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GLEICHHEIT/2994: 60. Berlinale, Februar 2010 - Teil 3


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

60. Berlinale Teil 3
"Moloch Tropical" und "Jud Süß: Film ohne Gewissen"

Von Stefan Steinberg
4. März 2010
aus dem Englischen (26. Februar 2010)


Dies ist der zweite Teil einer Serie über die jüngsten Internationalen Filmfestspiele in Berlin, die vom 11. bis 21. Februar stattfanden. Der erste Teil ist am 27. Februar erschienen.

Einer der fesselndsten Filme auf der Berlinale war der neue Film von Raoul Peck. Nachdem er sich in seinen letzten Filmen mit Entwicklungen in einer Reihe von afrikanischen Ländern beschäftigt hatte - Lumumba (2000) und Sometimes in April (2004), der sich mit dem Massaker in Ruanda beschäftigte -, hat sich Peck jetzt seinem Heimatland Haiti zugewandt.


Moloch Tropical

Die Premiere seines Films in Haiti wurde nach dem verheerenden Erdbeben Mitte Januar abgesagt. Fast die gesamte Handlung von Moloch Tropical spielt sich innerhalb einer Festung auf einem hohen Berg ab. Die erste Einstellung des Films zeigt den Präsidenten des Landes, wie er aus seinem mit Seidenwäsche bezogenen Bett aufsteht und seine morgendlichen Waschungen vornimmt. Er sieht nervös und eigentümlich abwesend aus. Während er aufsteht, kippt er eine Glasflasche auf seinem Nachttisch um, die zu Boden fällt und zerspringt.

Nachdem er geduscht hat, passiert das Unausweichliche: Der unaufmerksame Präsident tritt mit seinem bloßen Fuß in eine Glasscherbe. Für den Rest des Films muss er seine Staatsgeschäfte mit einem Verband an seinem Fuß und stark humpelnd erledigen.

In der ersten Szene erfahren wir, dass der allmächtige Präsident mit seiner Gefolgschaft aus Lakaien, Beamten und Leibwächtern genauso anfällig für Missgeschicke ist wie jeder andere Sterbliche. Peck verfolgt den Präsidenten die nächsten 24 Stunden mit der Kamera; während dieser Zeit gibt es einen Volksaufstand, der damit endet, dass der Präsident nach der Intervention des US-Botschafters aus seinem Amt entfernt wird.

Der Präsident hatte geplant, im Laufe des Tages im Hof seiner Festung ein Stück zum Gedenken an die haitianische Revolution im frühen neunzehnten Jahrhundert aufzuführen. Ein Schauspieler schreitet durch die Hallen der Festung und zitiert die Worte von Toussaint Louverture, der den Kampf für Haitis Unabhängigkeit angeführt hatte, die 1804 erlangt wurde. Eine der engsten Mitarbeiterinnen des Präsidenten versucht verzweifelt dafür zu sorgen, dass weiße ausländische Würdenträger an den Feierlichkeiten teilnehmen. "Besorgt mir Weiße", befiehlt sie einer Untergebenen, "ich brauche Weiße."

Innerhalb der Festungsmauern herrschen Korruption und Vetternwirtschaft - außerhalb der Mauern Armut und Unterdrückung. Der Präsident - es wird zu verstehen gegeben, dass er früher Priester war und aus einfachen Verhältnissen stammt - hat die Verhaftung und Folterung eines Journalisten befohlen, der früher mit ihm befreundet war. Der Journalist hatte den repressiven Charakter des Regimes des Präsidenten kritisiert und dadurch geholfen, den Aufstand zu entfachen. In einer der packendsten Szenen des Films, wird der schwer gefolterte Mann mit einem sauberen Hemd bekleidet, einigermaßen hergerichtet und aus seinem Verließ nach oben geschleppt, um am Tisch mit dem Präsidenten zu Mittag zu Essen.

Der Gefangene, dessen Lippen von den Schlägen geschwollen sind, ist nicht in der Lage den ausgezeichneten Wein zu trinken, den der Präsident ihm anbietet, während er in gemeinsamen Erinnerungen schwelgt. Der Journalist ist jedoch in der Lage, den Spieß umzudrehen, und er beschreibt den Präsidenten als klägliche Figur, dem jede Würde fehlt - trotz seiner Polizeimacht und seinen Privilegien. Der Gefangene wird später vom Berg herabgeführt und von den Schlägern des Präsidenten brutal ermordet.

Peck hat erklärt, dass er die Absicht hatte, die tragische Vergangenheit seines Landes aus einer Shakespeare-ähnlichen Perspektive zu untersuchen. Die Bezüge sind deutlich - das Spiel im Spiel aus Hamlet, die Szene mit dem wahnsinnigen König Lear, die am Ende von Pecks Film nachgestellt wird, als der in zunehmendem Maße geistesgestörte Präsident nackt durch die Wälder in der Nähe seines Schlosses stolpert. Peck ist ehrgeizig und, so scheint mir, zum großen Teil auch erfolgreich bei seinem Unterfangen. Die Hohlheit der Macht in einem Land wie Haiti, zerrissen von einer derart tiefen sozialen Kluft, wird in all ihrer Zerbrechlichkeit und Brutalität geschildert.

Peck hat durch seine Funktion als Kulturminister Haitis von 1995 bis 1997 persönliche Erfahrungen in diesen Fragen gesammelt. Obwohl Peck erklärt, für die Person des Präsidenten habe er auf viele Quellen zurückgegriffen (darunter zweifellos den ersten Diktator Haitis, Henri-Christophe, wie auch den berüchtigten François Duvalier, der die Bevölkerung mit seiner Privatmiliz, den Tonton Macoutes, terrorisierte), so erinnern doch die Eigenschaften des Präsidenten - ehemaliger Priester, aus einfachen Verhältnissen, demokratisch gewählt, aber tatsächlich vom US-Außenministerium an die Macht gebracht - sicherlich an den letzten Präsidenten, den abgesetzten Jean-Bertrand Aristide.

Gleichwohl hat Peck in Interviews klar gemacht, sein Film könne genauso den Titel Moloch International tragen. Gegenüber dem Nachrichtendienst DPP erklärte er: "Wenn ich von Haiti spreche, dann spreche ich genauso von der ganzen Welt. Der Film ist nicht nur auf Haitis Präsidenten anwendbar, sondern auch auf Politiker wie Richard Nixon, Bill Clinton, Silvio Berlusconi oder Wladimir Putin."

In einer Frage- und Antwort-Stunde auf dem Filmfestival hatte ich die Gelegenheit, Peck ein paar Fragen über seinen Film zu stellen. In der Diskussion griff der Regisseur sowohl die Rolle der katholischen Kirche als auch diverser amerikanischer Regierungen in der Politik Haitis scharf an.

Peck erklärte, er sei ursprünglich ein Anhänger von Aristide gewesen, sei jedoch sehr schnell desillusioniert worden, speziell durch Aristides Unterwürfigkeit gegenüber den USA. Peck wies darauf hin, dass die spätere Abdankung von Aristide im Jahr 2004 in Diskussionen zwischen den Vertretern der zwei wichtigsten Kolonialherren Haitis - dem französischen Außenminister Dominique de Villepin und dem amerikanischen Außenminister Colin Powell - ausgearbeitet worden war. Als er die umgehende Deportation des Präsidenten an Bord eines US-Flugzeugs in ein afrikanisches Land beschrieb, behauptete Powell, Aristide "sei nicht gekidnappt worden. Wir haben ihn nicht mit Gewalt ins Flugzeug gebracht. Er ist freiwillig ins Flugzeug gestiegen. Und das ist die Wahrheit."

Als ich Peck fragte, was Haiti von der Obama-Regierung erwarten könne, war Peck zurückhaltend in seinen Äußerungen, drückte aber die Hoffnung aus, dass eine neue Generation im Weißen Haus mit anderen Ideen eine fortschrittlichere Haltung gegenüber seinem Land einnehmen werde. Ungeachtet seiner unangebrachten Hoffnungen in die Regierung Obamas verdient sein Film Moloch Tropical ein großes Publikum.

Wir freuen uns auf Pecks nächstes Projekt - Berichten zufolge ein Spielfilm über den jungen Karl Marx.


Oskar Roehlers Jud Süß: Film ohne Gewissen

Einer der schlechtesten Filme auf dem Festival war zweifellos Jud Süß: Film ohne Gewissen des Regisseurs Oskar Roehler. Roehler hat sich mit überspannten Studien über das Privatleben von Paaren aus den Mittelschichten - mit besonderer Betonung auf ihre sexuelle Unvereinbarkeit - in der deutschen Filmlandschaft eine Nische erkämpft. Seine Verfilmung von Elementarteilchen (basierend auf dem Roman von Michel Houellebecq), die 2006 herauskam, wurde von der WSWS schon besprochen.

Sein neuester Film - Roehlers erster Versuch sich mit historischem Material zu befassen - wurde zu Recht am Ende der Pressevorführung mit einem Chor aus Buh-Rufen und Gejohle bedacht.

Der Originalfilm Jud Süß (über einen jüdischen Bankier und Finanzberater) wurde von Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels 1939 nur wenige Monate vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs als Teil der Verunglimpfungskampagne der Nazis gegen Juden in Auftrag gegeben. Sich den Film anzusehen war Pflicht für die Kommandanten der Vernichtungslager und diejenigen, die an der Ausrottung der jüdischen Bevölkerung beteiligt waren. Er ist in die Geschichte als eines der ekelhaftesten Machwerke filmischer Propaganda eingegangen.

Roehlers Film konzentriert sich auf den Hauptdarsteller des Jud-Süß-Films von 1939 - den österreichischen Schauspieler Ferdinand Marian. Roehler stellt Marian als tragische Figur dar, der gezwungen ist, Goebbels Forderung zu erfüllen, die Hauptrolle in diesem Film zu übernehmen; andernfalls werde seine jüdische Frau ins Konzentrationslager geschickt. Die vielen nicht übereinstimmenden Tatsachen und Unwahrheiten in Roehlers Film wurden von dem Biografen Marians und deutschen Historiker Friedrich Knilli ausführlich beschrieben und bloß gestellt.

Knilli verweist drauf, dass Marians Frau keine Jüdin war. Roehlers Film stellt Marian außerdem als ausgebrannten Typen dar, der in den Alkohol getrieben wird, nachdem er an dem Film Jud Süß mitgewirkt hat und schließlich Selbstmord begeht, nachdem er erfährt, dass seine Frau in Auschwitz vergast wurde. In Wirklichkeit hat Marian noch eine Reihe weiterer Filme im faschistischen Deutschland gedreht, bevor er 1946 bei einem Autounfall starb. In einer Stellungnahme zu Roehlers Film erklärte Knilli: "Das ist völliger Unsinn. Man kann in einem historischen Film nicht derart die Fakten fälschen. Man muss sich ein bisschen an die Wahrheit halten."

Roehler ist völlig immun gegenüber einer solchen Kritik. Der Regisseur rechtfertigt seinen Film und erklärt, wenn es darum geht, "das menschliche Drama" darzustellen, ist alles erlaubt. "Wir machen Filme und keine Dokumentationen, weil wir menschliche Gefühle beschreiben wollen. Wir stellen Emotionen dar. Die innere Wahrheit", erklärte er gegenüber Reportern auf dem Filmfestival

In vielerlei Hinsicht ist Roehlers Film ein beträchtlicher Schritt zurück in der Schilderung des Faschismus durch deutsche Regisseure. Filme aus neuerer Zeit, vor allem der Film Der Untergang verbildlichten graphisch die Grausamkeit von Hitlers Herrschaft, ohne dabei auf Karikatur zurück zu greifen. In seinem letzten Film wiederbelebt Roehler jede Art von Klischees über die Zeit der Nazi-Herrschaft in Deutschland.

In Roehlers Augen reduziert sich der Faschismus auf den Drang von Männern und Frauen nach Macht, die besessen sind von Dominanz - speziell in ihrer sexuellen Ausprägung. Wir werden in Roehlers Jud Süß Zeuge einer Szene, in der eine Schar attraktiver Frauen in einer Bar sitzen und hypnotisch von dem hinkenden Goebbels angezogen werden, der in den Raum humpelt - offensichtlich gefesselt von seiner überwältigenden sexuellen Anziehungskraft.

Goebbels wird in einem völlig übertriebenen Auftritt von dem sonst bewundernswerten deutschen Schauspieler Moritz Bleibtreu als machthungriger und sexbesessener Tyrann dargestellt. In einer weiteren außergewöhnlich geschmacklosen Szene verführt eine begeisterte weibliche Anhängerin der Nazis den Schauspieler Marian, von dem sie glaubt, dass er Jude ist - angespornt von dem erotischen Reiz des verboten Sex.

Wie vorherzusehen war, argumentieren einige Anhänger Roehlers, dass seine völlige Missachtung historischer Tatsachen im Gefolge anderer neuerer Filme über die Nazi-Vergangenheit - vor allem Quentin Tarantinos Inglourious Basterds - gerechtfertigt sei. Ein grandioses Argument...

Fortsetzung folgt

Siehe auch:
Roman Polanskis Der Ghostwriter - eine neue Version von Metropolis
und andere Fragen (27. Februar 2010)
http://www.wsws.org/de/2010/feb2010/berl-f27.shtml

59. Berlinale: Ein alarmierendes Zurückbleiben hinter der Zeit
(28. Februar 2009)
http://www.wsws.org/de/2009/feb2009/berl-f28.shtml


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Quelle:
World Socialist Web Site, 04.03.2010
60. Berlinale - Teil 3
"Moloch Tropical" und "Jud Süß: Film ohne Gewissen"
http://wsws.org/de/2010/mar2010/ber3-m04.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. April 2010