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GEGENWIND/844: "...wird die ganze Ökonomie endgültig umwälzen und enormen Lärm machen"


Gegenwind Nr. 375, Dezember 2019
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

"...wird die ganze Ökonomie endgültig umwälzen und enormen Lärm machen"
Gedanken aus Anlass des 125jährigen Erscheinens des 3. Bandes des "Kapitals" und einer bevorstehenden (?) neuen "großen Wirtschaftskrise"

von Günther Stamer


"Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktionskräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde." (MEW 25, 501).

Ein totgeglaubtes Gespenst lugt wieder um die Ecke, schenkt man gut informierten Wirtschaftsprognostikern Glauben. Zufällig zeitgleich mit der durch den "Schwarzen Donnerstag" an der US-Börse ausgelösten Weltwirtschaftskrise vor neunzig Jahren, steigt bei Wirtschaftswissenschaftlern unterschiedlichster Schulen (von ordo-liberal über neo-keynesianisch bis hin zu marxistisch orientiert) die Furcht vor einer erneut heraufziehenden alle global agierenden Wirtschaftsmächte treffenden ökonomischen Krise.

Am 27. August 2019 schreibt der Wirtschaftsredakteur der "Süddeutschen Zeitung": "2020 könnte das Jahr der nächsten großen Wirtschaftskrise werden und anders als vor elf Jahren wissen wir diesmal alle seit Monaten Bescheid. Sollte es tatsächlich zum Einbruch kommen, wäre es die Krise mit der wohl längsten Vorwarnzeit, die es je gab."

Am 3. November schreibt Henrik Müller auf "spiegel-online": "Der heraufziehende weltwirtschaftliche Abschwung könnte hässlich werden: Wenn die nationale Konjunkturpolitik versagt, droht eine Eskalation des Protektionismus. Es ist zu erwarten, dass die deutschen und die chinesischen Exporte weiter zurückgegangen sind, während das US-Handelsdefizit noch gewachsen sein dürfte. Eine destruktive Dynamik ist im Gange, die momentan wegen der abermaligen chinesisch-amerikanischen Verhandlungen zwar zum Stillstand gekommen ist, die aber jederzeit neue Eskalationsstufen erreichen kann."

Selbst die die Bundesregierung beratenden sogenannten "Wirtschaftsweisen" rechnen in ihrem am 6. November veröffentlichten Jahresgutachten mit einem deutlichen Konjunkturabschwung. Kritisch äußern sie sich ausdrücklich zur "Schwarzen Null", also zur Haushaltspolitik der Bundesregierung, bei der sie komplett auf neue Schulden verzichtet. Bei der Bekämpfung eines stärkeren Abschwungs könne ein Festhalten an der Schwarzen Null hinderlich sein, heißt es in dem Gutachten. (FAZ 6.11.2019).

In einer im Oktober 2019 unter dem Titel "Eine neue Krise steht vor der Tür" veröffentlichten Analyse der marxistischen Ökonomen Jo Cottenier und Henri Houben heißt es u.a.: "Das auffälligste Zeichen für das Entstehen einer Krise ist die gleichzeitige und weit verbreitete Verlangsamung des Wachstums in praktisch allen großen Ländern der Welt. Diese Trübung ist insbesondere bei den wichtigsten globalen Wirtschaftsakteuren, nämlich den USA, China, Japan und der Europäischen Union, zu beobachten. (...) Das Problem ist jedoch nicht der Mangel an Kapital. Es fehlen Projekte mit einer ausreichenden Gewinnspanne: Das Kapital zieht es vor, sich anderer profitablerer Methoden zu bedienen, wie beispielsweise Spekulationen oder Financial Engineering."(1)

Sie verweisen u.a. auf einen Bericht des Internationalen Währungsfonds (IWF), aus dem hervorgeht, dass nicht weniger als 40% der 15 Billionen Dollar an Auslandsinvestitionen in Wirklichkeit fiktive, unproduktive Investitionen in multinationale Unternehmen sind, die ausschließlich dazu dienen, Steuern zu vermeiden".(2)


Ende des "zehnjährigen Booms"

Weshalb hat die Aufschwung-Phase nach der Finanzkrise 2007 überhaupt so lange gedauert? Nicht wenige Ökonomen und Wirtschaftsjournalisten sprechen gar von einem "zehnjährigen Boom". Bei genauerem Hinschauen wird klar: Eine Boomphase war es in erster Linie für die Konzerne und deren Profite, für die Reichen und die Bezieher von Spitzeneinkommen, von Dividenden (Aktionäre) und anderen Gewinn- und Vermögenseinkommen. Im Boom-Schatten allein des Exportweltmeisters Deutschland müssen Millionen arme Kinder und 4,1 Millionen Hartz-IV-Empfänger leben. Die Lebenswirklichkeit der überwiegenden Menschen in den südlichen Ländern der EU - allen voran in Griechenland - hat sich drastisch verschlechtert. Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich weltweit in den zurückliegenden Jahren extrem auseinander entwickelt. Zu welchen sozialen Verwerfungen das führt, zeigt aktuell die Situation in Chile, dem "Nordkorea des Neoliberalismus".


2019 ist nicht 2008 - es ist leider schlimmer

Vergleicht man die gegenwärtige Situation mit der Finanzkrise der westlichen Welt vor elf Jahren, so gibt es vor allem einen großen Unterschied: Die heutige Weltwirtschaft verfügt über keinen vergleichbaren Motor mehr, der sie aus der Flaute herausholen könnte. Vor elf Jahren gab es noch die BRICS-Staaten (die aufstrebenden Wirtschaftsmächte Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) und insbesondere China mit seiner ambitionierten Investitionspolitik. Die chinesische Wirtschaft befindet sich derzeit in einem Transformationsprozess mit dem Ergebnis, dass heute und in Zukunft von einer Wachstumsrate von 6% und nicht mehr von mehr als 10% zu der vorherigen Periode ausgegangen wird. Und die Volkswirtschaften der übrigen BRICS-Staaten befinden sich selber im Krisenmodus oder spielen - wie Indien - (noch) nicht die Rolle, um die Weltwirtschaft zu stabilisieren oder gar neue Impulse zu geben.

Erschwerend hinzu kommt der von Trump angezettelte Handels- und Wirtschaftskrieg. Vor zehn Jahren bestand die Bereitschaft der größten Wirtschaftsnationen zu einem gemeinsamen, synchronen und koordinierten Krisenmanagement, um eine wirtschaftliche Katastrophe zu verhindern. Ausdruck davon waren die abgestimmten und gigantischen Konjunkturpakete, insbesondere von China und den USA. Das manifestierte sich auch in den G20-Treffen mit Einbeziehung der wichtigsten Schwellenländer. Der Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson hatte drei Jahre davor - 2006 - den Neologismus "Chimerika" geprägt, der das symbiotische Verhältnis zwischen USA und China ausdrücken sollte - die gegenseitige Abhängigkeit und auch Kooperation. Ferguson hat mit "Chimerika" heute nichts mehr am Hut. Stattdessen erklärt er ganz im Sinne von Trumps "Make America great again" im Handelsblatt-Interview: "Ich befürworte sogar einen neuen Kalten Krieg, damit die USA sich wirtschaftlich aufraffen, investieren und dann bei der 6G-Technologie wieder führend sind." (Handelsblatt 5.9.19).


Ursachen der Wirtschaftskrisen sind systemischer Natur des Kapitalismus

Die Ursachen der vergangenen und der künftigen Wirtschaftskrisen sind systemischer Natur. Die kapitalistische Wirtschaft entwickelt sich seit eh und je zyklisch: Aufschwung - Boomphase - Abschwung - Rezession (ggf. Depression). Bedingt wird dies durch das tendenzielle Auseinanderdriften von Angebot (Produktionskapazitäten) und kaufkräftiger Nachfrage (resultierend aus der Doppelnatur des Lohnes: Einerseits Kostenfaktor für den einzelnen Kapitalisten, den es zu senken gilt, und Massenkaufkraft in der Summe der Löhne auf der anderen Seite (siehe hierzu das oben angeführte Marx-Zitat).

Wer sich tiefer mit der marxistischen politischen Ökonomie (einschl. der Krisentheorie) auseinandersetzen will, kommt nicht umhin, zu den Bänden des "Kapitals" zu greifen.


Engels veröffentlicht vor 125 Jahren den dritten Band des "Kapitals"

Friedrich Engels kündigt Mitte November 1894 das Erscheinen des dritten Bandes des "Kapitals" für den Folgemonat an. Eine kurze von Engels verfasste Inhaltsangabe kann man aus einer Anzeige des Hamburger Verlegers Otto Meißner entnehmen, die im Leipziger "Börsenblatt für den deutschen Buchhandel" erschienen ist (14.11.1894). Darin heißt es: "Dieses dritte Buch des Marxschen Hauptwerks bildet den Abschluss des theoretischen Theils. Das erste Buch behandelte den Produktionsprozess, das zweite den Cirkulationsprozess des Kapitals. Nachdem somit die beiden Hauptfunktionen, worin das Kapital sich bethätigt, jede einzeln und für sich in ihren Bedingungen, ihrem Verlauf und ihren Resultaten untersucht, geht der Verfasser im dritten Buch über zur Darstellung des Gesamtverlaufs des kapitalistischen Bewegungsprozesses, der beide Phasen, Produktion und Cirkulation, als seine Momente einschliesst.

Wenn das erste Buch entwickelte, wie der Mehrwert produziert wird, und das zweite wie er realisiert wird, so weist uns das dritte nach, wie er verteilt wird. Es ist gerade die Spaltung des Mehrwerts in seine einzelnen Unterabteilungen: industrieller Profit, Handelsgewinn, Zins, Grundrente und deren Aneignung durch die verschiedenen Interessenten, worin die Gesamtbewegung des Kapitals augenfälllig und als entscheidende Macht an die Oberfläche der Gesellschaft tritt. Die Gesetze dieser Spaltung und Verteilung unter Industrielle, Warenhändler, Geldhändler, Kredithändler, Spekulanten, Grundeigentümer werden hier vom Verfasser im einzelnen nachgewiesen..."

In einem Brief an Johann Philipp Becker schreibt Engels: "Dieser dritte Band, der die abschließenden Resultate enthält, und zwar ganz brillante Sachen, wird die ganze Ökonomie endgültig umwälzen und enormen Lärm machen."

Marx war über den Arbeiten zu diesem Werk 1883 gestorben, nicht ohne zuvor Engels als "literarischen Exekutor" zu bestimmen. Dieser mühte sich elf Jahre ab, die Arbeit daran abzuschließen; er fügte auch kritische Bemerkungen ein oder machte Ergänzungen hinsichtlich neuerer Entwicklungen im Vergleich zur Sachlage von 1864/65, aus dem die meisten Manuskripte von Marx stammten.


Von Monopolen, Banken, Börsen - und der Natur

Der Öffentlichkeit wurden mit dem Erscheinen des dritten Bandes des "Kapitals" die Darlegungen von Marx und Engels zu solch wichtigen gesellschaftlichen Erscheinungen zugänglich wie den Gesetzen der Profitrate, den Formen der Zentralisation des Kapitals und des Übergangs zum Monopol. Marx/Engels gehen auf die wachsende Rolle der Banken, des Finanzkapitals und der Börse ein. Allein diese Stichworte machen deutlich, dass "Kapital III" wichtige Hinweise gibt angesichts der realen ökonomischen sowie wirtschafts- und sozialpolitischen Krisen und Konflikte.

Und nicht zuletzt ist Marx in diesem Werk auch ganz "aktuell" in Hinblick auf die Verantwortung des Menschen für den Erhalt der Natur. In den abschließenden Kapiteln 46 bis 52 widmet er dieser Problematik breiten Raum und formuliert eine Art ökologischen "kategorischen Imperativ": "Vom Standpunkt einer höhern ökonomischen Gesellschaftsformation wird das Privateigenthum, einzelner Individuen am Erdball ganz so abgeschmackt erscheinen, wie das Privateigenthum eines Menschen an einem andern Menschen. Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen sind nicht Eigenthümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias (gute Familienväter, G.St.) den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen." (MEW 25, 784)(3)


"Es wird notwendig sein, das Dogma des Marktes aufzugeben"

Zurück zu den eingangs erwähnten Befürchtungen hinsichtlich einer kommenden großen Wirtschaftskrise. Wie könnten Erfolg versprechende Gegenmaßnahmen aussehen, und zwar im Sinne der arbeitenden Bevölkerung.

Hierzu schreiben Cottenier/Houben: "Bisher haben alle Versuche, aus der Krise herauszukommen, sei es durch Geldpolitik, niedrigere Zinsen oder Rückkaufmaßnahmen inländischer Banken, wenig oder gar nichts gebracht.

Es wird zwangsläufig notwendig sein, das Dogma des Marktes aufzugeben.

Der Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft wird nicht ohne erhebliche Investitionen gelingen, die für die Aufrechterhaltung des Klimawandels in nachhaltigem Maße unerlässlich sind. Die Durchführung solcher Maßnahmen muss mit einer produktiven Nutzung des überschüssigen Kapitals einhergehen, das derzeit in Monopolen, Investment- und Spekulationsfonds und letztlich zwischen den reichsten 10% der Bevölkerung gehandelt wird. Dieses Geld muss verwendet werden, um die öffentlichen Mittel bereitzustellen, die für den ökologischen Übergang erforderlich sind.

Historisch gesehen wissen wir, dass nur die Intensivierung des Klassenkampfes dazu führen wird, dass die Bourgeoisie nachgibt. Sie sieht dann ihre Interessen bedroht, bis hin zur Untergrabung des gesamten Systems. ihre Interessen bedroht, bis hin zur Untergrabung des gesamten Systems. Und das befürchten die internationalen Führer: dass eine ausweglose Wirtschafts- und ökologische Krise zur Forderung nach einem neuen Gesellschaftsmodell führen wird, nämlich einem Sozialismus 2.0, der die Bedürfnisse der Menschen und nicht den Profit in den Mittelpunkt seiner Politik stellt."(4)


Anmerkungen:

(1) https://www.solidaire.org/articles/une-nouvelle-crise-est-nos-portes-grand-format
Zit. nach: http://kommunisten.de/news/analysen/7689-eine-neue-krise-steht-vor-der-tuer

(2) Jannick Damgaard, Thomas Elkjaer und Niels Johannesen, "The Rise of Phantom Investments", IMF, Finance & Development, September 2019

(3) Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 25 oder Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) II/15. Beide Ausgaben sind z.B. in der Kieler Universitätsbibliothek vorrätig und auch zu entleihen.

(4) https://www.solidaire.org/articles/une-nouvelle-crise-est-nos-portes-grand-format
Zit. nach: http://kommunisten.de/news/analysen/7689-eine-neue-krise-steht-vor-der-tuer

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Quelle:
Gegenwind Nr. 375, Dezember 2019, Seite 15-18
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Januar 2020

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