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GLEICHHEIT/2885: Katastrophale Zustände und Zwei-Klassen-Medizin in Krankenhäusern


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Katastrophale Zustände und Zwei-Klassen-Medizin in Krankenhäusern

Von Werner Albrecht und Dietmar Henning
23. Januar 2010


Ein 65-jähriger Japaner starb vor nicht ganz einem Jahr nach einem Herzinfarkt, weil ihm in sieben Kliniken wegen "Überlastung und Ärztemangel" die Behandlung verweigert wurde. Er war nicht das erste solche Todesopfer in Japan.

Dies ist in Deutschland nicht möglich? Es ist wohl eher eine Frage der Zeit. Auf jeden Fall reifen die Bedingungen für solche Zustände an Krankenhäusern in Deutschland rasch heran. Die ständigen Kürzungen in der Gesundheitsversorgung, speziell bei den Krankenhäusern, haben schon jetzt eine katastrophale Situation für die arbeitende Bevölkerung entstehen lassen.

Letztes Wochenende berichtete der Präsident der Bundesärztekammer Jörg-Dietrich Hoppe, dass es in Deutschland bestimmte medizinische Leistungen nicht mehr für jeden Patienten gebe. "Nicht jeder Krebspatient bekommt heute das sehr teure Krebsmedikament", sagte er gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Aufgrund des Budgetdrucks entschieden Ärzte und Krankenhäuser, bei welchem Patienten sich eine teure individuelle Behandlung besonders lohne. "Im deutschen Gesundheitswesen wird heimlich rationiert, weil nicht genügend Geld zur Verfügung steht, um allen Menschen die optimale Therapie zu verschaffen. Der Patient erfährt davon in der Regel nichts", so Hoppe.

Der Berliner Tagesspiegel berichtete kurz vor Weihnachten über den Fall eines seiner Angestellten. Dieser hatte sich beim Fußballspielen die Hand gebrochen und war von seinem niedergelassenen Arzt an die Abteilung für Handchirurgie des Auguste-Viktoria-Krankenhauses überwiesen worden. Vergeblich versuchte er telefonisch einen Termin zu vereinbaren. "Die Sekretärin fragte mich in beiden Fällen, ob ich privat versichert sei. Als ich verneinte, sagte sie jedes Mal, es sei kein Termin frei, und nannte mir zwei alternative Krankenhäuser", berichtete der Patient. "Auf meine Gegenfrage, ob ein Termin für mich frei wäre, wenn ich privat versichert wäre, meinte die Sekretärin, dann müsse sie den Professor fragen. Das sei eine Anordnung von ihm."

Der Volksmund sagt: "Gesundheit ist das höchste Gut". Die Realität 2010 heißt: "Gesundheit ist eine Ware". Die in langen Auseinandersetzungen und Kämpfen vergangener Zeiten von der Arbeiterklasse errungenen gesundheitspolitischen Fortschritte und Errungenschaften wurden gerade in den letzten Jahren ständig dezimiert, so dass hektisches Pflegepersonal, das kaum noch Zeit für Patienten übrig hat, lange Wartezeiten auf Untersuchungen, oder Ärzte, die so gut wie nie zu sprechen sind, schon fast zur alltäglichen Erfahrung der gesetzlich Krankenversicherten zählen.

Als unbestrittene Tatsache gilt, dass durch die Fortschritte in der Medizin immer mehr Menschen gerettet werden können, die noch bis vor gar nicht allzu langer Zeit als "unheilbar" oder "aussichtslose Fälle" galten. Doch gleichzeitig verkommen Krankenhäuser zu immer unmenschlicheren "Reparaturbetrieben".

In einer Fernsehreportage mit dem Titel: "Die Krankenfabrik, Patienten in Not - Schwestern am Limit", wurde aufgezeigt, wie die "Pflege am Fließband" zu drastischen Zuständen in einer großen deutschen Klinik führte. "Zehn Minuten für 15 Patienten: beim Waschen helfen, Essen und Medikamente verteilen", dazu noch "Visite und Gespräche mit Ärzten, Stationsleitung und die Mitarbeiterführung sowie die Dokumentation der Patientenakten gehören auch noch zu ihrem Job. Jeden Tag, in Früh-, Spät- oder Nachtschicht. Pflege am Fließband."

Die Krankenschwestern und -pfleger seien überlastet, die Patienten dadurch gefährdet. Schwestern und Pfleger haben häufig keine Zeit für Pausen, um etwas zu essen oder zu trinken. Überstunden, Übermüdung und Überarbeitung sind an der Tagesordnung.

Seit Mitte der 1990er Jahre sind rund 300 Krankenhäuser geschlossen worden, die Zahl der Betten sank um ein Viertel auf ca. 500.000. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft schätzt, dass in Deutschland bis 2014 die Zahl der Krankenhäuser auf unter 1.900 sinken wird. Dennoch sind mehr Patienten zu versorgen. Rund 17 Millionen Patienten zählen die etwa momentan 2.100 Krankenhäuser jedes Jahr. Wollte man die gleiche Versorgungsqualität in deutschen Krankenhäusern wie Mitte der 1990er Jahre erreichen, dann wäre es aktuell erforderlich, 70.000 zusätzliche Pflegekräfte einzustellen, rechnet der Gesundheitswissenschaftler Professor Michael Simon von der Fachhochschule Hannover vor. Würde man ein Verhältnis von Pflegekraft zu Einwohnern wie in Finnland, Frankreich, Irland, Österreich, der Schweiz oder den USA zugrunde legen, müssten sogar 150.000 Krankenschwestern und -pfleger eingestellt werden.

Doch obwohl die Zahl der Krankenhauspatienten seit Jahrzehnten kontinuierlich steige, würden seit Mitte der 1990er Jahre Stellen im Pflegedienst der Krankenhäuser in ganz erheblichem Umfang abgebaut werden. Die Folge davon sei, so der Wissenschaftler, dass immer weniger Pflegekräfte immer mehr Patienten versorgen müssen.

Durch Überlastung der Pflegekräfte bleibt nach seiner Argumentation nicht nur weniger Zeit für menschliche Zuwendung. Überdies belegten zahlreiche internationale Studien, dass eine Unterbesetzung im Pflegedienst das Risiko für Krankenhauspatienten erhöht, schwere Komplikationen zu erleiden oder daran unter Umständen sogar zu sterben.

Nach Schätzungen kommen durch Infektionen, Behandlungsfehler, Stürze und andere "unerwünschte Ereignisse" jedes Jahr zwischen einer Million und 1,7 Millionen Krankenhaus-Patienten in Deutschland zu Schaden.

Allein bis zu 100.000 Menschen sterben nach Berechnungen der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) bundesweit jährlich an Infektionen, die sie sich im Krankenhaus geholt haben. Anders als in anderen Ländern wie etwa den Niederlanden, sind Hygiene-Fachkräfte in Deutschland nicht gesetzlich vorgeschrieben. Bislang seien diese nur in 60 Prozent der deutschen Krankenhäuser zu finden, lediglich fünf Prozent der Kliniken hätten einen eigenen Facharzt für Hygiene. Doch die Bestellung eines "Hygiene-Beauftragten" reiche nicht aus, sagte DGKH-Sprecher Klaus-Dieter Zastrow. "Wir benötigen bestens ausgebildetes Fachpersonal, wie den Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin und Hygienefachpflegekräfte in ausreichender Zahl."

Der Spiegel-Redakteur Udo Ludwig regt in seinem Buch "Tatort Krankenhaus" zu Diskussionen über Missstände in Krankenhäusern an und spricht vom enormen Zeit- und Spardruck, von Eitelkeit, Geldgier und Leichtsinn und daraus resultierenden, oft folgenschweren Behandlungsschäden. Er geht allein von rund 400.000 Patienten aus, die in Krankenhäusern Behandlungsfehler erleiden.

Die Ursache des gesamten Übels und der teilweise chaotischen Zustände in den Krankenhäusern ist - wie beim gesamten Gesundheitssystem - die schleichende Privatisierung der Krankenhäuser und deren Unterordnung unter den Markt.

In erster Linie wäre das im Jahr 2004 unter der rot-grünen Bundesregierung von Gerhard Schröder (SPD) eingeführte so genannte DRG-System als ein einschneidendes Ereignis zu benennen. Das DRG-System (Diagnosis Related Groups, zu deutsch: Diagnosebezogene Fallgruppen) ersetzt die vorherigen individuell verhandelten Pflegesätze durch eine einheitliche diagnoseabhängige Pauschalvergütung für jeden Behandlungsfall (das so genannte Fallpauschalensystem). Unabhängig vom tatsächlichen Aufwand erhalten die Kliniken alle denselben Betrag für eine Krankheit inklusive Operation, Untersuchung und Pflege. Komplikationen oder "schwierige" Genesungsverläufe sind sofort ein Kostenproblem für das einzelne Krankenhaus. Oder, wie es Udo Ludwig ausdrückt: "Wer bei der Behandlung spart, wer also weniger Personal und Hilfsmittel einsetzt, der verdient gut." Im Umkehrschluss bedeute das entweder weniger Sorgfalt und Fürsorgepflicht gegenüber den Patienten oder geringere Verdienstmöglichkeiten.

Das DRG-System und seine ausschließliche Ausrichtung an ökonomischen Maßstäben haben zudem zahlreiche weitere Nebeneffekte. So sinkt die Verweildauer in Krankenhäusern. In den letzten 20 Jahren sank sie um fast die Hälfte, nämlich von 14 auf rund 8 Tage pro Fall, seit 2004, der Einführung des DRG-Systems um 0,4 Tage innerhalb von drei Jahren (aktuellste Zahlen aus 2007).

Ein weiterer Versuch, die Kosten zu senken, geschieht durch die Auswahl von Patienten, die ausreichende Einnahmen bei geringen Kosten erwarten lassen. Nicht zuletzt werde laut Kritikern versucht, Leistungen in die nachstationäre ambulante Versorgung zu verlagern, ein Umstand, der zynisch mit "Blutige Entlassung" bezeichnet wird. Dass sich hier mitunter ein "Einfallstor" für weitere gesundheitliche Schädigungen öffnet, kann wohl kaum bestritten werden. Insbesondere Universitätskliniken werden zunehmend in andere Rechtsformen überführt, etwa als Anstalt des öffentlichen Rechts. So können die Löhne und Gehälter der Krankenhausbeschäftigten mit Hilfe von Haustarifverträgen gedrückt werden.

Trotz aller Einsparungen auf dem Rücken der Krankenhausbeschäftigten und Patienten, wird es dennoch zu weiteren zahlreichen Insolvenzen von Krankenhäusern kommen. Dies wird die flächendeckende Versorgung noch weiter gefährden, insbesondere in Ostdeutschland und in ländlichen Gebieten, wo ohnehin schon überdurchschnittlich viele Krankenhäuser und -betten geschlossen bzw. abgebaut worden sind.

Drei von zehn Krankenhäusern sind bereits von den Gemeinden, Kreisen und den Ländern an private Krankenhausketten verkauft worden - Tendenz steigend.

Dies sind die Rahmenbedingungen, die dazu führen, dass nicht jedem Patienten die bestmögliche Behandlung zugute kommt, sondern dass Behandlungen und Therapien erst nach einer Kosten-Nutzen-Abwägung eingeleitet werden, wie dies Bundesärztekammer-Präsident Hoppe am letzten Wochenende öffentlich machte.

Diese Debatte über die so genannte Priorisierung medizinischer Leistungen ist schon mehrfach versucht worden zu entfachen. Erinnert sei nur an den damaligen Bundesvorsitzenden der Jungen Union (JU), Philipp Mißfelder, der 2003 forderte, dass etwa Alte nicht mehr in den Genuss künstlicher Hüftgelenke kommen sollten. Heute ist Mißfelder Mitglied im Präsidium der CDU und leitet seit 2008 gemeinsam mit dem Bundesvorsitzenden der Senioren-Union Professor Dr. Otto Wulff den Initiativkreis der CDU "Zusammenhalt der Generationen".

Die Feststellung des 112. Deutschen Ärztetags im letzten Jahr, "in Zeiten von Priorisierung im Gesundheitswesen ist eine Privatisierung öffentlicher Versorgungseinrichtungen mit dem Ziel der Gewinnmaximierung von den Ärzten in Deutschland nicht mehr zu dulden", dürfte nicht mehr als ein frommer Wunsch sein.

Nicht der Arzt und sein Eid auf Hippokrates, sondern der Manager mit seiner Gewinn- und Verlust-Rechnung bestimmt das Handeln im Krankenhaus.

Siehe auch:
Bundesregierung bereitet Zwei-Klassen-Medizin vor
(19. Januar 2010)

Gesundheitsreform - Systemwandel zu Lasten der
arbeitenden Bevölkerung (26. August 2006)

Niederlande: Neun Monate seit Abschaffung der
gesetzlichen Krankenversicherung (28. September 2006)

Gesundheit als Ware - Die Gesundheitsreform 2000
(26. Juni 1999)


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Quelle:
World Socialist Web Site, 23.01.2010
Katastrophale Zustände und Zwei-Klassen-Medizin in Krankenhäusern
http://wsws.org/de/2010/jan2010/kran-j23.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Januar 2010