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GLEICHHEIT/3664: Trotz Regierungsverbot protestieren Zehntausende in ganz Spanien


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Trotz Regierungsverbot protestieren Zehntausende in ganz Spanien

Von Alejandro López
24. Mai 2011


Zehntausende Demonstranten besetzen in Madrid den Platz Puerta del Sol und haben sich in weiteren 162 Städten in ganz Spanien versammelt. Sie protestieren gegen die Arbeitslosigkeit, staatliche Sparmaßnahmen und ein politisches System, dass nur den Banken und dem Großkapital dient.

Die Proteste werden oft nach ihrer Hauptforderung, "Echte Demokratie jetzt", benannt; sie sind auch als M-15 Bewegung bekannt. Am 15. Mai gaben soziale Netzwerk- und Internet-Gruppen zum ersten Mal Protestaufrufe heraus, die bei jüngeren Arbeitern, Studenten, Arbeitslosen und weiten Teilen der spanischen Bevölkerung auf große Resonanz stießen.

Als die Proteste auch am Freitag, ihrem sechsten Tag, nicht beendet wurden, war dies eine klare Missachtung der Wahlbehörde von Madrid. Diese hatte im Vorfeld der Wahlen vom Sonntag alle Demonstrationen in der Hauptstadt verboten.

Am Donnerstagabend verabschiedete auch Spaniens zentrale Wahlbehörde eine Resolution, die sämtliche Kundgebungen für Samstag und Sonntag im ganzen Land verbot. Der Samstag wurde als "Reflektionstag" vor der Wahl bezeichnet, und am Sonntag fand die Wahl für die kommunalen und regionalen Regierungen statt.

Die Resolution wurde mit fünf Stimmen bei vier Gegenstimmen und einer Enthaltung angenommen. Die Begründung für das Verbot von Demonstrationen am Samstag lautete, dass "unsere Gesetzgebung jeden Akt der Propaganda oder Wahlwerbung am Reflektionstag untersagt". Was den Wahltag selbst anging, führte die Wahlbehörde aus, dass das Gesetz "die Bildung von Gruppen, die auf irgendeine Art und Weise den Zugang zu den Wahlen behindern könnten, genauso verbietet wie die Anwesenheit von Personen in der Nähe der Wahllokale, die die freie Ausübung des Wahlrechts stören oder beeinträchtigen könnten".

Auch die Wahlbehörden von Sevilla und Granada folgten diesem Beispiel und untersagten alle Demonstrationen und Protestcamps.

Die Demonstranten an der Puerta del Sol, wo eine kleine Zeltstadt von zehntausenden Demonstranten umgeben ist, reagierten auf die Nachricht von dem neuen Verbot mit Spott und Pfiffen und sangen: "No nos moverán" [Wir werden nicht weichen].

Es ist alles andere als klar, ob das Demonstrationsverbot rechtmäßig ist. Das höchste Gericht Spaniens, das Verfassungsgericht, hatte zuvor das Recht auf Demonstrationen am Reflektionstag bestätigt, vorausgesetzt, dass der Einfluss auf die Wähler "gering" sei. Zu dem Urteil kam es, nachdem der Oberste Gerichtshof von Andalusien für den Tag vor den Wahlen im Jahr 2010 eine Demonstration am internationalen Frauentag verboten hatte. In dem Urteil heißt es außerdem, dass die " bloße Möglichkeit" einer Verletzung des Wahlrechts nicht ausreiche, um das Versammlungs- und Demonstrationsrecht einzuschränken.

Die Teilnehmer der weitgehend spontanen 15. Mai-Bewegung habe von Anfang an klar gemacht, dass sie alle große Parteien Spaniens ablehnen, und dass sie keinerlei "Propaganda" betreiben oder "die Ausübung des Wahlrechts" behindern wollten, wie die Wahlvorstände behaupten.

Das spanische Recht erfordert auch, dass Protestveranstaltungen zehn Tage vorher angekündigt werden müssen, so dass sie von den Behörden genehmigt werden können. Aber die Demonstranten bestehen darauf, sie hätten zu keiner Demonstration aufgerufen, sondern nähmen lediglich ihr Versammlungsrecht wahr, dass vom Artikel 21 der spanischen Verfassung garantiert wird.

In Regierungskreisen herrscht große Nervosität, da es Befürchtungen gibt, dass ein allzu hartes Vorgehen den Widerstand gegen die Regierung und die Sparmaßnahmen, die sie durchdrücken will, nur noch anheizen könnte. Die knappe Abstimmung der Madrider Wahlbehörde ist Ausdruck der Differenzen innerhalb der herrschenden Elite über die Frage, wie man auf die Demonstrationen reagieren soll. Die fünf Ja-Stimmen kamen von den Juraprofessoren, die von der rechten Partido Popular (Volkspartei, PP) gewählt wurden, die derzeit die Madrider Regionalregierung kontrolliert, während die Nein-Stimmen und die Enthaltungen von der Spanische Sozialistische Arbeiterpartei PSOE kamen.

Der Präsident der Wahlbehörde hatte am Mittwoch erklärt, die Demonstrationen seien illegal, aber seine Entscheidung war nicht bindend. Fünfhundert Bereitschaftspolizisten wurden in den Nebenstraßen des zentralen Platzes von Madrid postiert, aber sie beschränkten sich darauf, die Personalausweise von allen zu kontrollieren, die auf den Platz wollten, und sie zu warnen, dass dies illegal sei. Innenminister Pérez Rubalcaba von der regierenden Sozialistischen Arbeiterpartei erklärte: "Die Polizei ist hier, um Probleme zu lösen, nicht um welche zu schaffen".

Ministerpräsident José Zapatero erklärte: "Der Justizminister prüft die Resolution der Wahlbehörde. Wir werden erleben, wie sie sich auswirkt, und werden sehen, was an diesem Samstag passiert. Die Regierung und der Innenminister gehen richtig an die Sache heran und handeln vernünftig. Die Rechte garantieren und den Reflektionstag respektieren, das ist es, was wir wollen"

Rubalcaba und Zapatero haben die Polizei bisher nicht öffentlich zum Einschreiten aufgefordert. Offenbar fürchten sie, dass eine gewaltsame Auflösung der friedlichen Demonstration eine Gegenreaktion erzeugen und die Bewegung stärken könnte, ähnlich wie bei den Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Ägypten.

Trotzdem gibt es Berichte über Fälle, bei denen die Polizei brutal gegen Demonstranten vorgeht.

Miguel, ein arbeitsloser Architekt aus Barcelona, sagte dem britischen Sender Channel 4 News, Polizisten hätten junge Menschen angegriffen, die in der Stadt auf der Plaza de Catalunya zelteten.

"Sie [die Polizisten] tragen normale Kleidung und sind oft angezogen wie viele Demonstranten, mit Parolen auf dem T-Shirt. Sie reißen die Zelte auf, wecken die Menschen und zerren sie vom Platz."

"Mehrere Leute berichteten, sie seien mit Schlagstöcken geschlagen worden, als sie sich weigerten, zu gehen."

Die Bewegung "Echte Demokratie jetzt", die die Proteste organisiert, schrieb in einer Erklärung, in Madrid seien die staatlichen Sicherheitskräfte "übertrieben" vorgegangen.

Darin heißt es: "Wir verurteilen die brutale Polizeirepression und erklären unsere Solidarität mit denen, die verletzt wurden, und denen, die für friedliche Handlungsweisen ohne jede Provokation festgenommen wurden. Wir fordern ihre sofortige Freilassung ohne Anklage."

Bei einem Versuch, die Demonstranten zu beschwichtigen, gab Zapatero ein Interview, in dem er betonte, dass die Sparmaßnahmen seiner Regierung notwendig seien, um Rettungsaktionen wie in Griechenland zu verhindern. Diese würden sonst noch viel brutalere Kürzungen bedeuten. Er verteidigte ebenfalls das Rettungspaket für die Banken. "Wir haben die Banken finanziert, aber wir verlangen von ihnen Zinsen und Gebühren. Wir haben 3,3 Millionen Euro an den Banken verdient. Kein Geld der Bürger und keine Steuergelder sind an die Banken gezahlt worden."

In Wirklichkeit hat Zapatero eines der brutalsten Sparprogramme in ganz Europa aufgelegt. Damit sollen fünfzehn Milliarden Euro eingespart werden. Vorgesehen sind eine fünf bis fünfzehnprozentige Kürzung der Beamtengehälter, die Anhebung des Rentenalters von fünfundsechzig auf siebenundsechzig Jahre und die Einführung einer Arbeitsrechtsreform. Diese Reform schafft alles ab, was an Arbeitnehmerrechten noch übrig ist. Hinzu kommen noch die Kürzungen der regionalen Regierungen im Gesundheits- und Bildungsbereich. In einigen Fällen, wie in Katalonien, haben die Kürzungen ein Volumen von zehn Prozent des letzten Jahreshaushalts.

Inzwischen liegt die offizielle Arbeitslosenquote über zwanzig Prozent, bei Arbeitern unter fünfundzwanzig Jahren sind es fünfundvierzig Prozent.

Die PSOE hat erfolglos versucht, bei der letzten Demonstration Einfluss zu gewinnen. Tomás Gomez, ein Kandidat der PSOE bei den Wahlen für die Landesregierung in Madrid, kontaktierte einen der Organisatoren, um herauszufinden, wie er auf dem Platz empfangen werden würde. Als Organisatoren über den geplanten Besuch per Mikrofon informierten, buhten die Demonstranten sie aus.

Die Volkspartei, die von den rechten Medien unterstützt wird, ist für die sofortige Auflösung aller "illegalen" Demonstrationen. PP-Generalsekretär Maria Dolores de Cospedal betonte: "Das spanische Volk hat das Recht, Maßnahmen zu ergreifen, die den Reflektionstag garantieren".

Die Präsidentin der Regionalregierung von Madrid, Esperanza Aguirre, verstieg sich dagegen zu der Behauptung, die PSOE stünde hinter den Demonstrationen. Sie unterstellte eine Parallele zu der spontanen Bewegung, die nach den Anschlägen in Madrid im März 2004 gegen die PP-Regierung entstanden war. "Beide richteten sich gegen den rechten Flügel", sagte sie.

Als die Resolution verabschiedet und bekannt gemacht worden war, strömten weitere Tausende auf den Platz. Dabei skandierten Demonstranten: "Die Stimme des Volkes ist nicht illegal", "Wir werden nicht für diese Krise zahlen", "Das hier wird mit den Wahlen nicht vorbei sein" und "Wo ist die Linke? Sie ist praktisch bei den Rechten."

Es gab Solidaritätskundgebungen in Europa und auf der ganzen Welt, um die spanischen Demonstranten zu unterstützen. Besonders groß waren die in Paris, Frankreich, Rom und anderen italienischen Städten und auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires, Argentinien.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 24.05.2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Mai 2011