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GEGENWIND/510: Anmerkungen zur Landtagswahl in Schleswig-Holstein


Gegenwind Nr. 285 - Juni 2012
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

Anmerkungen zur Landtagswahl

von Thomas Herrmann



Wenig überraschend wurde die schwarz-gelbe Regierung in Kiel abgewählt. An ihre Stelle wird eine neue Konstellation aus SPD, Grünen und dem SSW treten. Die FDP schaffte es wieder in den Landtag, die Linke nicht. Neu vertreten ist die Piratenpartei. Das Parlament verkleinert sich wieder auf 69 Sitze, weil es der SPD gelang, neben den großen Städten auch in Ostholstein, im Kreis Plön und im Hamburger Speckgürtel insgesamt 13 Direktmandate zu gewinnen. Damit gibt es diesmal keine Überhangmandate, die dazu führen würden, dass die Zahl der Abgeordneten und damit der Landtag vergrößert werden müssten.


Betrachtet man die Prozentanteile der Parteien, so ist ein einfacher politischer Swing zu beobachten: Die Oppositionsparteien gewinnen (bis auf die Linke), die Regierungsparteien verlieren, die Piraten kommen neu hinzu. Allerdings fanden die letzten Landtagswahlen gleichzeitig mit der Bundestagswahl statt und in der Folge stieg auch die Wahlbeteiligung gegen den Trend von 67% im Jahr 2005 auf 73% im Jahr 2009. Diese hohe Wahlbeteiligung und der Rückenwind einer starken Performance der Bundespartei dürften damals der Linken über die 5% Hürde geholfen haben. Die Wahlbeteiligung ist nun um 13% auf 60% abgesunken. Statt 1,636 Millionen haben nur noch 1,347 Millionen Bürger gewählt.

Der Rückgang der Wahlbeteiligung liegt nun in der allgemeinen Trendlinie der Bundesländer. Lag die Wahlbeteiligung in Schleswig-Holstein in den 70er Jahren noch zwischen 82% und 85%, so sank sie in den 80er Jahren auf 75% bis 80%, in den 90ern auf 70% und fiel dann 2005 auf 67%. Interessanter Weise hat die Wahlbeteiligung weder Einfluss auf die Qualität von politischen Entscheidungen noch auf die Legitimität des politischen Systems. Zu hohe Wahlbeteiligungen sind eher verdächtig.

Ohne Wahlen sind heute weder Politik noch Wirtschaft zu legitimieren. Soziologisch gesprochen sind Wahlen ein Ritual, das zeigt, was es verbirgt. Drei, vier oder fünf Jahre hat die Bevölkerung keine Macht. Diese liegt bei den politisch Professionellen. Dann kehrt sich dieses Verhältnis an einem Tag um: Die Bevölkerung hat alle Macht und die Politiker keine. Allein dieser rituelle Wechsel versorgt die Systeme mit hinreichend dosierter Ungewissheit und so mit Kommunikation. Solange durch Wahlen ein ritualisierter Wechsel möglich bleibt, können auch extrem niedrige Wahlbeteiligungen wieder in hohe umschlagen.

Trotzdem lohnt ein Blick auf die Veränderung der absoluten Zustimmung zu Parteien, die der Sache nach alle Stimmen verlieren, wenn 300.000 Bürger weniger wählen gehen. Nur die Piraten konnten deutlich gewinnen. Aus der Perspektive der real abgegebenen Stimmen sieht das Wahlergebnis so aus(1):

  • Die CDU verliert 100.000 Zweitstimmen (505.000 → 408.000).
  • Die SPD verbleibt bei 400.000 Zweitstimmen (407.000 → 403.000).
  • Die FDP verliert 130.000 Zweitstimmen (239.000 → 109.000).
  • Die Grünen verlieren 24.000 Zweitstimmen (199.000 → 175.000).
  • Die Linke verliert 65.000 Zweitstimmen (95.000 → 30.000).
  • Der SSW verliert etwas weniger als 10.000 Zweitstimmen (69.700 → 61.000).
  • Die Piraten gewinnen 80.000 Zweitstimmen hinzu (29.000 → 109.000).

Die CDU

ist knapp stärkste politische Partei in Schleswig-Holstein geblieben. Zu den glorreichen Zeiten des Jahres 1983, als die Partei 814.000 Wähler mobilisieren konnte, wird die CDU allerdings nicht mehr zurückkehren können. Eine schlechtere Mobilisierungsbilanz als zu dieser Landtagswahl hatte die CDU nur 1992 und in den Jahren 1947 bis 1954 vorzuweisen, bei allerdings teils erheblich weniger Wahlberechtigten und der starken Konkurrenz von Flüchtlingsparteien, die 1950 immerhin 23% erreichten.

Dass die CDU an Zustimmung verloren hat, ist vielleicht auch auf die misslungene Kommunikation von Jugend durch den vormaligen und dessen späte Substitution durch den dann aktuellen Ministerpräsidentenkandidaten zurückzuführen; zumal der Letztgenannte die Schließung einer Landesuniversität für die adäquate Antwort auf die Finanzkrise gehalten hatte.

Bedeutender ist das Kommunikationsversagen, das sich in der euphemistisch als "Konsolidierungspolitik" ausgegebenen Rücknahme sozialer Anrechte gezeigt hat. In den von der Kürzungspolitik betroffenen Gruppen gab es auch viele CDU-Wähler, die diesmal nicht CDU gewählt haben. Die CDU hat so 9.000 Wähler an die SPD, 4.000 an die Grünen, 14.000 an die Piraten, 4.000 an den SSW und 3.000 an Andere verloren. Der stärkste Block bildet die Abwanderung ins Nicht-Wählerlager. 59.000 CDU Wähler sind diesmal gar nicht erst zur Wahl gegangen. Diesen Aderlass konnten dann auch die leichten Gewinne von der .FDP (6.000) und der Linken (3.000) nicht kompensieren.

Empirische Evidenz kann beanspruchen, dass Anrechtskürzungen nicht zur Haushaltssanierung führen. Die Koevolution der Moderne findet in Politik und Wirtschaft zugleich statt, es handelt sich um ein Steigerungsverhältnis. Die Reduzierung politischer Anrechte führt nicht zu einer Verbesserung wirtschaftlicher Angebote. Das Wachsen der Ungleichheit in der Folge von Anrechtskürzungen steigert eher Erwartungsunsicherheit und die Wahrscheinlichkeit dramatischer Auseinandersetzungen, was unverzüglich wirtschaftlich eingepreist wird. Eine Schwächung der Politik führt also nicht, wie gerne behauptet wird zu einer Stärkung der Wirtschaft, sondern zur Schwächung sowohl der Politik als auch der Wirtschaft. Regelmäßig enden Kürzungspolitiken mit dem Niedergang der Parteien, die diese verantworten.


Die SPD

konnte ihre Wähler in der Summe halten. Von der CDU kamen 9.000 Wähler hinzu, von den Grünen 14.000, von der FDP 19.000 und der Linken 9.000. Zwar verlor die SPD an die Piraten 10.000 Wähler und 42.000 ehemalige SPD-Wähler gingen nicht mehr zur Wahl, aber insgesamt blieb es ein Nullsummenspiel.

Für die größte Oppositionspartei ist das kein überzeugendes Ergebnis. In den langen Jahren der Opposition hat die SPD von 1954 bis 1983 ihre Stimmen stets vermehren können. 1987 kamen die Grünen und die SPD verlor leicht. Dann gewann die SPD die Wahl 1988 mit einer sensationellen Zustimmung von 858.000 Wählern. 1983, zum Zeitpunkt der stärksten Zustimmung zur CDU konnte die SPD immerhin ebenfalls über 700.000 Schleswig-Holsteiner motivieren, sie zu wählen. Auch das ist Schnee von gestern.

Dass die SPD sich nicht verbessern konnte hängt auch mit ihrer eher halbseidenen Oppositionspolitik zusammen. Anders als andere Landesverbände stimmte die SPD in Schleswig-Holstein für eine Verfassungsänderung in Sachen Schuldenbremse. Es ist aber nicht so, dass der Unmut über das Regierungshandeln sich automatisch in Wählerstimmen für die Opposition ausdrückt. Diese muss eine eigenes politisches Profil dagegen setzen. Davon ist zu wenig über gekommen. Aber immerhin, es hat durch Zuwarten gereicht die Regierung abzulösen.


Die FDP

hatte 2009 ein Ausnahmeergebnis. 240.000 Stimmen kamen für die Liberalen zusammen und damit mehr als doppelt so viele Stimmen wie im Jahr 2000. Das bis dahin beste Ergebnis der FDP brachte ihr in diesem Jahr 112.000 Stimmen. Das ist nicht weit entfernt von dem jetzigen Ergebnis.

Die FDP verliert an Alle, bis auf die Linkspartei. 6.000 Wähler gibt die FDP an die CDU ab, 19.000 an die SPD, 6.000 an die Grünen, 14.000 an die Piraten und 67.000 ehemalige FDP-Wähler gingen diesmal nicht zur Wahl.

Die Verluste sind unschwer auf die Falsifizierung irrealer Erwartungen an die FDP-Politik in Bund und Ländern zurückzuführen. Man hatte von CDU und FDP schon erwartet, dass sie das Land solide durch die Krise steuern könnten. Alle Wähler der FDP, die so motiviert gewesen sind, dürften der FDP diesmal abhanden gekommen sein.

Der Erfolg der FDP ist mit ihrem Frontmann in Schleswig-Holstein verbunden. Dieser ist vor allem Unternehmer in eigener Sache, der für eine Handvoll große Euroscheine Expeditionen ins rechtliche Grau übernimmt. Das findet durchaus Rückhalt in Haltungen hiesiger Stammwähler der FDP. Der FDP-Fraktionsvorsitzende ist auch ein Meister im Variete der Liberalismen. Das interessiert die Wähler zwar nicht so sehr wie Cash, aber es ist bei der medialen Bedeutungsvergrößerung nützlich.


Die Grünen

haben sich in Schleswig-Holstein am Entschiedensten im Ungefähren positioniert und bis Ende 2011 eine schwarz-grüne Option offen gehalten. Das hat dazu geführt, dass sich ihre Verluste tatsächlich in Grenzen gehalten haben. Sie verlieren 14.000 Stimmen an die SPD, 13.000 an die Piraten, 4.000 an den SSW und 12.000 an die Nichtwählergemeinde. Dem stehen Gewinne von der CDU in Höhe von 4.000 Stimmen, der FDP von 6.000 Stimmen und der Linken von 3.000 Stimmen gegenüber.

Finanzpolitisch haben sich die Grünen im Land als bessere Sparkommissare positioniert und es scheint so, als ob sie sich an dieser Stelle selbst ernst nehmen würden. Leider fehlt ein politisches Konzept, was die tönende Absicht unterlegen könnte. Es ist hier aber eine Sollbruchstelle absehbar. Der kommende Haushalt wird selbst bei Anrechtsverbesserungen flur die dänische Minderheit und Andere sowie verbesserte Finanzbedingungen für die Kommunen im Rahmen der Schuldenbremse bleiben können. In zwei Jahren wird es schwieriger, wenn es nicht zu einer steuerpolitischen Wende im Bund kommt. Das ist allerdings nicht unrealistisch und dringend nötig. Die Bevölkerung wird es sich nicht lange gefallen lassen, dass Regierungen Maßnahmen kassieren und wieder einführen. Der Abbau der öffentlichen Dienstleistungen bleibt dann, wie seit 20 Jahren, die einzige Konsolidierungskonstante im Land.


Die Linkspartei

ist die Verliererin der Wahl. Die Partei verliert 3.000 Wähler an die CDU, 9.000 an die SPD, 3.000 an die Grünen, 6.000 an die Piraten und 39.000 ehemalige Linkenwähler sind diesmal nicht zur Wahl gegangen. Die Gründe für die Niederlage sind vielfältig und an dieser Stelle nicht auszubreiten. Als Hauptgrund ist allerdings die mangelnde politische Reife dieser jungen Partei zu nennen, die es noch kaum auf die Höhe der politischen Herausforderungen geschafft hat.


Der SSW

musste auch Einbußen an die Nichtwähler hinnehmen, konnte aber von CDU und Grünen je 4.000 Wähler für sich einnehmen. Es ergibt sich eine neue Konstellation, wenn der SSW in eine Landesregierung eintritt. Das ist einerseits kaum zu vermeiden, will die Partei die Interessen der dänischen Minderheit wirksam schützen. Anderseits wird das aber auch den Druck auf ihre privilegierte Position, von der 5%-Klausel befreit zu sein, ausüben. Im SSW selbst wird es in dieser Konstellation zu Spannungen kommen, die wiederum auf die Kürzungspolitik zurückzuführen sind.


Die Piraten

sind die Gewinner der Wahl. Sie legen 80.000 Stimmen zu und ziehen von allen anderen Parteien Wähler ab. 14.000 kommen von der CDU, 10.000 von der SPD, 13.000 von den Grünen, 14.000 von der FDP, 1.000 vom SSW und 6.000 von der Linken. Als einzige Partei mobilisieren sie Nichtwähler und zwar 11.000.

Urteile über die Politik der Piraten sind noch kaum möglich, weil die Partei sich erst im politischen Formatierungsprozess befindet. Da die Piraten aber von allen Parteien ziehen, ist es realistisch sie im irgendwie dazwischen zu verorten. Die politischen Beschlüsse deuten daraufhin, dass es sich um eine weitere liberale Partei handelt, mit deutlich libertär-anarchistischem Einschlag. Und es ist auch eine neue Anrechtspartei, die sich von der Dysfunktionalität des politischen Systems nährt, eben gerade keine Anrechtspolitik formulieren zu können. Die Piraten haben in Schleswig-Holstein rot-grün verhindert und das ist nicht wenig, wenn man sich den politische Leistungskatalog des rot-grünen Projektes in Erinnerung ruft.


Fazit und Ausblick

Politisch auszufüllen ist die Stelle eines neuen/alten Selbstverständnisses des Landes Schleswig-Holstein. Bis in die 80er Jahre hinein war dieses von der Überzeugung geprägt, dass man halt arm sei und dass das gut so sei. Erst in der Ära Engholm fand das Land Anschluss an die Entwicklung und holte tatsächlich wirtschaftlich auf. Schon die Regierungen Simonis konnten das Tempo nicht halten und das Land fiel wieder zurück, aber das Selbstverständnis als armes Land war auf der Strecke geblieben. Anstatt nun auf der Schuldenorgel zu spielen, geht es darum die Wirklichkeit Schleswig-Holsteins zur Kenntnis zu nehmen. Das Land fällt bei den Durchschnittseinkommen zurück. Von den Westländern hat Schleswig-Holstein den letzten Platz erreicht. Beim Anteil der Niedriglöhner ist Schleswig-Holstein Spitze. Entsprechend ist die Steuerkraft des Landes schwach. Und, was bedeutender ist, die geläufigen Konzepte (Wettbewerbsfähigkeit, Konzerne anlocken) helfen da gar nicht oder verstärken den laufenden Prozess sogar noch weiter. Die Kürzungspolitik zum Beispiel bei der Schülerbeförderung wird Schulzusammenlegungen schwieriger machen, weil Widerstand von den Eltern zu erwarten ist, die diese ja bezahlen sollen. Großprojekte wie die Beltquerung, aber auch der Ausbau der Energienetze werden ebenfalls auf Widerstand stoßen, wenn nicht plausibel klar gelegt werden kann, was die Menschen im Land denn konkret davon haben. Es muss ein politisches Konzept her, welches das Land entwickelt. Um dorthin zu kommen, müssen allerdings noch einige dicke Bretter gebohrt werden.

Die anhaltende Rhetorik von Staatsschuldenkrise und Schuldenbremsen ist dazu hinderlich und führt zu nichts. In der Perspektive kaufmännischer Haushaltsführung sind die Schulden von heute die fehlenden Einnahmen (Steuern) von gestern. Die Gewinne von morgen sind die Investitionen von heute. Ein Kaufmann, der heute seine hohen Schulden zum Dauerthema macht, bereitet die Insolvenz von morgen vor.

Das Konzept, den Staat aufs Nötigste zu reduzieren ist aufzugeben. Damit wird zugleich die Wirtschaft aufs Nötigste reduziert. Die Länder in Europa, deren Schulden explodieren, sind diejenigen mit Staatsquoten unter 40% (Griechenland und Portugal 39%, Spanien und Irland 35%). Ein Land in Europa, dass seine Schulden seit 2009 abbauen konnte ist Schweden mit einer Staatsquote von über 50%.


Anmerkung

(1) Alle Zahlen aus der Veröffentlichung der Landeswahlleiterin und dem Wahlnachtbericht von Benjamin Hoff und Horst Kahrs. Im Netz unter: http://www.statistik-nord.de/wahlen/ und http://www.benjamin-hoff.de/

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Quelle:
Gegenwind Nr. 285 - Juni 2012, Seite 16-18
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2012