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GEGENWIND/743: Wirtschaftswunderland


Gegenwind Nr. 352 - Januar 2018
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

Wirtschaftswunderland
"... kennt die deutsche Wirtschaft nur eine Richtung: nach oben"

von Günther Stamer


"Wirtschaftswunderland. Seit der Weltfinanzkrise kennt die deutsche Wirtschaft nur eine Richtung: nach oben" (FAZ-Kommentar am 15.11.17).


Die "Wirtschaftsweisen" haben die Prognosen für das Wirtschaftswachstum in Deutschland auch für 2018 nach oben revidiert. Für das Jahr 2017 wird jetzt ein Wachstum von 2,0 Prozent prognostiziert, für das neue Jahr wurde die Prognose von bisher 1,6 Prozent auf 2,2 Prozent angehoben. Aber offenbar profitiert ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung nicht von der guten wirtschaftlichen Gesamtentwicklung. Fast jeder fünfte Mensch hierzulande ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Deren Anteil Von 19,7 Prozent der Bevölkerung entspricht etwa 16 Millionen Menschen, wie das Statistische Bundesamt Mitte November mitteilte.

Eine Person gilt als von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, wenn mindestens eine der folgenden drei Lebenssituationen zutrifft: Ihr Einkommen liegt unter der Armutsgefährdungsgrenze, ihr Haushalt ist von erheblicher materieller Entbehrung betroffen oder sie lebt in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung.

Eine Person gilt als armutsgefährdet, wenn sie über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. 2016 lag dieser Schwellenwert für eine allein lebende Person in Deutschland bei 1064 Euro, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2234 Euro im Monat. 3,7 Prozent waren von erheblicher materieller Entbehrung betroffen. 9,6 Prozent der Bevölkerung unter 60 Jahren lebten in einem Haushalt mit sehr niedriger Erwerbsbeteiligung.

Kinder mit Hartz IV: Neuer Höchststand

In Deutschland beziehen 14,6 Prozent der Kinder und Jugendlichen Leistungen nach dem SGB II. Damit hat der Anteil der Kinder, die auf "Hartz IV" angewiesen sind, einen neuen Höchststand erreicht. Das zeigt eine Auswertung der aktuell verfügbaren Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit.

Die Quoten für die Kinder und Jugendlichen in der Kiel Region, die auf SGB II Leistungen angewiesen sind, liegen zum Teil deutlich über den Bundesdurchschnitt (siehe Tabelle).

2011
2017
in Kiel
in Neumünster
im Kreis Plön
im Kreis RD-Eck
24,9 %
20,4 %
8,7 %
8,9 %
30,4 %
24,9 %
11,5 %
12,0 %


"Die hohen Hartz-IV-Quoten in der Kiel Region zeigen, das bedingungslose Erfordernis in eine kostenfreie Bildungsinfrastruktur sowie in eine faire Ordnung am Arbeitsmarkt, die es den Eltern möglich macht, die Familie aus guten Arbeitsbedingungen - sozialversichert, tarifgebunden und mitbestimmt - heraus selbst zu finanzieren.", kommentiert Frank Hornschu, Vorsitzender der DGB Kiel-Region diese Zahlen (PM 28.11.2017).

Noch drastischer fallen die Kinder-Armuts-Zahlen aus, wenn man nicht nur den SGB II-Leistungsbezug zu Grunde legt, sondern "Armut" als Zustand bezeichnet, in dem eine Familie mit Kindern mit weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens auskommen muss. Danach lebt einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge jedes fünfte Kind in Deutschland für längere Zeit in Armut. Weitere zehn Prozent befinden sich an der Grenze zwischen dauerhaft gesicherter und nicht gesicherter Lage und rutschen immer wieder in Armut.

Mehr Menschen als bekannt arbeiteten unter Mindestlohn

Mehr Menschen als bislang bekannt haben einer Studie zufolge in den vergangenen Jahren unterhalb des Mindestlohns gearbeitet. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) wurden 2015, direkt nach der Einführung der gesetzlichen Lohnuntergrenze, noch 2,1 Millionen Beschäftigte schlechter bezahlt als 8,50 Euro pro Stunde. Auch im ersten Halbjahr 2016 bekamen demnach 1,8 Millionen Menschen keinen Mindestlohn, obwohl sie eigentlich einen Anspruch darauf haben.

Während sich die Mindestlohnkommission auf Ergebnisse der sogenannten Verdienststruktur-Erhebung beruft, also auf die Angaben aus den Lohnbuchhaltungen der Betriebe, haben die DIW-Forscher die Beschäftigten selbst befragt. In ihrem sogenannten sozioökonomischen Panel berichten Beschäftigte aus 11.000 Haushalten jedes Jahr, wie viel sie arbeiten und was sie verdienen. Aus ihren Angaben zu ihren tatsächlichen Arbeitszeiten, die nicht vertraglich festgehalten sind, ergebe sich eine noch höhere Zahl von Menschen, die unterhalb des Mindestlohns arbeiten, hieß es in dem Bericht. Im Jahr 2016 seien das 2,6 Millionen Erwerbstätige gewesen. Schließt man die Beschäftigten ein, für die branchenspezifische Mindestlöhne gelten, waren es laut DIW im vergangenen Jahr sogar 3,3 Millionen Menschen und damit zehn Prozent aller Beschäftigten (ND 6.12.17).

Multijobbing boomt

Immer mehr Beschäftigte gehen mehreren Jobs nach, weil einer alleine schlicht nicht zum Leben reicht. Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit (BA) standen Anfang 2017 3,2 Millionen Lohnabhängige parallel in mehreren Beschäftigungsverhältnissen.

Am weitesten verbreitet ist laut BA die Kombination von einer sozialversicherungspflichtigen mit mindestens einer zusätzlichen geringfügigen Beschäftigung. Hierauf sind 2,7 Millionen Personen angewiesen. Mehr als 310.000 haben mindestens zwei sozialversicherungspflichtige Jobs. In mehreren geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen befinden sich über 260.000 Lohnabhängige.

"Die Einführung des allgemeinen Mindestlohns von derzeit 8,84 Euro brutto in der Stunde sei nicht ausreichend gewesen, um Arbeit existenzsichernd zu machen. Nötig sei deshalb dessen Erhöhung und die Abschaffung von Niedriglohnbeschäftigung in Form der Leiharbeit", so die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linkspartei im Bundestag, Sabine Zimmermann.

In Kiel haben rund 7.800 Menschen neben dem Haupterwerb noch einen Minijob - 49 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren. Das teilt die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) mit. Besonders verbreitet sind Zweitjobs demnach im Gastgewerbe: 1.070 geringfügig Beschäftigte arbeiten in der Branche in Kiel - zusätzlich zu einer sozialversicherungspflichtigen Stelle. Gegenüber 2007 stieg ihre Zahl um 123 Prozent.

Finn Petersen, Geschäftsführer der NGO Schleswig-Holstein Nord, spricht von einem "alarmierenden Trend". "Es kann nicht sein, dass immer mehr Menschen mit einem normalen Arbeitsverhältnis nicht über die Runden kommen." Auf den ersten Blick verzeichne der Arbeitsmarkt in Kiel steigende Beschäftigungsquoten "Doch die hohe Zahl der Zweitjobber zeigt, dass nicht alles Gold ist, was auf dem Arbeitsmarkt glänzt", so Petersen.

Mit Blick auf das Gastgewerbe kritisiert der Gewerkschaftler, die Branche dürfe nicht zur bloßen Minijobber-Domäne werden. "In Hotels, Pensionen und Restaurants brauchen wir mehr gelernte Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte. Aushilfen können auf Dauer keine Fachkräfte ersetzen." Schon heute seien die Klagen über fehlende Köche und Oberkellner groß. Doch die gewinne man nur, indem man gute Löhne zahle.

Ein Fünftel der Erwerbstätigen war 2016 atypisch beschäftigt

Sie hangeln sich von einer Befristung zur nächsten, werden als Leiharbeiter von einem in den anderen Betrieb geschoben oder bestreiten ihren Lebensunterhalt durch Minijobs: Die Zahl atypisch Beschäftigter hat sich 2016 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Vergleich zum Vorjahr erneut erhöht. Mehr als jeder fünfte Erwerbstätige war davon im vergangenen Jahr betroffen. Das waren über 10 Millionen.

Unter den atypisch Beschäftigten führt die Behörde knapp eine Million Leiharbeiter auf. Im Vergleich zu 2013 stieg der Leiharbeitsanteil unter den Beschäftigten um 16,4 Prozent. Und seit 2003 hat sich die Zahl sogar verdreifacht. Leiharbeit ist geprägt durch sehr kurze Arbeitsverhältnisse. 54 Prozent seien spätestens nach drei Monaten beendet gewesen. Lediglich 22,3 Prozent dauerten länger als neun Monate. Mehr als 15 Monate arbeiten demnach nur 14,1 Prozent der von Unternehmen "geliehenen" Menschen.

Abgespeist wurden Leiharbeiter den Angaben zufolge mit gerade einmal 58 Prozent des allgemeinen Durchschnittslohns. 1.816 Euro pro Monat bei Leiharbeit stünden 3.133 Euro bei Vollzeittätigkeit gegenüber. Doch damit nicht genug. Die Betroffenen geraten in eine deprimierende Spirale: warten auf die nächste "Verwendung", befristet jobben, erneut warten. Perspektive: schlecht.

Neben den 2,2 Millionen Menschen, die nur von Minijobs leben, führt das Bundesamt 4,8 Millionen Teilzeitbeschäftigte auf, die weniger als 20 Wochenstunden arbeiten. Weitere 2,7 Millionen hatten demnach lediglich einen befristeten Arbeitsvertrag in der Tasche.

Die Folge dieser prekären Beschäftigungsverhältnisse ist, dass damit fast jeder zehnte Beschäftigte armutsgefährdet ist. Waren im Jahr 2006 noch 5,5 Prozent der Erwerbstätigen von Armut bedroht, sind es im vergangenen Jahr 9,5 Prozent gewesen. Im Jahr davor waren es 9,7, 2014 noch 9,9 Prozent. Als armutsgefährdet gilt, wer einschließlich staatlicher Transfers weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens erzielt.

Minijobreport Schleswig-Holstein

Anfang Dezember stellte der DGB Nord seinen Minijobreport vor. Danach waren im vergangenen Jahr in Schleswig-Holstein 269.980 Arbeitnehmer*innen in Minijobs beschäftigt. Davon waren zwei Drittel im klassischen Erwerbsalter von 25 bis 64 Jahren; eine überproportionale prozentuale Steigerung ist bei älteren Beschäftigten festzustellen.

60 Prozent der geringfügig Beschäftigten sind weiblich, der Anteil der Männer steigt aber in den letzten Jahren. Wie bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung beträgt der Ausländeranteil auch bei den Minijobs gerade mal sechs Prozent.

Vor allem im Einzelhandel und der Gastronomie sind Beschäftigte von diesen prekären Beschäftigungsformen betroffen. Der Großteil der Minijobbenden sind gut ausgebildete Fachkräfte: Drei Viertel haben mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung, nur rund ein Viertel verfügt über keinen beruflichen Abschluss.

Der Anteil der geringfügig Beschäftigten mit akademischem Abschluss steigt rasant. Während die Zahl der Minijobbenden insgesamt zwischen 2003 und 2016 um 32 Prozent zulegte, stieg in den letzten Jahren die Zahl derjenigen mit einer akademischen Ausbildung um mehr als 200 Prozent!

Die ausschließlich geringfügig Beschäftigten bilden in Schleswig-Holstein mit fast 66 Prozent den größten Anteil unter den Minijobbenden. 34 Prozent üben ihre Tätigkeit im Nebenjob aus. Gerade Personen mit diesem Beschäftigungsstatus haben in den letzten Jahren rasant zugenommen. So stieg die Anzahl der im Nebenjob geringfügig Beschäftigten seit 2003 von 38.275 auf 92.140 Personen und hat sich damit mehr als verdoppelt. Seit der Einführung der Minijobs ist ein kontinuierlicher Anstieg zu verzeichnen.

Die absolut meisten Minijobbenden beschäftigen mit Abstand der Einzelhandel und die Gastronomie mit mehr als 37.000 bzw. 30.000 solcher Arbeitsverhältnisse. Allein diese beiden der insgesamt 89 ausgewerteten Branchen vereinen ein Viertel aller geringfügigen Arbeitsverhältnisse auf sich, fünf Branchen vereinigen 40 Prozent der Minijobs allein auf sich. Ebenfalls in den TOP 5: Gebäudebetreuung / Garten- und Landschaftsbau (darunter auch Gebäudereiniger), das Gesundheitswesen und die privaten Haushalte mit Hauspersonal.

Die mit der Minijobreform 2003 erhoffte Brückenfunktion der Minijobs in sozialversicherte Beschäftigung zeigt kaum Wirkung. Insbesondere Frauen stecken in der Minijobfalle fest: 30 Prozent arbeiten mehr als neun Jahre, 51 Prozent über fünf Jahre als Minijobberin. Für 60 Prozent schließt sich keine sozialversicherte Beschäftigung an, nur 14 Prozent finden eine Tätigkeit als Vollzeitbeschäftigte.

Nach 45 Jahren in einem Minijob bei gewerblichen Arbeitgebern und Versicherungsfreiheit entsteht nur ein Rentenanspruch von 163,61 Euro. (alle Angaben nach PM DGB Nord 132/2017 - 07.12.2017).

Eckpunkte der DGB Kiel Region zur Kommunalwahl 2018

Zur bevorstehenden Kommunalwahl im Mai 2018 haben die Gewerkschaften in der DGB Kiel Region grundlegende Eckpunkte formuliert und den Parteien zugeleitet.

"Damit der Zusammenhalt vor Ort gelingt, bedarf es einer Reihe von politischen Maßnahmen", betont Frank Hornschu, Vorsitzender der DGB Kiel Region: "Denn nicht alle Menschen profitieren von der allgemeinen guten wirtschaftlichen Entwicklung. Etwa 155.000 Menschen in der Kiel Region haben eher keinen sicheren Arbeitsplatz; hinzukommt, dass in der Region rund 95.000 Menschen seit Jahren eine existenzsichernde Erwerbsarbeit suchen; immer mehr Kinder leben in Armut oder sind unmittelbar davon bedroht. Im rasanter werdenden Wandel sind der wachsenden Verunsicherung und Spaltung Perspektiven entgegenzusetzen. Die Gewerkschaften erwarten deshalb von der Kommunalpolitik, dass sie insbesondere für die finanzschwachen Kinder, Alleinerziehenden, Familien, zu- und eingewanderten Menschen ein breites gesellschaftliches Bündnis zur Bekämpfung der sozialen Brennpunkte, der Armut und sozialen Spaltung initiiert." (siehe http://kielregion.dgb.de)

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Quelle:
Gegenwind Nr. 352 - Januar 2018, Seite 22 - 24
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Januar 2018

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