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GLEICHHEIT/2834: Kundus - Darf die Bundeswehr gezielt töten?


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Kundus: Darf die Bundeswehr gezielt töten?

Von Peter Schwarz
16. Dezember 2009


Die Bundesregierung, aber auch die Oppositionsparteien, haben die Öffentlichkeit wochenlang über die wahren Hintergründe des Luftangriffs belogen, der am 4. September in der Nähe der afghanischen Stadt Kundus bis zu 142 Menschenleben forderte.

Inzwischen steht fest, dass Bundeswehroberst Georg Klein den Angriffsbefehl mit der ausdrücklichen Absicht erteilte, die zahlreichen Menschen zu töten, die sich im Umfeld zweier entführter Tanklaster befanden, die auf einer Sandbank feststeckten. Der Bundesregierung war dies von Anfang an bekannt, und den Oppositionsparteien im Bundestag spätestens seit dem 3. November. Trotzdem behaupteten sie bis zum vergangenen Wochenende, der Bombenangriff habe den Tanklastern gegolten und die zahlreichen Toten seien lediglich ein ungewollter Kollateralschaden gewesen.

Oberst Klein hatte noch in der Nacht des Angriffs einen Bericht verfasst, in dem es unmissverständlich heißt: "Am 4. September um 1 Uhr 51 entschloss ich mich, zwei am Abend des 3. September entführte Tanklastwagen sowie an den Fahrzeugen befindliche INS durch den Einsatz von Luftstreitkräften zu vernichten." Mit INS (Insurgents) waren Aufständische gemeint. Weiter unten erklärte Klein noch deutlicher, er habe das Bombardement befohlen, um "Feinde des Wiederaufbaus zu treffen".

Dieser Bericht lag am folgenden Tag auf dem Schreibtisch des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Jung (CDU). Dieser behauptete trotzdem, Ziel der Bomben seien die beiden festgefahrenen Tanklaster gewesen, durch deren Zerstörung Klein ein drohendes Selbstmordattentat auf das sieben Kilometer entfernte deutsche Feldlager habe verhindern wollen. Jung leugnete auch hartnäckig, dass der Angriff zivile Opfer gefordert habe, obwohl Berichte von Journalisten, lokalen Behörden und US-Militärs längst das Gegenteil belegten.

Wenige Tage später äußerte sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Regierungserklärung zum Luftangriff von Kundus und verwahrte sich in ungewöhnlicher Schärfe gegen jede Kritik aus dem Inland und dem Ausland.

Am 28. Oktober präsentierte dann die Nato einen offiziellen Bericht, der die Unterschrift von Isaf-Kommandeur Stanley McChrystal trägt. Auch daraus geht eindeutig hervor, dass der Angriff den umstehenden Menschen und nicht den Lastwagen galt.

Demnach erhielt Oberst Klein kurz nach Mitternacht die Information, bei den Tankwagen hielten sich etwa 80 Taliban-Kämpfer und "mehrere bekannte Taliban-Anführer" auf. Darauf habe er den Angriffsbefehl erteilt. "Er hat die Menschen als Ziel, nicht die Fahrzeuge", stellt der Bericht dazu fest und kritisiert: "Der Einsatz von Luftunterstützung zur Bekämpfung großer Menschenansammlungen, ohne dass es eine unmittelbare Bedrohung für die eigenen Kräfte vorliegt, steht nicht im Einklang mit den Absichten und Weisungen des Isaf-Kommandeurs."

Auf diesen Bericht stützte sich Jungs Nachfolger Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), als er den Luftangriff eine Woche nach seinem Amtsantritt am 6. November öffentlich verteidigte. Er wusste also, dass der Angriff der versammelten Menschenmenge gegolten hatte. Trotzdem bezeichnete er ihn als "militärisch angemessen" und behauptete sogar, es hätte selbst dann zu einem Luftschlag "kommen müssen", wenn Klein nicht - wie im Nato-Bericht festgehalten - Verfahrensfehler begangen hätte.

Auch die führenden Vertreter der Bundestagsfraktionen kannten mittlerweile den Isaf-Bericht, sogar in deutscher Übersetzung, wie Guttenberg kürzlich bekannt gab. Doch die Öffentlichkeit wurde weiterhin über die wahren Hintergründe des Angriffs im Dunkeln gelassen.

Erst drei Wochen später gelangten neue Einzelheiten ans Licht. Die Bild-Zeitung enthüllte anhand eines am 9. September durch Feldjäger erstellten Berichts, dass die Bundeswehr frühzeitig von zivilen Opfern gewusst hatte. Minister Jung, der mittlerweile ins Arbeitsressort gewechselt war, trat daraufhin zurück und Guttenberg entließ Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan und Verteidigungs-Staatssekretär Peter Wichert. Zur Begründung führte er an, sie hätten ihm diesen und andere Berichte vorenthalten - was mittlerweile beide bestreiten.

Guttenberg "korrigierte" nun seine Einschätzung des Luftangriffs. Vor dem Bundestag erklärte er, dieser sei militärisch nicht angemessen gewesen. Er stellte sich aber trotzdem vor Oberst Klein, dem er bescheinigte, er habe "zweifellos nach bestem Wissen und Gewissen" gehandelt. Den Uniformträgern auf der Zuschauertribüne versicherte Guttenberg wiederholt, er werde Klein "nicht fallen lassen".

Ende vergangener Woche veröffentlichten schließlich der Spiegel und die Süddeutsche Zeitung Auszüge aus dem Bericht Kleins und dem Nato-Bericht, die das bisherige Lügengebäude teilweise zum Einsturz brachten. Auch Guttenberg musste nun zugeben, dass der Luftangriff auf die umstehenden Menschen zielte und dass er dies seit seinem Amtsantritt gewusst hatte.

Die Bundesregierung hatte triftige Gründe dafür, die Öffentlichkeit wochenlang in die Irre zu führen. Das Massaker von Kundus bedeutet eine Zäsur in der Geschichte der Bundeswehr und rührt an ihr politisches Selbstverständnis. Es wirft grundlegende rechtliche, politische und historische Fragen auf, die die Bundesregierung nicht öffentlich diskutieren will, weil sie für ihre Haltung keine Mehrheit hat.

Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und den Verbrechen der Wehrmacht gibt es in Deutschland bis heute eine weit verbreitete Abscheu gegen Militarismus und Krieg. Die Bundeswehr konnte 1955 nur gegen massiven öffentlichen Widerstand und unter strengen Vorbehalten gegründet werden. Sie galt als reine Verteidigungsarmee, die der Kontrolle des Parlaments untersteht und der ständigen demokratischen Legitimation bedarf.

Bis zur deutschen Wiedervereinigung galten Einsätze der Bundeswehr außerhalb des Nato-Territoriums als verfassungswidrig. Als dieses Verbot in den 1990er Jahren aufgeweicht wurde und schließlich fiel, wurden die Auslandseinsätze als Friedensmissionen dargestellt. Auch die Isaf, die auf einem UN-Mandat beruht, gilt offiziell als Sicherheits- und Aufbaumission, die die gewählte Regierung Afghanistans bei der Herstellung und Aufrechterhaltung eines sicheren Umfelds unterstützen soll. Der Bombenabwurf in eine Menschenmenge und die gezielte Tötung von Gegnern lassen sich damit nicht vereinbaren.

Verteidigungsminister Guttenberg hat auf den Zusammenbruch seines Lügengebäudes reagiert, indem er die Flucht nach vorn antritt. Am Wochenende gab er zahlreiche Interviews und trat in mehreren Talkshows auf. Rücktrittsforderungen lehnte er dabei kategorisch ab. "Ich werde definitiv, auch wenn's mal stürmt, stehen bleiben. So bin ich erzogen worden - und so will ich das auch handhaben", sagte der Adelsspross dem Fernsehsender RTL.

In der Bild am Sonntag setzte er sich für "realistischere Regeln" für die Bundeswehr in Afghanistan ein. Was bisher in einer rechtlichen Grauzone geschah, soll nun offiziell legitimiert werden. Er habe wiederholt darauf hingewiesen, dass es in Afghanistan "kriegsähnliche Zustände" gebe, in solchen Situationen sei der "Einsatz der Waffe auch gegenüber Menschen nicht auszuschließen", sagte Guttenberg. Für Soldaten wäre es "nur schwer nachvollziehbar, wenn sie trotz mandatskonformen Verhaltens mit strafrechtlichen Verfahren rechnen müssten".

Politikern der SPD und der Grünen, die seinen Rücktritt forderten, hielt Guttenberg entgegen, sie hätten bereits seit dem 3. November gewusst, dass Taliban das Ziel der Bombardierung waren. Er nehme "Rote und Grüne in Mithaftung", kommentierte das die Süddeutsche Zeitung. Seine Botschaft an die Opposition laute: "Ihr sitzt im selben Boot."

Kritiker versucht Guttenberg einzuschüchtern, indem er ihnen mit dem Zorn der Truppe droht. Er bedient sich dabei der altbekannten Methode, Kriegsgegner als Gegner der Soldaten darzustellen, die im Krieg ihr Leben riskieren. So erklärte er der Bild am Sonntag, die Soldaten bräuchten "aus der Heimat volle Unterstützung" sowie "Schutz und Rechtssicherheit".

Am vergangenen Freitag nahm Guttenberg sämtliche Obleute des Verteidigungsausschusses mit zu einem Kurzbesuch ins deutsche Feldlager in Kundus. Er warb dort, wie es offiziell hieß, um das Verständnis der Soldaten für den Untersuchungsausschuss, zu dem sich das Bundestagsgremium am heutigen Mittwoch konstituiert. Zugleich warnte er, wie die Bundeswehr ergänzte, vor einer Diskreditierung der Soldaten durch die Arbeit des Ausschusses. Die Presse war von dem Treffen ausgeschlossen.

Diese Warnung an ein demokratisch gewähltes Gremium im Namen der Armee hat einen Beigeschmack von Militärdiktatur.

In den Medien hat inzwischen die Auseinandersetzung darüber begonnen, ob das gezielte Töten Aufständischer rechtlich zulässig sei. Während Heribert Prantl, innenpolitischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung und ausgebildeter Jurist, zum Schluss gelangt, sowohl das gezielte Töten von Gegnern wie auch die Inkaufnahme ziviler Opfer verstößen eindeutig gegen geltendes Recht, vertritt der Rechtsexperte der Grünen-nahen taz die entgegengesetzte Auffassung. Das Isaf-Mandat des Bundestags und die Einsatzregeln der Isaf erlaubten das gezielte Töten gegnerischer Kämpfer, behauptet Christian Rath. Deutsche Vorbehalte gegen die Isaf-Regeln, die den Einsatz tödlicher Gewalt nur zur Abwehr eines Angriffs erlauben, seien von der Bundeswehr bereits im April stillschweigend zurückgenommen worden.

Auch die konservative FAZ ist der Auffassung, "Deutschland befinde sich in Afghanistan in einem kriegsartigen Einsatz, weshalb es für die Bundeswehr grundsätzlich zulässig sei, gezielt gegnerische Kämpfer zu töten".

Im Sommer hatte die Bundesregierung die so genannten "Taschenkarte" geändert, die für die Soldaten "die Grundsätze für die Anwendung militärischer Gewalt" zusammenfasst. Es gibt Hinwese, dass diese Änderung Oberst Klein darin bestärkt hat, den Angriff zu befehlen. So zitiert die Leipziger Volkszeitung eine anonyme Quelle aus dem Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam mit den Worten, Oberst Klein "dürfte sich nach diesen jüngsten Regierungsvorgaben regelrecht ermutigt gefühlt haben, einmal kräftig durchzugreifen".

Von großer Bedeutung wird die Entscheidung der Bundesanwaltschaft sein, die derzeit gegen Oberst Klein ermittelt. Stellt sie die Ermittlungen ein oder endet ein Verfahren mit Freispruch, käme dies einem Freibrief zum Töten für die Bundeswehr gleich.

Klein hat nämlich die Entscheidung, über hundert Leute umzubringen, auf einer denkbar schmalen Beweisgrundlage getroffen. Laut den bisher zugänglichen Informationen stützte er sich auf einen einzigen Informanten in der Nähe der beiden Lastwagen, der wiederum über zwei Vermittler - einen Dolmetscher und einen eigenen Mittelsmann - mit ihm kommunizierte. Dieser Informant soll Klein versichert haben, dass sich nur "Taliban" in der Umgebung der Tankwagen befanden.

Diese Information - wenn es sie dann gab - war falsch. Inzwischen ist erwiesen, dass sich auch Kinder und Zivilisten unter den Opfern befanden. Die Abgrenzung zwischen "Taliban" und Zivilisten ist ohnehin alles andere als eindeutig. Aus Berichten des Spiegel, der unter den Opfern des Angriffs recherchierte, ist der Übergang zur Dorfbevölkerung fließend. Offenbar leisten auch zunehmend Dorfbewohner Widerstand gegen die Besatzer. So zitiert das Nachrichtenmagazin den afghanischen Geheimdienstler Mohammed Daud Ibrahimi mit den Worten: "Die Leute, gegen die wir nachts kämpfen, sind tagsüber brave Farmer, ihre Gewehre verstecken sie im Schrank."

Positiv über das deutsche Vorgehen äußern sich in der Regel nur Regierungsvertreter, die dem korrupten Karzai-Regime nahe stehen.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 16.12.2009
Kundus: Darf die Bundeswehr gezielt töten?
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Dezember 2009