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GEGENWIND/875: Das Jahr 1945 in Schleswig-Holstein aus Sicht der sich neu formierenden Arbeiterbewegung


Gegenwind Nr. 380, Mai 2020
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

Vor 75 Jahren: Befreiung vom Faschismus
Das Jahr 1945 in Schleswig-Holstein aus Sicht der sich neu formierenden Arbeiterbewegung

von Günther Stamer


19.03. Der sog "Nero-Befehl" Hitlers, wonach beim Rückzug der deutschen Truppen alle Verkehrs-, Industrie- und Versorgungsanlagen zu vernichten sind.

03.04. Himmlers "Flaggenbefehl", der verfügte, dass alle männlichen Personen eines Hauses, das eine weiße Fahne zeigt, zu erschießen sind.

14.04. Befehl Himmlers, bei der Räumung von Konzentrationslagern und Gefängnissen keine Häftlinge lebend zurückzulassen.

29.04. Britische Truppen überqueren in Lauenburg die Elbe und betreten schleswig-holsteinischen Boden.

30.04. Vor seinem Suizid ernennt Hitler Admiral Dönitz zum Reichspräsidenten und Oberbefehishaber. Dönitz, der sich mit Teilen der Reichsregierung in Eutin befindet, flieht am 2. Mai vor der Front nach Flensburg-Mürwik.

02.05. Lübeck wird kampflos den britischen Truppen übergeben.

02.05. In Kiel treffen sich ehemalige Gewerkschaftsfunktionäre und Betriebsräte um über künftige Aktivitäten zu beraten und ein "Vorbereitendes Komitee zur Bildung freier Gewerkschaften" zu bestimmen. Diese Komitee setzt sich aus drei Sozialdemokraten und einem Kommunisten zusammen.

03.05. Auf Anweisung von Dönitz sollen die Produktionsanlagen auf den Kieler Werften zerstört werden. "Es kam aber nicht mehr dazu. Aus den Reihen der Arbeiter hatten sich aus alten SPD- und KPD-Angehörigen kleine Trupps gebildet, die entschlossen waren, Sprengungen auf jeden Fall zu vermeiden, notfalls mit Gewalt." (SHVZ vom 30.4.48).

03.05. Flensburg wird mit der Ankunft der "Reichsregierung Dönitz" "provisorische Reichshauptstadt". Die "Reichsregierung" sah ihre Hauptaufgabe darin, mit den USA und Großbritannien zu einem Übereinkommen zu gelangen, um Reste der Hitlerwehrmacht zu erhalten und den Krieg gegen die Sowjetunion fortsetzen zu können.

03.05. Untergang der Cap Arcona und der Thielbeck in der Lübecker Bucht vor Neustadt durch britischen Bombenbeschuss. Ca. 8.000 Menschen, zum größten Teil Häftlinge des KZ Neuengamme, verlieren dabei ihr Leben.

03.05. Ein aus den Linksparteien und bürgerlichen Kreisen gebildeter "Aktionsausschuss" ruft in Elmshorn zum Hissen weißer Flaggen auf. In dem in der Stadt verbreiteten Flugblatt heißt es u.a.: "Damit nicht noch fünf Minuten nach zwölf unsere schon so schwer mitgenommene Stadt weiteren Gefahren durch Kampfhandlungen ausgesetzt sei, ist in Ruhe, Ordnung und Disziplin die Stadt zu übergeben, jeder Widerstand zu unterlassen und notfalls energisch zu verhindern. Es sind sofort aus jeder Wohnung und auf jedem Betrieb deutlich sichtbar weiße Fahnen zu zeigen, um den Friedenswillen der Stadt zu bekunden." Die "Aktion weiße Flaggen" stieß auf große Resonanz - obwohl kein ungefährliches Unterfangen: Seit Anfang April galt der Befehl Himmlers, alle männlichen Bewohner eines weiß beflaggten Hauses zu erschießen.

03.05. Unmittelbar nach der kampflosen Besetzung von Neumünster durch britische Truppen bildet sich auf kommunistische Initiative eine "Anti-Nazi-Aktion" aus Mitgliedern der Linksparteien. Sie verstand ihre Arbeit primär in der Durchführung von Entnazifizierungsmaßnahmen und der Betreuung zurückkehrender KZ-Häftlinge.

04.05. Unter Führung des Antifaschistischen Gewerkschaftsausschusses marschieren die Antifaschisten der Stadt Elmshorn zum ehemaligen Gewerkschaftshaus (das seit 1933 als Parteihaus der NSDAP dient) und besetzen es. Bereits am Nachmittag zeigt sich das Gewerkschaftshaus beflaggt mit roten Fahnen und mit einem weithin sichtbaren Transparent: "Elmshorn ist freie Stadt." Noch am selben Tag wurde ein "Antifaschistischer Ordnungsdienst" gegründet, der ein eigenes Gefängnis einrichtet, in dem führende NSDAP-Mitglieder und Nazi-Unternehmer in Haft genommen werden. Der Ordnungsdienst mit seinen "Prinz-Heinrich-Mützen" und roten Armbinden löst vom Erscheinungsbild Erinnerungen an die Novemberrevolution aus.

04.05. In Lübeck gründen "antifaschistische Kräfte aller Parteirichtungen" die "ANTIFA".

04.05. Soldaten des 8. Britischen Korps erreichen Kiel und nehmen die Stadt ohne Gegenwehr ein.

05.05. Militärische Teilkapitulation der deutschen Wehrmacht in Dänemark und Schleswig-Holstein. Damit enden die Kriegshandlungen in Schleswig-Holstein.

05.05. In Flensburg gründen Widerstandszirkel einen Vorläufigen Ausschuss der Flensburger Arbeiterschaft. Als Einheitsorganisation solle er die früheren Gewerkschaften, die SPD und die KPD repräsentieren.

06.05. Der Antifaschistische Gewerkschaftsausschuss in Elmshorn fordert Bürgermeister Dr. Küster zum Rücktritt auf. Als dieser sich weigert, wird er vom Ordnungsdienst verhaftet. Gleichzeitig werden Rathaus und Polizeistation ohne größeren Widerstand besetzt. Der Gewerkschaftsausschuss setzt Heinrich Hauschildt (SPD) als Bürgermeister und Arthur Geissler (KPD) als Polizeichef ein. Damit hat die Antifa-Bewegung in Elmshorn aus eigener Kraft die Stadt in die Hand genommen.

06.05. In Kiel findet eine Funktionärsberatung von 150 Vertretern Kieler Betriebe im Gewerkschaftshaus statt. Es wurde ein "Engerer Ausschuss" zur Bildung freier Gewerkschaften benannt, dem vier KPD- und drei SPD-Vertreter angehörten. Der Gewerkschaftsausschuss sah seine Kompetenz nicht nur auf die traditionellen Betätigungsfelder beschränkt, sondern beschäftigte sich mit allen politischen Problemen. So gründete man gleich Anfang Mai eine "Fahndungsabteilung", die die führenden Nazis der Stadt namhaft machen und in Zusammenarbeit mit der britischen Polizei für deren Festsetzung sorgen sollte.

07.05. Die ersten britischen Panzerverbände ziehen in Elmshorn ein. Der Kommandant zeigte sich über die dortigen Verhältnisse höchst erstaunt. Bewaffnete deutsche Patroullien mit roten Armbinden waren ihm bisher noch nicht begegnet.

08.05. Gesamtkapitulation der Deutschen Wehrmacht in Karlshorst: Unmittelbar nach der Gesamtkapitulation wurde unter dem Kommando von Colonel Henderson eine dem 8. Korps zugeordnete britische Militärregierung für Schleswig-Holstein eingerichtet, die ihren Sitz in Kiel hatte. Generalleutnant Barker befehligte von seinem Hauptquartier in Plön (Schloss) aus die Besatzungstruppen.

09.05. Der "Reichssender Flensburg" sendet Auszüge aus dem letzten Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht: "Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen. Der deutsche Soldat hat, getreu seinem Eid, im höchsten Einsatz für sein Volk, für immer Unvergessliches geleistet."

10.05. Auf dem Marine-Begleitboot "Buea" in der Geltinger Bucht werden drei junge Matrosen in einer Kriegsgerichtsverhandlung wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt und standrechtlich erschossen. Der verantwortliche Commodore Petersen wird 1952 letztinstanzlich freigesprochen.

11.05. Auf Helgoland ergibt sich die letzte deutsche Armee-Einheit.

13.05. Die Elmshorner Antifa-Leitung wird vom britischen Militär wegen "Amtsanmaßung" verhaftet. Als neues Stadtoberhaupt setzt der britische Kreisgouverneur den ehemaligen NSDAP-Bürgermeister von Pinneberg ein. Die antifaschistische Bewegung wird verboten, das Gewerkschaftshaus dem Gewerkschaftsausschuss entzogen und die roten Fahnen beschlagnahmt.

14.05. Schleswig-Holsteins Militärgouverneur Henderson ernennt Regierungsdirektor Dr. Hoevermann, in Kenntnis seiner NSDAP-Mitgliedschaft (seit 1937), zum kommissarischen Oberpräsidenten.

23.05. Absetzung und Verhaftung der "Regierung Dönitz" in Flensburg-Mürwik.

Juni. Die Militärregierung beschlagnahmte die Lederfabrik Emil Köster KG in Neumünster Gadeland, um hier das Internierungscamp für Kriegsverbrecher einzurichten. In den zehn Maschinenhallen waren auf dem Belegungshöhepunkt im Herbst 1945 10.000 Internierte untergebracht. Dabei bestand für die Besatzungstruppen totales Verbot, mit einzelnen Deutschen oder gar mit Antifa-Gruppen bei der Entnazifizierung zusammenzuarbeiten. Stattdessen wurden alle antifaschistischen Gruppen aufgelöst.

16.06. Kiel: Im Gewerkschaftshaus treffen sich ehemalige Funktionäre der Gewerkschaft, der SPD und KPD. Die Trennung von Sozialdemokraten und Kommunisten in verschiedenen Parteiorganisationen sollte sich nach Auffassung der Anwesenden nicht wiederholen; es sollten neue Formen einer "einheitlichen Arbeiterbewegung" hervorgebracht werden. Man beschloss, ein gemeinsames Gremium zu bilden, den Sozialausschuss.

13.07. Der neu gebildete Kieler Gewerkschaftsvorstand ist paritätisch von KPD (Pressler/Schlarbaum) und SPD (Kuklinski/Kähler) besetzt.

02.08. Potsdamer Abkommen: Es legt u.a. Maßnahmen fest, "die notwendig sind, damit Deutschland niemals mehr seine Nachbarn oder die Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt bedrohen kann". In diesem Sinne wurde vereinbart, den deutschen Militarismus und Nazismus auszurotten, die großen Monopole zu dezentralisieren und zu entfiechten, die Kriegsverbrecher zu verhaften und abzuurteilen, Deutschland völlig zu entmilitarisieren und die Produktion von Kriegsmaterial zu verbieten.

22.08. Auf Initiative der SPD und unter Beteiligung von ehemaligen SAPD-Mitgliedern und der KPD bildet sich in Neumünster ein Vorbereitungskomitee flur die Gründung einer Einheitspartei. Man beantragt die Genehmigung zur Parteiengründung und erhält von der örtlichen Militärregierung die Zustimmung (obwohl Parteigründungen offiziell noch gar nicht erlaubt sind).

01.09. Kiel: Der von SPD und KPD gebildete Aktionsausschuss bekundet in einer Erklärung, nach einer Phase des getrennten Aufbaus eine Einheitspartei bilden zu wollen, ohne jedoch einen konkreten Zeitpunkt zu nennen. In dem im Vorfeld beschlossenem "Aktionsprogramm" heißt es im Vorwort: "Die Verwirklichung dieser Einheit ist ein organischer Prozess, in dessen Mittelpunkt die Aktionseinheit steht. Soll die organisatorische Einheit von Bestand und Dauerhaftigkeit sein, muss sie im Kampf geboren werden."

02.09. 331 Personen gründen die "Arbeiterpartei Neumünster". Zum Vorsitzenden wird Paul Gründel (KPD) gewählt, stellv. Vorsitzender wird Karl Böhm (SPD). Dem Vorstand der Arbeiterpartei gehören sechs Sozialdemokraten und fünf Kommunisten an.

15.09. ln der britischen Zone werden Parteiengründungen erlaubt (Verordnung Nr. 12 der Militärregierung).

29.09. Mit der Gründung von SPD- und KPD-Organisationen in Neumünster ist auch dort das Kapitel "Einheitspartei" beendet.

05.10. Die Kieler Gewerkschafter beschließen auf Druck der Militärregierung ihre zentralistische Einheitsorganisation aufzulösen und gleichzeitig einen neuen Vorbereitenden Ausschuss zu bilden, der dann die betrieblichen Gründungsversammlungen und den Aufbau der Industriegewerkschaften vorbereiten soll.

23.10. Letzte Sitzung des Aktionsausschusses von SPD und KPD in Kiel: Die KPD orientiert auf die Nominierung gemeinsamer Kandidaten für die bevorstehenden Kommunalwahlen. Die Antwort der SPD ist negativ.

27.10. Kurt Schumacher hält in Kiel als Auftakt zur SPD-Bezirkskonferenz seine erste öffentliche Nachkriegsrede. Vor 2.000 Zuhörern in der "Elac" erklärt er den gesellschaftlichen Führungsanspruch der SPD. Die KPD sei "in ihrer politischen Theorie und Praxis ebenso vollständig zusammengebrochen wie das Nazitum und der Militarismus" und er warnte davor, "für den geschwächten Parteikörper der KPD den Blutspender abzugeben und auf irgend einen Annäherungsversuch auch nur andeutungsweise einzugehen." Im kleinen Kreis äußerte er sich, wie ein Kieler SPD-Kreissekretär sich erinnert: "In den Betrieben kann mit den Kommunisten nicht lange gefackelt werden, es muss im rechten Augenblick ein Schraubenschlüssel geflogen kommen."

15.11. Theodor Steitzer (CDU), aktiv im antifaschistischen Widerstand, wird neuer - von der Militärregierung eingesetzter - Oberpräsident Schleswig-Holsteins.

22.11. 1. regionale Gewerkschaftskonferenz für Schleswig-Holstein in Rendsburg. Es referiert das SPD-Bezirksvorstandsmitglied Erich Arp. Arp mahnte zu strikter parteipolitischer Neutralität und versicherte, "keine Spitze gegen die Kommunisten zu dulden" und auch die christlichen Arbeiter in die Einheitsgewerkschaft integrieren zu wollen.

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Zusammenstellung: Günther Stamer unter Verwendung vor allem folgender Publikationen:

Danker/Schwabe. Schleswig-Holstein und der Nationalsozialismus, Wachholtz Verlag, Neumünster 2006

Jürgensen, Kurt. Die Gründung des Landes Schleswig-Holstein nach dem Zweiten Weltkrieg. Wachholz Verlag, Neumünster 1969

Martens, Holger. Die Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Schleswig-Holstein 1945 bis 1959. Schleswig-Holsteinischer Geschichtsverlag, Maiente 1998

Siegfried, Detlef. Zwischen Einheit und "Bruderkampf". SPD und KPD in Schleswig-Holstein 1945/1946. Neuer Malik Verlag, Kiel 1992

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Quelle:
Gegenwind Nr. 380, Mai 2020, Seite 58-61
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2020

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