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GLEICHHEIT/3754: New York Times zur US-Haushaltslage - Die Stimme der herrschenden Klasse


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

New York Times zur US-Haushaltslage:
Die Stimme der herrschenden Klasse

Von Kate Randall
19. Juli 2011


In einer am Freitag veröffentlichten Kolumne enthüllt David Brooks, Kolumnist der New York Times, die Denkweise der amerikanischen Finanzaristokraten in Bezug auf die Ausgaben im Gesundheitswesen. In erschreckenden Worten macht er ihrer Erbitterung über die "Verschwendung" von Ressourcen zur Lebensverlängerung einfacher Bürger Luft und beschreibt die Entschlossenheit der herrschenden Klasse, mit diesem Missstand aufzuräumen.

Die Kolumne erschien während der Diskussionen zwischen dem Weißen Haus und Demokraten und Republikanerin aus dem Kongress über einen beidseitigen Plan zur Kürzung von Gesundheitsprogrammen und Sozialhilfe für Alte und Arme um Billionen von Dollar. Die Obama-Administration hat bei diesem nie dagewesenen Angriff auf grundlegende Sozialreformen aus den Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts die Führung übernommen. Sie besteht darauf, dass jede Maßnahme zur Erhöhung der Schuldenobergrenze an massive Einschnitte gebunden sein müsse.

Die Kernaussage von Brooks Kolumne ist in der Überschrift "Tod und Haushalt" zusammengefasst. Um die Haushaltskrise zu lösen, so argumentiert er, werden Menschen bald früher sterben müssen.

"Diese Haushaltskrise hat viele Gründe", schreibt er, "aber einer davon ist unsere Unfähigkeit, uns dem Tod zu stellen - unsere Bereitschaft, unsere Nation in den Bankrott zu finanzieren, um das Leben um einige wenige Monate in Krankheit zu verlängern." Es sei der selbstsüchtige und ignorante Wunsch des amerikanischen Volkes, länger zu leben, und nicht die geistlose Gier und der überbordende Wohlstand der herrschenden Elite oder die Billionen, die für Krieg und Bankenrettungen ausgegeben wurden, die Amerika in den Bankrott trieben, argumentiert er.

In der typischen Art und Weise eines Wortverdrehers führt Brooks den Fall eines Patienten mit einer schrecklichen und unheilbaren Krankheit an, um gegen die "unnötige" Behandlung von Millionen von anderen zu argumentieren. Brooks zitiert Dudley Clendinen, einen früheren Redakteur der Times, der an der degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems, Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) leidet und sich entschlossen hat, eine weitere Behandlung abzulehnen.

Brooks beschreibt den Zustand derer, bei denen ALS festgestellt wurde, und erklärt: "Das Leben besteht nicht nur aus Atmen und dem Dahinvegetieren in einer Hülle aus Haut." Hier ist der vergiftende Ton genauso aufschlussreich wie die Sprache. Wie viele kranke und alternde Menschen fallen Brooks und seinen Gesinnungsgenossen zufolge heute in die Kategorie "Dahinvegetierende in einer Hülle aus Haut"?

Das ist mehr als nur ein Hauch von Faschismus. Brooks schlägt zwar nicht die nationalsozialistische Lösung des "Problems" körperlich und geistig behinderter Menschen vor - die Massenausrottung - aber man kann sich gut vorstellen, wie die Architekten solchen Horrors sich dieser Sprache bedienen, um ihre Opfer zu beschreiben.

Ein Nazi-Propaganda-Poster für die Euthanasie aus den Dreißiger Jahren führt zur logischen Schlussfolgerung der "Kosten-Nutzen-Analyse" menschlichen Lebens von Brooks. Auf ihm heißt es, dass Individuen, die "an Erbkrankheiten leiden, die Gemeinschaft 60.000 Reichsmark kosten... Deutsche Landsleute, das ist auch euer Geld".

Brooks schlägt vor, dass jemand, bei dem ALS festgestellt wird, der Beendigung seines Lebens zustimmen sollte. Er verachtet menschliche Gefühle und ignoriert den gesellschaftlichen Beitrag, den sogar schwerkranke Menschen leisten können. Der Fall des Wissenschaftlers Stephen Hawkings fällt einem sofort ein, ein brillanter Intellektueller, der einige seiner wichtigsten Beiträge dank der lebensverlängernden Maßnahmen der modernen Medizin geleistet hat, obwohl er durch ALS schwerstbehindert ist.

Clendinens Fall wird von Brooks in der zynischen Absicht zitiert, für die Rationierung medizinischer Versorgung zu werben. "Wir leben in der Illusion, dass wir durch gewaltige Gesundheitsausgaben die Lebensqualität radikal erhöhen", erklärt er. Warum dies eine "Illusion" ist, sagt er nicht. Es ist in der Tat so, dass Medicare - die Gesundheitsversicherung der Regierung für die Alten - bei der Einführung 1965 dazu geführt hat, dass die Armut unter Senioren in den USA scharf zurückgegangen und die Lebenserwartung angestiegen ist.

Worauf Brooks in Wahrheit hinaus will - und womit er die Zustimmung der US-Geldelite findet - ist deren Einschätzung, dass diese Trends von Übel sind und umgekehrt werden müssen.

Er kommt zu dem Pauschalurteil, dass wir "weit entfernt sind" von einem Heilmittel für Krebs und dass "kein Heilmittel für Herzkrankheiten am Horizont zu sehen ist". Er unterschlägt damit einfach die Bedeutung dramatischer Fortschritte in der Behandlung sowohl diverser Formen von Krebserkrankung - einschließlich Lungen-, Brust- und Prostatakrebs - und von Herzerkrankungen.

Dem Zentrum für Krankheitskontrolle und Prävention zufolge hat sich die Zahl der Menschen in den Vereinigten Staaten, die jetzt als "Krebs-Überlebende" bezeichnet werden, von 3 Millionen im Jahr 1971 auf 11,7 Millionen im Jahr 2007 erhöht - ein Anstieg um 270 Prozent. Die dramatische Verbesserung wird auf Früherkennung und aggressive Behandlungsmethoden zurückgeführt.

Die Archives of Internal Medicine haben Studien veröffentlicht, denen zufolge in ähnlicher Weise auch die Sterblichkeitszahlen bei Krankenhauspatienten nach einem Herzanfall infolge neuer Medikamente und chirurgischer Methoden dramatisch zurückgegangen sind. Zwischen 1994 und 2006 fiel die Todesrate bei diesen Fällen bei Frauen unter 55 um 53,9 Prozent und bei Männern aus derselben Altersgruppe um 33,3 Prozent.

Der vielleicht unheimlichste Teil von Brooks Kolumne dreht sich um die Behandlung von Alzheimer-Patienten. Brooks beklagt die Tatsache, dass ein "großer Teil unserer Gesundheitsausgaben an kranke Patienten in ihrer letzten Lebensphase geht. Diese Art der Ausgaben nimmt schnell zu."

Fürs Protokoll fügt Brooks hinzu: "Offensichtlich werden wir Alzheimer-Patienten niemals ausgrenzen und sie auf einem Hügel zurücklassen. Wir werden im Fall der Alten und Kranken niemals zwingend aufgeben." Diese Gegenerklärungen bleiben bemerkenswert vage.

Was heißt "zwingend"? Wenn die Versicherungsgesellschaften, Medicare und Medicaid - wie viele aus Brooks Lager vorschlagen - die Kostendeckung für die teuersten Medikamente, Verfahren und Tests aufgeben und Millionen von Menschen plötzlich feststellen, dass sie sich die Mittel und Behandlungen, auf die sie angewiesen sind, nicht mehr leisten können - ist das dann "zwingend"? Schließlich könnten sie sich ja dafür entscheiden, ihre Miete nicht mehr zu bezahlen oder weniger zu essen und wenn sie wohlhabend sind, können sie auch weiterhin die beste Versorgung erhalten, die man für Geld kriegen kann.

"Man kann sich schwer vorstellen, dass die Inflation im Gesundheitswesen gestoppt werden kann, ohne dass Menschen und ihre Familien sich bereit erklären, Clendinens Weg zu gehen - sich dem Tod und den Verpflichtungen gegenüber den Lebenden zu stellen", schlussfolgert Brooks.

In seiner Kolumne führt Brooks zustimmend einen vor kurzem erschienenen Artikel der demokratisch angehauchten New Republic an. Die Autoren Daniel Callahan und Sherwin Nuland werden darin, sofern das überhaupt geht, noch deutlicher. Sie zitieren eine Studie, die behauptet, "die Zuwachskosten eines zusätzlichen Lebensjahres" seien auf 145.000 Dollar angestiegen. "Sollte dieser Trend bei Senioren anhalten, wird die Kosteneffektivität medizinischer Versorgung im Alter weiter abnehmen" lautet der Schluss, zu dem die Autoren kommen.

Auf den glücklichen Fall anspielend, dass dieser Trend umgedreht wird, schreiben sie: "Einige Menschen werden früher sterben als jetzt, aber sie werden besser sterben." Die Autoren fahren fort, indem sie beteuern, "die Öffentlichkeit muss überredet werden, ihre Erwartungen zurückzuschrauben", was die Gesundheitsversorgung angehe, und zwar teilweise dadurch, dass "Zuzahlungen und Abzüge auf ein schmerzhaftes Niveau angehoben werden, das ausreicht, um genügend Menschen zu entmutigen", um lebensverlängernde Maßnahmen nachzusuchen.

Alle Teile des politischen Establishments verlangen tiefe Einschnitte in die Gesundheitsversorgungsprogramme. Besonders bemerkenswert ist jedoch die Rolle des liberalen Establishments und der Demokratischen Partei, die die Spitze dieses Angriffes bilden.

Die New York Times hat in der Kampagne für Obamas Reform des Gesundheitswesens eine führende Rolle gespielt. Endlose Artikelserien und Meinungskolumnen in der Times haben sich ereifert über die zu hohen Ausgaben für Krebs-Screenings, Herzschrittmacher, Statin-Drogentherapien und viele andere lebenswichtige Behandlungsmethoden. Brooks Kolumne, die die Frage aufwirft, welchen Wert es hat, das Leben von Durchschnittsamerikanern zu verlängern, legt einfach nur die unausgesprochenen Voraussetzungen solcher Argumentation offen auf den Tisch.

Als Obamas Gesundheitsreform 2009 diskutiert und behauptet wurde, sie sei durch den Wunsch motiviert, "universelle" Gesundheitsversorgung zu gewährleisten, bestand die World Socialist Web Site darauf, dass es sich nicht um eine progressive Reform handele, sondern um den "Auftakt für beispiellose Angriffe auf die Krankenkassen der arbeitenden Bevölkerung. Sie sollen die Errungenschaften wieder abschaffen, die mit der Einführung von Medicare 1965 einhergingen. (Siehe: Obamas Krankenversicherung - ein klarer Rückschritt)

Die vergangenen zwei Jahre haben diese Einschätzung vollkommen bestätigt. Die bloße Tatsache, dass eine Kolumne wie die von Brooks in einer größeren Zeitung erscheinen darf, beweist, mit welcher Härte die amerikanische Konzern- und Finanzelite derzeit vorgeht.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 19.07.2011
New York Times zur US-Haushaltslage: Die Stimme der herrschende Klasse
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2011