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GLEICHHEIT/2351: Italien - Flüchtlinge rebellieren gegen Internierungslager


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Herausgegeben vom Internationalen Kommitee der Vierten Internationale (IKVI)

Italien: Flüchtlinge rebellieren gegen Internierungslager

Von Marianne Arens
29. Januar 2009


Auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa brachen am Samstag rund 650 afrikanischen Flüchtlinge aus dem militärisch bewachten Flüchtlingslager aus. Unter Rufen wie "Freiheit!" und "Helft uns!" liefen sie ins Stadtzentrum, wo sie gegen die unhaltbaren Zustände in ihrer Unterkunft und gegen ihre drohende Abschiebung protestierten.

Vor dem Rathaus wurden sie von den Inselbewohnern mit Applaus begrüßt, die ihrerseits seit Tagen, und auch an diesem Samstag, gegen die Militarisierung der Insel durch die Regierung Berlusconi demonstrierten. Die ehemalige Fischerinsel, die auf halbem Weg zwischen Sizilien und Nordafrika liegt, wehrt sich zurzeit vehement dagegen, von der Regierung in ein riesiges Gefangenenlager umfunktioniert zu werden.

Eine Einwohnerin von Lampedusa sagte der ARD-Tagesschau: "Wir haben nichts gegen die Flüchtlingsunterkunft, aber wir wollen kein Gefängnis, denn auch diese armen Menschen haben Rechte."

Die Regierung von Silvio Berlusconi hat die Entscheidung getroffen, auf Lampedusa gestrandete Flüchtlinge nicht mehr nach Italien weiterzuschicken. Bisher war Lampedusa nur Durchgangsstation für Flüchtlinge aus Nordafrika, von hier aus wurden sie nach Sizilien und auf das italienische Festland gebracht. Im vergangenen Jahr (2008) landeten etwa 30.700 Bootsflüchtlinge auf der kleinen Mittelmeerinsel.

Seit Weihnachten verfolgt die Regierung die Politik, Migranten nur noch von der Insel zu lassen, wenn sie sie abschieben kann. Innenminister Roberto Maroni (Lega Nord) erklärte: "Wer meint, er könne ungestört illegal nach Italien einreisen, hat sich geirrt." Die Regierung hat ein Dekret im Parlament durchgesetzt, wonach illegale Einreise als Strafdelikt mit bis zu zehntausend Euro bestraft wird.

Die rechte Berlusconi-Regierung will mit Tunesien und Libyen neue Deals über die Rückführung großer Flüchtlingskontingente abschließen und fordert von ihnen, die Flüchtlingsboote frühzeitig abzufangen. Auch von der EU fordert die italienische Regierung mehr Unterstützung. EU-Vizepräsident und Justizkommissar Jacques Barrot hat eine Inspektionsreise nach Lampedusa angekündigt. Der harte Umgang der italienischen Regierung mit Flüchtlingen steht nicht im Widerspruch zur EU-Politik einer Abriegelung der "Festung Europa".

Silvio Berlusconi führt seit seinem Regierungsantritt im Mai 2008 einen Feldzug gegen Einwanderer. In Neapel wurde ein Roma-Lager mit staatlicher Billigung angezündet. Auch nutzt die Regierung ihre ausländerfeindliche Kampagne zur Militarisierung der gesamten italienischen Gesellschaft. Gestützt auf den im Juli 2008 verhängten nationalen Notstand, der mit der Flüchtlingskrise begründet wurde, hat Verteidigungsminister Ignazio Benito La Russa den Einsatz von Soldaten im Innern des Landes durchgesetzt. Jetzt will er die Armee in bis zu hundert Städten patrouillieren lassen.

Auf Lampedusa wird eine alte Nato-Militäranlage in ein zweites Flüchtlingslager umgebaut, ein so genanntes "Identifikations- und Abschiebezentrum", das von Militär und Carabinieri hermetisch abgeriegelt wird. Dagegen wehrt sich die Bevölkerung. "Lampedusa ist nicht Alcatraz", lautet der meistgehörte Slogan, in Anspielung auf die berüchtigte Gefangeneninsel vor San Francisco.

Auch das Beispiel Guantanamo wird oft genannt. Das ist nicht gänzlich aus der Luft geholt: Lampedusa war schon einmal Gefängnisinsel, das war in der faschistischen Epoche unter Benito Mussolini, als 3.000 politische Gefangene auf der kleinen Mittelmeerinsel inhaftiert waren.

Heute hängen an den Stadtmauern handgemalte Transparente mit Parolen gegen die Senatorin Angela Maraventano von der Lega Nord, gegen Roberto Maroni und gegen den Generalpräfekten für Einwanderung, Mario Morcone. "Morcone, du illustrer Provokateur - das Volk sind wir!" heißt es da zum Beispiel.

Die Situation in dem überfüllten Erstaufnahmelager ist mittlerweile völlig unhaltbar geworden. Wo ursprünglich 750 Menschen Platz finden sollten, leben bis zu 2.000 Menschen. Einige von ihnen müssen im Freien unter Zeltplanen schlafen.

Schon vor über drei Jahren, im Oktober 2005, hatte ein Reporter des Nachrichtenmagazins Espresso, Fabrizio Gatti, über die unsäglichen hygienischen Zustände berichtet. Gatti, der sich als Flüchtling verkleidet eingeschmuggelt hatte, berichtete von Toilettenräumen voller Kot und Urin, von Flöhen in den Matratzen, aber auch von prügelnden Aufsichtsbeamten.

Dabei hätten die Menschen nach ihrer riskanten und erschöpfenden Flucht Hilfe und Zuwendung nötig. Sie riskieren ihr Leben, denn die Fluchtbedingungen sind äußerst riskant. Viele der hoffnungslos überladenen Boote sind halbe Wracks und nicht hochseetauglich. Besonders bei stürmischer See sind sie akut gefährdet. Dazu kommt, dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex und die italienische Küstenwache Jagd auf die Boote machen und sie zu langen Umwegen und Nachtfahrten zwingen.

Nach Angaben der Hilfsorganisation Fortress Europe sind im vergangenen Jahr über 1.500 Flüchtlinge an den Außengrenzen Europas gestorben. Allein auf dem Mittelmeer südlich von Sizilien sind in diesem Zeitraum 119 Menschen ertrunken, verdurstet oder aus Schwäche gestorben. Weitere 423 Menschen sind im Mittelmeer verschollen. Das sind zusammen 642, durchschnittlich fast zwei Menschen täglich im Jahr 2008, die das Ufer nicht erreicht haben. In den letzten zwanzig Jahren sollen weit über 5.000 Menschen allein im Kanal zwischen Sizilien und Tunesien gestorben sein.

Schon unmittelbar nach der friedlichen Rückkehr der Flüchtlinge ins Lager am Samstagabend begann die Regierung, mehrere Hundert von ihnen abzuschieben. Eine Gruppe nordafrikanischer Frauen trat in den Hungerstreik, um ihre Abschiebung zu verhindern.

Die Regierung versucht die Flüchtlingskrise zu nutzen, um die Bevölkerung gegen Ausländer aufzuhetzen und eine nationalistische Stimmung im Land zu schüren. Das ist für die herrschende Klasse umso wichtiger, als Italien von der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise besonders stark betroffen ist.

Die italienische Staatsverschuldung ist mit 106 Prozent des Bruttoinlandsprodukts die höchste in Europa und eine der höchsten der Welt. Schon im Oktober 2008, noch vor den Auswirkungen der globalen Rezession, kletterte die Verschuldung auf 1.670,6 Milliarden Euro. Im Dezember provozierte der italienische Arbeitsminister Maurizio Sacconi einen Skandal, als er einen Staatsbankrott als mögliche Folge der Finanzkrise nicht ausschloss.

Auch Lampedusa, das hauptsächlich vom Tourismus lebt, musste im letzten Jahr Einbußen hinnehmen. Trotzdem verfangen die Taktiken der Regierung nicht, und die Bewohner lassen sich gerade in letzter Zeit nicht mehr gegen die Flüchtlinge aufhetzen.

Am Dienstag, den 27. Januar, fand erneut ein Generalstreik statt: Alle Geschäfte und Schulen waren geschlossen, die Schifffahrt und der ganze Hafen lahm gelegt. Die Inselbewohner marschierten vom Stadtzentrum zum Hafen und warfen einen großen Blumenkranz ins Meer, zum Zeichen der Trauer um die Ertrunkenen, die die Überfahrt nicht geschafft hatten.

Trotz der allgemeinen Stimmung von Solidarität und wütendem Protest gegen die Regierung fehlt jedoch völlig eine fortschrittliche Perspektive zur Lösung der Krise. Das wird nicht zuletzt durch Vertreter der politischen Opposition und der Gewerkschaften verhindert, die mit ihren Reden Lokalpatriotismus schüren und die Regierung oft sogar von rechts angreifen.

Italo Tripi, der Generalsekretär der sizilianischen CGIL, der am 27. Januar mit einer Delegation sizilianischer Gewerkschafter am Generalstreik in Lampedusa teilnahm, schlug vor, das Immigrationsgesetz zu modifizieren und Abschiebelager woanders zu errichten.

Siehe auch:
Italienische Regierung verhängt nationalen Notstand
gegen Zustrom von Flüchtlingen 6. August 2008)

Rassistische Pogrome begleiten Berlusconis Amtsantritt
( 27. Mai 2008)

Der Preis des Opportunismus: Zum Kollaps von
Rifondazione Comunista in Italien (24. April 2008)

Italien: Massendeportation von Flüchtlingen
(8. Oktober 2004)


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Quelle:
World Socialist Web Site, 29.01.2009
Italien: Flüchtlinge rebellieren gegen Internierungslager
http://wsws.org/de/2008/jan2009/lamp-j29.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Januar 2009