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GEGENWIND/821: Der Aufstand der schlesischen Weber


Gegenwind Nr. 371 - August 2019
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

Der Aufstand der schlesischen Weber
Vor 175 Jahren betritt das Proletariat die politische und theoretische Bühne in Deutschland

von Günther Stamer


Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch,
Wir weben, wir weben!

(Heinrich Heine, 1845)


Im Zusammenhang mit der letztjährig erfolgten Würdigung des Kieler Matrosenaufstand vor 100 Jahren wurde vielfach davon gesprochen, dass die Matrosen und Arbeiter damit "das Signal" für tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen gegeben hätten. Gleiches muss man den schlesischen Webern attestieren, die vor 175 Jahren mit ihrem "Aufstand" das Proletariat auf die politische, theoretische und literarische Bühne in Deutschland brachten. Und schon zwei Wochen vorher streikten 200 Eisenbahnarbeiter in Kiel - bis das Militär dem Ausstand ein gewaltsames Ende bereiteten.

"Das Blutgericht"

Zu Beginn der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts herrschten in allen textilindustriellen Regionen des Deutschen Bundes große Not; 1843/1844 steigerten eine akute Absatzkrise, gepaart mit Missernten die Lage extrem. Besonders katastrophal war die Lage der Spinner und Weber in zu Preußen gehörenden Schlesien.

Grundlage der Ausbeutungsverhältnisse der Weber war das frühindustrielle sogenannte "Verlagssystem". Das bedeutete, der Kaufmann (der "Verleger", auch "Fabrikherr" genannt) gab das Garn an die Weber aus, die daraus zu Hause mit ihrem Webstuhl das Gewebe herstellten und für die fertige Ware wiederum ausgezahlt wurden. Formal selbständig, waren die Weber dem Kaufmann tatsächlich restlos ausgeliefert. Da vor allem für den Exportmarkt produziert wurde, wälzte der Verleger jede nachteilige Preisentwicklung aufgrund von Absatzschwankungen und der technisch überlegenen englischen Konkurrenz, die mit günstigerem und höherwertigem Maschinengarn arbeitete, auf den Heimweber ab, indem er den Lohn kürzte und weniger Aufträge vergab.

Der Hass auf die Fabrikherren schlug sich in einem Lied nieder, das die Weber "Das Blutgericht" nannten und bei ihren Zusammenkünften sangen. In einer der Strophen heißt es

"Ihr Schurken all, ihr Satansbrut,
Ihr höllischen Dämone,
Ihr freßt der Armen Hab und Gut
Und Fluch wird Euch zum Lohne."

Besonders verhasst war der Fabrikant Zwanziger, der in Peterswaldau und Langenbielau über fünftausend Heimarbeiter beschäftigte. Am 4. Juni 1844 marschierten mehrere Hundert Weber zu seiner Villa, drangen in die Geschäftsräume und das Warenlager ein, plünderten die Kasse und zerrissen die Geschäftsbücher, Wechsel und Rechnungen. In den folgenden beiden Tagen breitete sich dieser Aufruhr aus, bis er am 6. Juni vom Militär niedergeschlagen wurde. Zurück blieben elf Tote und 26 schwerverletzte Weber.

Im nachfolgenden Prozess verurteilte der Kriminalsenat des königlich-preußischen Oberlandesgerichts zu Breslau am 31. August 1844 achtzig revoltierende Weber zu insgesamt 203 Jahren Zuchthaus und 90 Jahren Festungshaft.

Eine ganze Reihe von Streiks und Demonstrationen erschütterten daraufhin in jenen Tagen den Deutschen Bund: In Berlin streikten die Textilarbeiter, in Magdeburg die Arbeiter der Zuckerfabriken, in Aachen die Tuchweber, in Sachsen und Preußen die Eisenbahnarbeiter.

Nicht nur Maschinensturm und Hungerrevolte

Der schlesische Weberaufstand erlangte breiten Widerhall in der Öffentlichkeit wie kein anderer proletarischer Protest zuvor im Deutschen Bund. Dabei wurde der Aufstand der Weber gemeinhin als "Hungerrevolte" oder "Maschinensturm" gewertet. Beide Deutungen beschreiben allerdings nur Teilaspekte der Aktionen. Der Aufstand war in seinem Kern kein Gefecht gegen die fortschreitende Industrialisierung, kein verzweifelter Abwehrkampf der Handarbeit gegen die Maschinenarbeit. Nicht in der Konkurrenz der Maschine, sondern im Verhalten der Kaufleute, der "Fabrikherren" erblickten die Weber die Quelle ihres Elends.

Charakteristisch für die bisherigen, der vorindustriellen Proteste war, dass sie sich gegen die Obrigkeit, nicht gegen die Unternehmer richteten. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wird der Fabrikant dann Adressat des Protestes, dem Haus, Maschinen und die Fabrik zerstört wird. Eine neue Qualität der Proteste beginnt mit dem Weberaufstand. Hier richtete sich der Protest nicht vorrangig gegen die "Maschine an sich" sondern um die Anschaffung von "neuen Vorspinn- und Klarspinnmaschinen" in deren Folge viele Weber arbeitslos geworden waren.

So müssen die Zerstörungen von Maschinen, Fabrikgebäuden, Villen während des Weberaufstandes also nicht uneingeschränkt als "rückwärtsgewandt" oder als "anachronistisch-chaotischer" Aktionismus betrachtet werden, sondern als probates Mittel im Arbeitskampf. Der britische Historiker Eric Hobsbawm nannte solches Verhalten mit Blick auf ähnliche Aktionen in England wenige Jahrzehnte zuvor als "collective bargaining by riot" (Tarifverhandlungen durch Aufruhr).

Aufrührerische Weber sind frühe Proletarier

Ein Blick auf die Arbeitsbedingungen der aufrührerischen Weber macht deutlich, dass hier Grundelemente des modernen Lohnarbeitsverhältnisses vorhanden waren. Arbeiter, außerhalb der Zunftordnungen stehend, produzierten im Rahmen eines Vertragsverhältnisses für Privatunternehmer, die das Rohmaterial lieferten und die geleistete Arbeit auf Stücklohnbasis bezahlten. Oftmals waren auch die Produktionsmittel (der Webstuhl zum Beispiel) durch Verschuldung der Arbeiter in den Besitz des Unternehmers übergegangen. Auch hinsichtlich der Monotonie der Arbeit wies die Verlagsarbeit Ähnlichkeiten mit moderner Lohnarbeit auf, denn die Unternehmer teilten häufig die verschiedenen Arbeitsgänge des Gesamtprozesses (etwa Spinnen, Weben, Walken, Färben) zwischen verschiedene Produzenten auf.

In zwei Punkten unterschied sich die Verlagsarbeit allerdings von den gängigen Formen von fabrikmäßiger Produktion: Der Arbeiter produzierte zuhause und in den Arbeitsprozess war seine gesamte Familie eingeschlossen.

Im Verlagssystem waren also Elemente traditioneller und moderner Produktionsverhältnisse miteinander verquickt. "Für die begriffliche Unterscheidung zu kleinen Handwerksbetrieben ist entscheidend, dass sie beim Verkauf ihrer Produkte nicht mehr zwischen verschiedenen Abnehmern wählen konnten, sondern an einen Abnehmer gebunden waren, von dem sie die Rohstoffe und/oder Halbfertigprodukte zur auftragsgemäßen Bearbeitung übernahmen. Insofern verkauften sie im Grunde nicht mehr ihr Arbeitsprodukt für einen bestimmten Preis auf dem Markt, sondern ihre Arbeitsleistung für einen bestimmten Lohn. Anders als selbständige Handwerker und ähnlich den Arbeitern in Betrieben waren sie Lohnarbeiter."(1)

Das Proletariat erreicht die "Theorie"

In der deutschen Öffentlichkeit löste der Weberaufstand von 1844 eine erste große Debatte über die entstehende Arbeiterbewegung und über die "soziale Frage" aus. Die öffentlichen Debatten wurden einerseits begleitet von einer Welle sentimentaler Gedichte, Erzählungen und Dramen, andererseits durch praktische Maßnahmen. "Revolutionsvermeidung durch Sozialreform" wurde zum Beispiel Leitmotiv des "Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Classen", in dem das besitzende und gebildete Bürgertum Preußens die "sittlichen und wirtschaftlichen Zustand der arbeitenden Classen" verbessern wollten.

Dass dem Weberaufstand nicht bloß lokale Bedeutung zukomme, stellten auch deutsche Frühsozialisten und Radikaldemokraten fest. So z.B. Wilhelm Wolff (der spätere Mitbegründer des Bundes der Kommunisten), der in seinem 1845 veröffentlichten Bericht "Das Elend und der Aufruhr in Schlesien" feststellt: "Die Proletarier Deutschlands haben hier eine Niederlage, aber nur zum Scheine, erlitten. Jene schlesischen Weber sind die verlornen Posten einer siegreichen Zukunft."

Vor dem Hintergrund des Aufstandes der schlesischen Weber kam es zu intensiven Diskussionen zwischen führenden deutschen Radikalen, die die Zeitschrift "Vorwärts!" herausgaben und den Leitern des auf frühkommunistischen Positionen stehenden "Bundes der Gerechten".

Bezeichnend für die "deutschen Verhältnisse" war, dass diese Diskussion in Paris stattfand. Mit den Karlsbader Beschlüssen (1819) hatten sich die deutschen Fürsten in seltener Eintracht auf eine staatenübergreifende Verfolgung jeder Form von radikaldemokratischer Gesinnung geeinigt, was rigorose Pressezensur sowie die Überwachung der Universitäten und aller verdächtigen Vereine (einschließlich der Turnvereine) beinhaltete. Dies hatte zur Folge, dass die deutsche Kolonie in Paris im Jahre 1844 auf über 40.000 Mitglieder angewachsen war und sich demokratische und Gesellen-Organisationen sowie die ersten kommunistischen Vereinigungen Deutschlands - als "Auslandsorganisationen" - gegründet hatten.

In der Diskussion der linken Deutschen in Paris ging es leidenschaftlich darum, wie der Kampf um bürgerliche Volkssouveränität in Gestalt einer deutschen Republik (die nationale Frage) und die zarten Pflänzchen einer deutschen Arbeiterbewegung (die soziale Frage) gegen die territorialen Feudal-Fürsten und die Früh-Kapitalisten strategisch-taktisch verzahnt werden könne.

Und Karl Marx, neben Heinrich Heine und Georg Herwegh wohl der bekannteste Deutsche in diesem Kreis, schreibt: "Der schlesische Aufstand beginnt gerade damit, womit die französischen und englischen Arbeiter-Aufstände enden, mit dem Bewusstsein über das Wesen des Proletariats. Die Aktion selbst trägt diesen überlegenen Charakter. Nicht nur die Maschinen, diese Rivalen des Arbeiters, werden zerstört, sondern auch die Kaufmannsbücher, die Titel des Eigentums, und während alle andern Bewegungen sich zunächst nur gegen die Industrieherrn, den sichtbaren Feind, kehrten, kehrt sich diese Bewegung zugleich gegen den Bankier, den versteckten Feind."(2)

Streik Kieler Eisenbahnarbeiter

Der Weberaufstand ist im historischen Gedächtnis verwurzelt (nicht zuletzt durch das Drama von Gerhart Hauptmann und Heinrich Heines Gedicht). Weit weniger bekannt ist, dass im Jahr des Weberaufstandes bereits fünf größere Eisenbahnarbeiterstreiks und für das Jahr 1845 bereits dreizehn Streiks von Eisenbahnarbeitern dokumentiert sind.(3)

Fast zeitgleich mit dem Weberaufstand kam es am 23. Mai 1844 in Kiel zu einem Streik der beim Bau der Eisenbahnlinie Kiel-Altona beschäftigten Arbeiter. 200 Arbeiter legten die Arbeit nieder und zogen von Gaarden in die Stadt Kiel zum Eisenbahnbüro, um für eine Erhöhung des Vorschusses auf den Akkordlohn zu kämpfen. Sie weigerten sich, wieder an die Arbeit zu gehen, solange man ihnen nicht einen höheren Vorschuss auf ihren Akkordlohn bewilligte. "Es musste Militär eingesetzt werden, das den Haufen vertrieb. (...) Dieser Eisenbahnarbeiterstreik war der erste in Schleswig-Holstein. Er wirkte wie das Brandzeichen des neu heraufziehenden industriellen Zeitalters."(4) Das "Kieler Correspondenzblatt" (Nr. 42/1844) schrieb darüber: "Es zogen (...) gegen zweihundert Arbeiter in die Stadt, umlagerten das Eisenbahnbüro in drohender Stellung und weigerten sich, der Aufforderung des Sectionsingenieurs, sich hinweg zu begeben und wieder an die Arbeit zu gehen, Folge zu leisten. Als Grund ihrer Widersetzlichkeit führten sie an, dass ihnen ein zu geringer Vorschuss auf ihren Accordlohn bewilligt werde. Das hinzu gerufene Militär, welches leider erst spät in gehöriger Anzahl eintraf, vertrieb den tumultuierenden Haufen aus der Stadt. Die Folge wird sein, dass viele Arbeiter die Eisenbahnarbeit verlassen müssen und eine Anzahl bestraft wird."(5)


Literatur

1) Kocka, Jürgen (1990): Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert. Bonn, S. 230

2) Karl Marx, Kritische Randglossen zu dem Artikel 'Der König von Preußen und die Sozialreform'. In: MEW 1, S. 404

3) Kuczynski, Jürgen (1961): Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus. Band 1: Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1789 bis 1849. Berlin (DDR), S. 193

4) Regling, Heinz Volkmar (1965): Die Anfänge des Sozialismus in Schleswig-Holstein, Neumünster, S. 47/48

5) Trautmann, Günter (1975): Liberalismus, Arbeiterbewegung und Staat in Hamburg und Schleswig-Holstein 1862-1869. In: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 15. Bonn-Bad Godesberg, S. 88

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Quelle:
Gegenwind Nr. 371 - August 2019, Seite 21 - 24
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2019

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