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GLEICHHEIT/3454: Unruhen erschüttern Tunesien und Algerien


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Unruhen erschüttern Tunesien und Algerien

Von Alex Lantier
13. Januar 2011


Bei Massenprotesten in Tunesien und Algerien kamen in der vergangenen Woche Dutzende Menschen durch polizeiliche Unterdrückungsmaßnahmen ums Leben, Hunderte wurden verletzt. In ganz Algerien kam es ebenfalls zu Unruhen gegen die Erhöhung von Lebensmittelpreisen und die Kürzung staatlicher Subventionen. Die Demonstrationen in Tunesien gegen Arbeitslosigkeit und das Regime des tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali gingen derweil weiter.

Die Proteste in Algerien richten sich gegen die marktwirtschaftliche Politik des von der Armee unterstützten Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika von der Nationalen Befreiungsfront (FLN). Die Preise von staatlich subventionierten Lebensmitteln wie Mehl, Speiseöl und Zucker haben sich in Algerien in den letzten Monaten verdoppelt. Die Weltmarktpreise steigen und der Staat versucht, einen Teil dieser Preiserhöhungen an die Lebensmittelhändler und Verbraucher weiterzureichen.

Darüberhinaus drücken die Proteste den Zorn der Masse der Bevölkerung gegen die schreckliche soziale Lage in Algerien aus. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds sind 75 Prozent der algerischen Bevölkerung unter 25 Jahre. Die Arbeitslosigkeit unter ihnen beträgt dreißig Prozent. Die Regierung versucht jetzt, eine siebzehnprozentige Mehrwertsteuer gegen die Straßenverkäufer in Algeriens großem informellen Handelssektor durchzusetzen.

Nach Berichten über gelegentliche Unruhen in allen Teilen des Landes gab es Ende letzter Woche vor allem in den wichtigsten Städten große Kämpfe.

Einsatzgruppen der Bereitschaftspolizei errichteten Straßensperren und griffen am Freitag Demonstranten in den Stadtteilen Belcourt und Bab el-Oued der Hauptstadt Algier an. Nach Angaben der offiziellen algerischen Nachrichtenagentur APS verwüsteten Demonstranten Polizeistationen, Banken und Regierungsgebäude in "mehreren Städten im Osten", darunter in Constantine, Jijel, Setif und Bouria. AFP berichtete auch von gewalttätigen Zusammenstößen in der zweitgrößten Stadt des Landes, Oran, in Annaba und Tizi Ouzou, der größten Stadt der von der Minderheit der Kabilen bewohnten Region.

Gestern trat die Regierung den Rückzug an und kündigte an, die Preise durch die Verringerung der Steuern auf Zucker und Öl um 41 Prozent zu senken. Andere Quellen wie die Website Tout Sur l'Algerie stellten die Zahlen der Regierung aber in Frage und gaben an, der Nettoeffekt der Preissenkungen betrage nur fünf Prozent.

Die Regierung hat Fußballspiele verboten. Die BBC vermutet, dass solche Spiele "als möglicher Katalysator für Proteste gesehen werden".

Der algerische Innenminister Daho Ould Kablia bestätigte gestern, dass drei Jugendliche bei den Protesten in M'sila, Tipasa, und Boumerdes getötet worden seien. Offizielle Zahlen besagen, dass 200 Menschen verletzt wurden. Le Figaro berichtete, dass Sadek Bendjedid, ein 65-jähriger Taxifahrer, durch dichte Tränengasschwaden gestorben sei.

In Tunesien nahmen die Unruhen über das Wochenende zu. Es wurde über regelrechte Kämpfe zwischen Demonstranten und Teilen der Sicherheitskräfte berichtet.

Die BBC berichtete, dass in Kasserine und Tala vierzehn Menschen getötet worden seien. Die offizielle tunesische Nachrichtenagentur TAP schrieb: "In Kasserine wurden mehrere Regierungsgebäude von Gruppen angegriffen, die drei Banken, eine Polizeistation, eine Tankstelle und ein Polizeifahrzeug zerstörten und in Brand setzten." Vier Menschen sollen in Regueb getötet worden sein.

Die Proteste wurden von dem arbeitslosen Hochschulabgänger Mohammed Buzazi ausgelöst, der als Gemüseverkäufer arbeitete. Er zündete sich selbst vor einem Regierungsgebäude in Sidi Bou Said an, um dagegen zu protestieren, dass die Polizei seine Waren beschlagnahmt hatte. Die Polizei behauptete, Buzazi habe keine Erlaubnis zum Verkaufen von Gemüse gehabt. Er starb am 4. Januar.

AFP berichtete, dass die Teilnehmer an der Begräbnisprozession riefen: "Mach's gut Mohammed, wir werden dich rächen. Heute weinen wir um dich, dann werden wir die Verantwortlichen für deinen Tod zum Weinen bringen."

Sein Onkel Mehdi Horchani sagte zu AFP: "Mohammed hat sein Leben gegeben, um auf seine Lage und die seiner Brüder aufmerksam zu machen." Wie in Algerien gibt es auch in Tunesien eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Dafür verantwortlich gemacht wird die marktwirtschaftliche Politik der Regierung, die es praktisch unmöglich macht, ohne persönliche Beziehungen und die Zahlung von Bestechungsgeldern einen Arbeitsplatz zu ergattern.

Le Monde schreibt: "In der Vergangenheit, als die Wirtschaft stark vom Staat bestimmt war, hatte ein guter Abschluss noch einen stabilen Job garantiert, oft im staatlichen oder halbstaatlichen Sektor. Aber mit den umfassenden Strukturreformen der Nach-Bourguiba-Ära änderten sich die Dinge." Die Arbeitslosigkeit stieg Ende der 1990er Jahre schnell an. Die Jugendarbeitslosigkeit ist inzwischen mit der in Algerien zu vergleichen.

Ein französischer Geschäftsmann in Tunesien erklärte in Le Monde: "Es passiert nicht selten, dass man an der Tankstelle von jemandem mit einem Masterabschluss in Soziologie bedient wird. Reinigungsfrauen haben Abschlüsse in Englisch und der Obstverkäufer ist Doktor der Mathematik, usw."

Um die Organisierung der Proteste zu stören und die Berichterstattung in den Medien zu stoppen, versucht die Regierung das Internet zu kontrollieren. Sie blockierte letzte Woche den Facebook-Zugang und Web Mail Zugänge; Journalisten und politische Aktivisten berichten, dass ihre Accounts gehackt wurden und unter fremder Kontrolle stehen.

Das Ben Ali-Regime ist besonders daran interessiert, Seiten zu blockieren, auf denen über WikiLeaks-Material zu Tunesien diskutiert wird. Obwohl die USA und die Europäer fest hinter der Ben Ali-Clique stehen, zeichnen die - normalerweise vertraulichen - offenen Einschätzungen der US-Diplomaten über die Situation in Tunesien ein vernichtendes Bild der Regierung.

In einer auf WikiLeaks veröffentlichten Depesche vom Juli 2009 schrieben US-Diplomaten: "Wir teilen zwar wichtige Werte und das Land macht eine starke Entwicklung, aber Tunesien hat große Probleme. Präsident Ben Ali wird alt, sein Regime ist verknöchert und es gibt keinen klaren Nachfolger. Viele Tunesier sind aufgrund fehlender politischer Freiheiten frustriert und über die Korruption der Ersten Familie, hohe Arbeitslosigkeit und regionale Ungleichheiten erzürnt."

In einer anderen Depesche heißt es unter der Überschrift "Korruption in Tunesien: Was dir gehört, gehört mir": "Korruption in Tunesien nimmt zu. Ob es um Bargeld, Dienstleistungen, Land, Eigentum oder, ja, sogar um deine Jacht geht, was Präsident Ben Alis Familie begehrt, sie bekommt, so hört man, was sie auch immer wünscht... Präsident Ben Alis weitläufige Familie wird oft als der Dreh- und Angelpunkt des tunesischen Korruptionsnetzes bezeichnet. Die geheimnisvolle Erwähnung 'der Familie' in Mafia-Manier reicht aus, dass jeder weiß, wer gemeint ist. Scheinbar ist die Hälfte der tunesischen Wirtschaft verwandtschaftlich durch Heirat mit Ben Ali verbandelt und viele dieser Verwandten scheinen ihre Abstammung zu ihrem guten Vorteil genutzt zu haben."

Diese Einschätzungen beleuchten die imperialistische Doppelbödigkeit der amerikanischen und europäischer Regierungen in ihrem Umgang mit Regierungen im Nahen Osten. Als der von den USA unterstützte iranische Präsidentschaftskandidat Mirhossein Musawi im Juni 2009 besiegt wurde und versuchte die Wahl zu seinen Gunsten umzudrehen, verurteilten die USA und europäische Länder die Unterdrückung der Proteste durch die iranische Regierung.

Die Gewaltanwendung und Zensur, mit denen Ben Ali die Interessen der tunesischen herrschenden Clique zu verteidigen versucht, ist dagegen auf keinerlei Protest gestoßen, weil er als Verbündeter des Westens gilt.

Frankreich, die frühere Kolonialmacht Algeriens und Tunesiens, die auch bedeutende Einwanderergruppen im Land beherbergt, hat sich noch nicht offiziell zu den Protesten geäußert. Le Monde schreibt: "Tunesien ist schon seit langem ein privilegierter Partner Europas in Wirtschaftsfragen, im Krieg gegen Einwanderung und gegen Terrorismus. Es hat in Italien und Frankreich feste Verbündete, was sicher das bisherige betretene Schweigen erklärt."

Der Sprecher des US-Außenministeriums P.J. Crowley forderte am Samstag "Zurückhaltung auf allen Seiten" in Tunesien. Gleichzeitig wurde der tunesische Botschafter ins Außenministerium einbestellt.

Die bürgerlichen Medien und das diplomatische Establishment machen sich Sorgen, dass die Proteste sich ausweiten könnten, denn ihre tieferen Ursachen - soziale Verelendung aufgrund fehlender Aufmerksamkeit der Regierungen für die Interessen der Bevölkerung - sind auch die Probleme von Arbeitern in aller Welt.

Die Arab News in Saudi-Arabien schrieben ganz offen: "Wer diese Unruhen nur als lokale nordafrikanische Angelegenheit sieht, sollte noch einmal hinschauen. Die Hoffnungslosigkeit, die diesen jungen Tunesier in den Tod trieb, die mehrere Tausend seiner Landsleute dazu trieb, etwas für Tunesien ganz Seltenes zu tun - auf die Straße zu gehen und sich zu empören - und die junge Algerier diese Woche dazu gebracht hat, zu plündern und gegen Preiserhöhungen zu revoltieren, all das ist ein Zusammenbruch von Gesetz und Ordnung, der kommen musste. Das kann auch anderswo in der arabischen Welt passieren. Nicht nur in Nordafrika droht das Gespenst der Arbeitslosigkeit."

Die Proteste können sich auch nach Europa ausdehnen mit seinen großen Bevölkerungsanteilen von unterdrückten nordafrikanischen Einwanderern. In Frankreich gab es am Dienstag in Marseille eine Demonstration zur Unterstützung der algerischen und tunesischen Demonstranten.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 13.01.2011
Unruhen erschüttern Tunesien und Algerien
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2011