beste Hoffnung für ein 21. Jahrhundert, dass weniger grausam ist als das 20. Jahrhundert."

Trotzki bemerkte 1924 mit beißender Kritik: "Amerika befreit immer irgendjemanden; das ist sein Beruf."

Auf diesen verachtenswürdigen Artikel folgte zwei Tage später ein weiterer von Nicholas Kristof, einem anderen Leitartikelschreiber der Times, mit dem Titel "Danke Amerika!", in dem er sich in seinen Erlebnissen in Tripolis suhlt.

Er schreibt, "Amerikaner werden in der Arabischen Welt selten als Helden angesehen, aber während sich hier in der libyschen Hauptstadt Feierlichkeiten ohne Ende entwickeln, treffe ich immer wieder auf einfache Leute, die wenn sie erfahren, woher ich komme, inbrünstig Varianten derselben Phrase wiederholen: 'Thank you, America'"

Leidet Kristof an Gedächtnisverlust? Es ist kaum mehr als acht Jahre her, dass seine Zeitung atemlos über Feierlichkeiten und Dankbarkeit gegenüber Washington in Bagdad berichtete, nach einer Invasion, die zu über einer Million irakischen Todesopfern und der Zerstörung einer gesamten Gesellschaft führte.

In einem Leitartikel vom 10. April 2003 mit der Überschrift "Der Fall von Bagdad" schrieb die Times darüber, wie "Bürger auf die Straßen strömten, um zu feiern" und "jubilierende Iraker und amerikanische Marines stießen gemeinsam eine riesige Statue von Mr. Hussein vom Sockel." Der Artikel sagte voraus, dass dieser Moment - dem Jahre von entsetzlicher Kriegsführung und der Tod von mehr als 4.000 Soldaten folgten - "das Signal sei, dass ein vollständiger militärischen Sieg Amerikas im Irak vielleicht innerhalb weniger Tage, nicht Monate, möglich sei."

Kristof malt ein rosiges Bild von dem Nach-Gaddafi-Tripolis, indem er behauptet, dass es "keine Plünderungen" und "wenig offensichtliche Vergeltungsmaßnahmen" gebe. Vermutlich hat er nichts von gefesselten Leichen von Gaddafi-Anhängern gehört, die in verschiedenen Teilen der Hauptstadt gefunden wurden und vermutlich verzichtete er auf einen Besuch der Internierungszentren der "Rebellen", wo ein Drittel bis zur Hälfte aller Gefangenen schwarzafrikanische Migranten aus Sub-Sahara-Ländern sind, die aufgrund ihrer Hautfarbe auf der Straße gejagt, eingesperrt und brutal misshandelt werden.

"Libyen," schreibt Kristof, "ist eine Mahnung, dass es manchmal möglich ist, militärische Mittel einzusetzen um humanitäre Anliegen voranzutreiben." Die Lehre aus Libyen sei, behauptet er, dass es "besser ist inkonsequent einige Leben zu retten, anstatt konsequent keine."

Diese letzte Perle der Weisheit dient dazu, unangenehme Fragen abzuwehren, wie die, warum die Obama-Regierung und ihre Nato-Verbündeten entschlossen waren, humanitäre Werte in Libyen mittels Regimewechsel hochzuhalten, während sie nach wie vor repressive Regimes in Bahrain, Jemen, Saudi-Arabien und anderswo unterstützen.

Die Antwort, dass es darum ging, "inkonsequent einige Leben zu retten" ist völliger Unsinn. Der von der Nato unterstützte Nationale Übergangsrat schätzt, dass 50.000 Libyer durch den Krieg umgekommen sind, den die USA und ihre Verbündeten Libyen aufgezwungen haben. Das ist ein Vielfaches der Todesopfer, die jemals der Unterdrückung vor dem Krieg zugeschrieben worden sind.

In Wirklichkeit können jederzeit unerschöpflich viele Vorwände gefunden werden, um eine "humanitäre" Intervention in diesem oder jenem unterdrückten Land zu rechtfertigen. Die Entscheidung, dies zu tun, basiert nicht auf der Grundlage, ob dadurch Leben gerettet werden können - da die Kriege fast immer viel mehr Todesopfer fordern, als sie verhindern - sondern auf der Grundlage, welche Vorteile daraus gezogen werden können.

Auf dieser Grundlage schätzte man Libyen - ein Land mit knapp sechs Millionen Einwohnern, das über den größten Ölreserven in Afrika liegt - als eine niedrig hängende Frucht ein, die reif war für eine koloniale Übernahme. Innerhalb weniger Wochen nach dem Sturz der von den USA gestützten Regimes in Ägypten und Tunesien, entschlossen sich Washington und seine Nato-Alliierten, die Proteste in Libyen auszunutzen und für die Verfolgung ihrer eigenen räuberischen Interessen in der Region zu benutzen.

Und die angeblich liberalen Leitartikler der New York Times schnitten ihre Ansichten so zu, dass sie mit den Kriegszielen Washingtons und der Nato zusammen passten.

Wenn man diese korrupten und durch und durch unaufrichtigen Artikel liest, fällt es einem schwer zu entscheiden, was schlimmer ist, die brutale Dummheit der Argumente oder ihr unterwürfiges Kriechen vor dem Imperialismus.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 06.09.2011
New York Times bejubelt "humanitären" Krieg gegen Libyen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2011