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GLEICHHEIT/2309: Europäische Diplomatie bereitet Falle für Palästinenser vor


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Herausgegeben vom Internationalen Kommitee der Vierten Internationale (IKVI)

Europäische Diplomatie bereitet Falle für Palästinenser vor

Von Peter Schwarz
7. Januar 2009


Im Gegensatz zu den USA, die nach dem israelischen Angriff auf den Gaza-Streifen keine eigenen Initiativen ergriffen und sich uneingeschränkt hinter Israel gestellt haben, hat Europa eine rege diplomatische Tätigkeit entfaltet. Derzeit sind gleich mehrere hochrangige europäische Delegationen im Nahen Osten unterwegs.

Für die Europäisch Union bereisen Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner, Chefdiplomat Javier Solana, sowie die Außenminister Frankreichs, Schwedens und Tschechiens gemeinsam das Krisengebiet. Tschechien hat gegenwärtig die EU-Präsidentschaft inne. Der frühere britische Regierungschef Tony Blair ist im Auftrag des so genannten Nahost-Quartetts unterwegs, das aus den Vereinten Nationen, den USA, der Europäischen Union sowie Russland besteht. Und der französische Präsident Nicolas Sarkozy besuchte die Region am Montag und Dienstag in seiner Funktion als Vorsitzender der neu gegründeten Mittelmeerunion, die er sich mit dem ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak teilt.

Alle europäischen Vertreter sprachen sich für einen sofortigen Waffenstillstand aus. Sie redeten darüber mit dem ägyptischen Präsidenten Mubarak, Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, dem israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert und - im Falle Sarkozys - auch mit dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Direkte Gespräche mit Vertretern der Hamas, gegen die sich der israelische Angriff richtet, lehnten sie dagegen ab.

Gegner des israelischen Angriffs auf Gaza haben die diplomatischen Initiativen der Europäer begrüßt. So lobte der außenpolitische Sprecher der deutschen Linkspartei, Wolfgang Gehrke, ausdrücklich die Vermittlungstätigkeit des französischen Präsidenten.

Für den israelischen Friedensaktivisten Michel Warschawski geht die internationale Intervention nicht schnell und nicht weit genug. Auf der Web Site der französischen "Neuen Antikapitalistischen Partei" (NPA) richtet er einen "dringenden Appell an alle Aktivisten der Zivilgesellschaft, Druck auf ihre Regierungen auszuüben, damit diese eingreifen und dem Blutvergießen ein Ende setzten, damit sie jetzt eingreifen und nicht in ein paar Tagen!" Er fordert die Entsendung "einer internationalen Truppe, die sich zwischen die Fronten stellt und die Bevölkerung von Gaza schützt".

Diese Stellungsnahmen verkennen völlig den wirklichen Charakter der europäischen Intervention.

Als erstes ist festzuhalten, dass nicht eine einzige europäischen Regierung die israelische Aggression verurteilt und als das bezeichnet hat, was sie wirklich ist: ein Kriegsverbrechen. Stattdessen haben sie das Vorgehen Israels, das die Bevölkerung Gazas monatelang isolierte und aushungerte, durch die gezielte Ermordung führender Hamas-Mitglieder den vereinbarten Waffenstillstand brach und schließlich tonnenschwere Bomben in dicht besiedelte Wohngebiete warf, als legitimen Akt der Selbstverteidigung gerechtfertigt.

Präsident Sarkozy machte vor Antritt seiner Reise ausdrücklich Hamas - und nicht die israelische Armee - für die Leiden der Palästinenser verantwortlich, weil Hamas den Raketenbeschuss auf Israel nicht beende. Der tschechische Regierungschef und amtierende EU-Ratspräsident Mirek Topolanek behauptete, die israelische Militäraktion habe "defensiven" Charakter. Und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel versicherte dem israelischen Ministerpräsidenten am Telefon, die Verantwortung für die Entwicklung liege "eindeutig und ausschließlich" bei der Hamas.

Wenn die europäischen Regierungen dennoch für einen Waffenstillstand eintreten, dann verfolgen sie damit in erster Linie eigene Interessen.

Sie fürchten, das rücksichtslose Vorgehen Israels werde die arabischen Regime untergraben, mit denen sie eng zusammenarbeiten. Die Empörung über das israelische Vorgehen richtet sich zunehmend auch gegen die arabischen Herrscher, die eng mit Israel und den USA zusammenarbeiten. Auch eine Destabilisierung Israels als Folge des brutalen Kriegs gegen Gaza wird in Europa befürchtet.

Ein Editorial des Figaro warnte am 5. Januar unter der Überschrift "Schnell für einen Waffenstillstand eintreten" vor einer solchen Entwicklung. "Sofortiges Handeln ist unverzichtbar, weil die Unzufriedenheit in dem Maße anschwillt, wie sich die Opfer in diesem neuen palästinensischen Drama häufen", schrieb die konservative französische Zeitung. "Trotz der Schwierigkeiten muss man ihn [den Waffenstillstand] ohne Zögern schließen, weil das Schlimmste vielleicht noch gar nicht eingetroffen ist: jeder Bodenvorstoß in das dicht besiedelte Gebiet hätte mörderische Folgen. Und was geschieht, wenn sich im Libanon mit der Hisbollah eine zweite Front öffnet? Man muss auch schnell handeln, weil die Passivität der USA ein Vakuum schafft, dass sämtliche Extreme ermutigt."

Auch um die Stabilität im eigenen Land fürchten die europäischen Regierungen, vor allem in Frankreich, wo zahlreiche Immigranten aus nordafrikanischen und arabischen Ländern leben. Viele Jugendliche, die in den vergangenen Jahren in den französischen Vorstädten gegen die unhaltbaren Zustände rebellierten, stammen aus solchen Familien und hegen Sympathie für die Palästinenser.

Last but not least betrachten die Europäer die Passivität der USA, die mit dem Präsidentenwechsel und der Wirtschaftskrise beschäftigt sind, als Chance, im Nahen Osten wieder stärker Fuß zu fassen. Das gilt vor allem für Frankreich, das nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs zu den führenden Kolonialmächten in der Region zählte und später durch Großbritannien und die USA verdrängt wurde.

Auch das spricht der Figaro offen aus, wenn er schreibt: "Aufgrund der momentanen Abwesenheit der Amerikaner kann der Präsident der Republik darauf hoffen, den Europäern wieder eine Rolle zu verschaffen."

Sarkozy arbeitet seit seiner Amtsübernahme zielstrebig darauf hin, Frankreichs Stellung im Mittelmeerraum und im Nahen Osten zu stärken. Diesem Zweck dient die im Juli vergangenen Jahres gegründete Mittelmeerunion ebenso wie die Zusammenarbeit mit dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, der in Washington nach wie vor als Paria gilt. Auch zu Israel unterhält Sarkozy, dessen Mutter aus einer jüdischen Familie stammt, engere Beziehungen als jeder französische Präsident vor ihm.

Sarkozy brüstete sich am Vorabend seiner Reise selbst mit seinen engen Beziehungen in der Region. "Frankreich trägt eine besondere Verantwortung, weil es ihm gelungen ist, ein Band des Vertrauens und der Freundschaft mit allen Beteiligten zu knüpfen", sagte er in einem Interview, das in drei libanesischen Tageszeitungen erschien.

Auch Deutschland verfolgt im Nahen Osten eigene Interessen. Es geht dabei - nicht zuletzt wegen den durch den Holocaust belasteten Beziehungen zu Israel - geräuschloser vor als Sarkozy, aber nicht weniger zielstrebig. Während Sarkozy medienwirksam durch den Nahen Osten reiste, verhandelten Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Außenminister Frank-Walter Steinmeier telefonisch mit den Hauptakteuren. Deutschland hat schon in den vergangenen Jahren eine Schlüsselrolle beim Aufbau des Polizei- und Justizsystems in den palästinensischen Autonomiegebieten gespielt.

Der Waffenstillstand, den die Europäer anstreben, entspricht ihren imperialistischen Ambitionen. Es geht ihnen nicht um die Befreiung der palästinensischen Bevölkerung und die Linderung ihres Elends, sondern um ihre wirkungsvollere Unterdrückung. Dazu brauchen sie einen zuverlässigen Polizisten. Das ägyptische Regime von Husni Mubarak und die Palästinensische Autonomiebehörde von Mahmud Abbas sind dafür die wichtigsten Kandidaten.

Während Israel den Bombenterror gegen die Bevölkerung Gazas fortsetzt, bemühen sich die Europäer um ein Abkommen, das sowohl Tel Aviv, Washington und Kairo zufrieden stellt. Um die israelische Zustimmung zu einem Waffenstillstand zu erhalten, halte Paris die Unterbindung des Waffenschmuggels nach Gaza für entscheidend, berichtet die französische Zeitung Le Monde über die Verhandlungen der EU-Delegation mit der ägyptischen Regierung. Zu diesem Zweck müsse die Grenze zwischen Ägypten und Gaza noch stärker als bisher abgeschottet und möglicherweise von einer internationalen Truppe überwacht werden.

Die Süddeutsche Zeitung vermutet noch weiter gehende Pläne. Eigentliches Ziel der israelischen Offensive sei es, die Palästinenser in den Sinai zu vertreiben und "die Verantwortung für die 1,5 Millionen Palästinenser ein Stück weit den Ägyptern zuzuschieben", mutmaßt sie. "Die Situation wäre fast vergleichbar mit der im Sechs-Tage-Krieg von 1967: Arabische Kriegsflüchtlinge flohen damals vor israelischen Truppen in benachbarte arabische Staaten - und bleiben für immer dort. Im aktuellen Fall könnte Israel ein Ende der Kämpfe anbieten, wenn eine unbeteiligte Macht die Waffenruhe überwacht. Ägypten wäre ein naheliegender Kandidat. Kairo müsste Hamas im Zaum halten. Und dafür Sorge tragen, dass die Menschen zu essen haben. Es würde den Gaza-Streifen quasi mitverwalten."

Die USA, schließt die Süddeutsche Zeitung, würde eine solche Lösung mittragen und entsprechenden Druck auf Kairo ausüben. "Sie sind Israels enger Bundesgenosse und Kairos wichtigster Geldgeber. Mubarak weiß, dass kein anderer zur Verfügung steht."

Die britische Financial Times schätzt die Lage ähnlich ein. In Ägypten verdächtige man Israel, "sein wahres Ziel im Gaza bestehe darin, Kairo die Verantwortung für den Streifen und seine Einwohner zuzuschieben", schreibt sie und zitiert einen hohen ägyptischen Beamten, der sich beklagt: "Gegen uns wird ein übles Spiel gespielt. ... Wenn wir die Grenzen öffnen und ein großes Flüchtlingsproblem haben, was dann? Sollen wir die Bevölkerung des Gaza in den Sinai umsiedeln."

Im Lichte dieser Kommentare erhält die europäische Pendeldiplomatie zwischen Ägypten, der Westbank und Israel einen bedrohlichen Charakter. Sie bereiten eine "Lösung" für die Zeit nach dem Krieg vor, nachdem Tausende Palästinenser getötet und Hunderttausende vertrieben worden sind. Diese Lösung soll sicherstellen, dass Gaza ein riesiges Gefängnis bleibt - aber ein Gefängnis, das nicht von den Insassen, sondern in enger Abstimmung mit Israel, den USA und Europa von Ägypten und der Palästinensischen Autonomiebehörde verwaltet wird.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 07.01.2009
Europäische Diplomatie bereitet Falle für Palästinenser vor
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2009