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GLEICHHEIT/2754: Eine Regierung der sozialen Konfrontation


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Eine Regierung der sozialen Konfrontation

Von Ulrich Rippert
28. Oktober 2009


Die neue Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP, die am heutigen Mittwoch vereidigt wird, bereitet massive Angriffe auf Sozialstandards und demokratische Rechte vor. Schon in den vergangenen Jahren, unter Rot-Grün und der anschließenden Großen Koalition, waren die sozialen Leistungen stark abgebaut worden. Nun soll auch noch zerschlagen werden, was vom Sozialstaat übrig geblieben ist.

Vier Wochen haben die Regierungsparteien über einen Koalitionsvertrag verhandelt. Heraus kam ein Dokument, das in jedem gesellschaftlichen Bereich die Interessen der Wirtschaft und der Reichen in den Mittelpunkt stellt. Alle sozialen Kosten, die von den Unternehmen getragen werden, gelten als Wettbewerbshindernis und werden zur Disposition gestellt. Unter der Parole: "Wirtschaftswachstum fördern!" wird die seit Jahren anhaltende soziale Umverteilung von unten nach oben drastisch beschleunigt.

Alle Regierungsparteien sind sich darin einig, die Last der Wirtschaftskrise und der staatlichen Verschuldung, die mit dem Bankenrettungspaket von 480 Milliarden Euro und den folgenden Konjunkturprogrammen drastisch gestiegen ist, auf die Bevölkerung abzuwälzen.

Um nicht sofort Widerstand zu provozieren, wurde die Koalitionsvereinbarung in vielen Fragen sehr allgemein gehalten. Eine der häufigsten Formulierungen lautet: "Wir streben an." Die Ausarbeitung der sozialen Grausamkeiten wird "Experten" in den einzelnen Ministerien überlassen.

Bereits Anfang kommenden Jahres soll mit einer Unternehmensteuerreform begonnen werden, deren Einzelheiten in einem "Wachstumsbeschleunigunggesetz" festgelegt werden sollen. Spätestens im darauf folgenden Jahr werden dann die Geldgeschenke an die Wirtschaft unter Hinweis auf die kürzlich in der Verfassung verankerte "Schuldenbremse" auf Kosten der Öffentlichkeit wieder eingespart.

Über die Forderung der FDP nach Abschaffung der Gewerbesteuer, der wichtigsten Einnahmequelle der Kommunen, ist zwar noch nicht endgültig entschieden. Die Regierung will aber eine Kommission beauftragen, Vorschläge für eine Neuordnung der Gemeindefinanzen auszuarbeiten. Mehrere Ministerpräsidenten haben sich bereits zu Wort gemeldet und vor einem Eingriff der Regierung in die Kommunalfinanzen gewarnt. Sie befürchten, dass die ohnehin hoch verschuldeten Städte und Kommunen in den vollständigen Bankrott mit dramatischen Konsequenzen für die Versorgung der Bevölkerung getrieben werden.

Wie einem Patienten vor einer Amputation Beruhigungsmittel verabreicht werden, so sieht auch der Koalitionsvertrag einige Beruhigungspillen für die Bevölkerung vor. Dazu gehört die Ankündigung, das Kindergeld von gegenwärtig 164 Euro im Monat um zwanzig Euro zu erhöhen. Darüber hinaus heißt es: "Wir streben eine Steuerentlastung der kleinen und mittleren Einkommen sowie für Familien und Kinder an", die ab 2011 schrittweise umgesetzt werden soll.

Auch diese Maßnahmen kommen in erster Linie Besserverdienenden zugute. Sie können den ebenfalls erhöhten Kinderfreibetrag geltend machen und damit Steuerbeträge einsparen, die weit höher sind als die 20 Euro zusätzliches Kindergeld. Von Steuerentlastungen profitieren viele Geringverdiener gar nicht, da ihre Einkommen unter dem Steuerfreibetrag liegen. Dafür werden Familien mit geringem Einkommen umso stärker vom Anstieg der Sozialabgaben betroffen, der ausschließlich von den Arbeitnehmern getragen und sukzessive in Richtung einer Kopfpauschale umgestellt werden soll. Auch von der Erhöhung der Wasser- und Strompreise, die wegen der Einführung der Mehrwertsteuer für öffentliche Dienstleistungsunternehmen droht, werden sie besonders hart betroffen.

Zahlreiche Modellrechnungen zeigen, dass ärmere Familien in Zukunft stärker belastet und nur gut verdienende leicht entlastet werden, falls die Versprechen des Koalitionsvertrags eingehalten werden. Das ist aber fraglich, denn eine seiner wichtigsten Aussagen lautet: "Alle Maßnahmen des Koalitionsvertrages stehen unter Finanzierungsvorbehalt".

Während die Koalitionsvereinbarung in vielen Details vage bleibt und sich auf Absichtserklärungen beschränkt, lässt die Besetzung der Ministerien keinen Zweifel daran, wohin die Reise geht. Mit fünf Ministerien (Außen, Wirtschaft, Justiz, Gesundheit und Entwicklungshilfe) ist die FDP sehr stark am Kabinettstisch vertreten. Daneben beschränkt sich die CSU auf drei und die CDU auf sieben Ministerien.

Eine der wichtigsten Personalentscheidungen betrifft Wolfgang Schäuble (CDU). Der bisherige Innenminister der Großen Koalition wechselt an die Spitze des Finanzministeriums. Der 67-Jährige sitzt seit 1972 im Bundestag und gehörte als einziges Kabinettsmitglied bereits vor der Wiedervereinigung der Bundesregierung an. Vor 1989 war er unter Helmut Kohl Chef des Kanzleramts. Während der Wende amtierte er erstmals als Innenminister und handelte den Vereinigungsvertrag aus.

In seiner zweiten Amtszeit als Innenminister sorgte er dann in den letzten vier Jahren für eine systematische Ausweitung der Befugnisse von Polizei und Geheimdiensten und strebte den Einsatz der Bundeswehr im Inneren an, während er gleichzeitig den Überwachungsstaat ausbaute und Bürgerrechte einschränkte.

Schäuble ist ein erfahrener Vertreter des Staatsapparats, der das volle Vertrauen der Wirtschaft besitzt. Er wird sich nicht scheuen, auch gegen massiven Widerstand aus der Bevölkerung drastische Sparmaßnahmen und Einschnitte im Sozialsystem durchzusetzen. In vielen Medien wurde sein Berufung zum künftigen Finanzminister mit der Bemerkung begrüßt, er sei für den Posten eine "Idealbesetzung", weil er über politische Erfahrung und Durchsetzungskraft verfüge und nichts mehr zu verlieren habe. So kommentierte die britische Financial Times, die Kanzlerin habe das wichtige Ministerium in die Hände eines erfahrenen Verbündeten gelegt, "der nicht davor zurückschrecken wird, unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen".

Schäuble selbst machte bereits in seinen ersten Stellungsnahmen deutlich, dass er einschneidende Sparmaßnahmen in Staat und Wirtschaft für unumgänglich hält.

Eine zweite richtungweisende Personalentscheidung ist die Besetzung des Gesundheitsministeriums mit dem FDP-Aufsteiger Philipp Rösler. Der 36-Jährige ist der Jüngste am Kabinettstisch und vertritt eine Schicht von privilegierten Emporkömmlingen, die die gesetzlichen Sozialversicherungen und das damit verbundene Solidarprinzip als unzumutbare Einschränkung ihrer persönlichen Bereicherung betrachten.

Rösler ist ausgebildeter Arzt und hat seine Karriere in einer Partei gemacht, die sich hemmungslos mit der Pharma-, Ärzte- und Apothekerlobby identifiziert. Seine Ernennung zum Gesundheitsminister bedeutet, dass die Regierung auf die Zerschlagung der gesetzlichen Sozialversicherungen zusteuert. Die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung sollen in ein "kapitalgedecktes" Privatmodell überführt werden, in dem die Versicherten je nach Geldbeutel "selbst entscheiden können", was und wie sie etwas versichern. "Unbürokratisch ausgestaltete Selbstbeteiligungen sind für ein kosten- und gesundheitsbewusstes Verhalten unerlässlich."

Im Wahlprogramm der FDP ließt sich das folgendermaßen: "Wir setzen Eigenverantwortung gegen die Bevormundung durch die bürokratischen Auswüchse des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates. Wir sind für den liberalen Sozialstaat. Die zentrale Staatsaufgabe ist nicht die Schaffung absoluter Gleichheit, sondern die Sicherung von Chancen- und Leistungsgerechtigkeit für alle Menschen. [...] Die Politik der staatlich verordneten Gleichheit hat bisher immer zu Unfreiheit geführt."

Ebenfalls von Bedeutung ist der Wechsel Karl-Theodor zu Guttenbergs (CSU) vom Wirtschafts- ins Verteidigungsministerium, das angesichts der wachsenden Bedeutung internationaler Bundeswehreinsätze zu einer Art zweitem Außenministerium mutiert. Der 38-jährige Freiherr stammt väterlicher- und mütterlicherseits von mehreren Adelsgeschlechtern ab, die eng mit der Tradition des deutschen Militarismus verbunden sind. Seine Ehefrau ist eine Gräfin von Bismarck-Schönhausen. Seine Mutter Christiane, Tochter eines Grafen von Eltz und engen Vertrauten des früheren kroatischen Präsidenten FranjoTudjman, heiratete in zweiter Ehe Adolf Henkell-von Ribbentrop, den Sohn von Hitlers Außenminister, der damit zu Guttenbergs Stiefvater wurde.

Bereits während der Koalitionsverhandlungen wurden Konflikte innerhalb der neuen Regierung und innerhalb der Koalitionsparteien deutlich. Die Süddeutsche Zeitung titelte am Dienstag: "Die Koalition startet - der Streit ist schon da." Die Unterzeichnung des Koalitionsvertrages sei von heftigen Konflikten über die Steuer- und Gesundheitspolitik überschattet gewesen.

Es wäre aber falsch, aus den internen Konflikten der Regierung abzuleiten, sie werde die geplanten Angriffe nicht durchsetzen. Die Stärke der Merkel-Westerwelle-Koalition entspringt weniger ihrer eigenen Kraft und Geschlossenheit, als dem Fehlen jeder ernst zu nehmenden Opposition. SPD, Grüne und Linkspartei haben alle auf ihre Weise deutlich gemacht, dass sie mit den grundlegenden Zielen der neuen Regierung übereinstimmen.

In Thüringen und im Saarland haben sich die SPD, bzw. die Grünen in dieser Woche mit großer Mehrheit für eine Koalition mit der CDU entschieden und Kanzlerin Merkel damit unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie auf ihre Unterstützung zählen kann. Die Linkspartei hat in Brandenburg einen Koalitionsertrag mit der SPD unterzeichnet, dessen Kernpunkt der Abbau jedes fünften Arbeitsplatzes im öffentlichen Dienst ist - eine Aufgabe, der die CDU angesichts des zu erwartenden Widerstands kaum gewachsen wäre.

Auch die Gewerkschaften haben der neuen Regierung bereits ihre Zustimmung signalisiert. Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ingrid Sehrbrock stimmte auf dem CDU-Parteitag für den Koalitionsvertrag. Und der Chef der IG Metall, Berthold Huber, kündigte einen Tag nach Unterzeichung des Koalitionsvertrags an, seine Gewerkschaft werde Zurückhaltung bei den Löhnen üben. "Ich sehe im Moment nicht, dass wir hohe Lohnforderungen stellen werden", sagte er. Die Süddeutsche Zeitung folgerte: "Damit sendet der Gewerkschafter ein klares Signal vor allem an die neue Bundesregierung."

Hinter der neuen Regierung steht eine All-Parteien-Koalition, unterstützt von den Gewerkschaften. Das ermutigt Merkel, Westerwelle, Schäuble und Co. zu einem Generalangriff auf die Sozialsysteme und den Lebensstandard der Bevölkerung. Die Arbeiterklasse muss sich auf heftige politische Kämpfe vorbereiten und die notwendigen Konsequenzen ziehen. Sie braucht eine neue Partei, die sie in die Lage versetzt, unabhängig von den etablierten Parteien und Gewerkschaften ins politische Geschehen einzugreifen.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 28.10.2009
Eine Regierung der sozialen Konfrontation
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Oktober 2009