Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GEGENWIND/471: Bolivien - Das Problem einer "Regierung der sozialen Bewegungen"


Gegenwind Nr. 271 - April 2011
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

Bolivien: Das Problem einer "Regierung der sozialen Bewegungen"
Veranstaltungsreihe der Rosa-Luxemburg Stiftung zu Lateinamerika

Von Helge Buttkereit


In Lateinamerika gibt es viele widersprüchliche politische Prozesse. Den progressiven Regierungen in Venezuela, Bolivien oder Ecuador stehen im weitesten Sinne sozialdemokratische Prozesse wie in Brasilien und Argentinien sowie repressive Regierungen wie in Honduras oder besonders Kolumbien gegenüber.


Die Rosa Luxemburg Stiftung Schleswig-Holstein hat im März mit zwei Veranstaltungen zu Lateinamerika ihre Reihe begonnen. Für die kommenden Monate sind es Veranstaltungen, die sich in verschiedener Weise mit den gesellschaftlichen Realitäten in den Ländern zwischen Mexiko und Argentinien beschäftigen. Filme, Diskussionen und Vorträge stehen ebenso auf dem Programm wie Konzerte mit lateinamerikanischer Musik. Am 12. April um 20 Uhr im Café Phollkomplex in Kiel, Brunswicker Straße 52 stellt Helge Buttkereit (Karby, Kreis Rendsburg-Eckernförde) sein Buch "Utopische Realpolitik" vor. Die zweite Auflage mit dem Untertitel "Die Neue Linke in Lateinamerika" erschien im März und enthält einen aktualisierten Epilog, aus dem wir einen gekürzten und etwas aktualisierten Abschnitt zur Entwicklung in Bolivien im Jahr 2010 abdrucken. Bolivien unter Evo Morales wird am 12. April auch im Mittelpunkt stehen. Am 5. Mai um 19.30 Uhr wird dann in der Hansa48 die Reihe mit einem Film und einem begleitenden Vortrag zur Arbeiterkontrolle in Venezuela fortgesetzt:

Fünf Jahre ist Evo Morales nun der erste indigene Präsident Boliviens. Nachdem er zunächst noch gegen eine Mehrheit der Opposition in der zweiten Kammer des Parlaments regieren musste, kontrolliert seine "Bewegung zum Sozialismus" (MAS) nach dem überzeugenden Wahlsieg Ende 2009 nun auch den Senat. Nun sind Visionen und Gestaltungskraft gefragt. Während bis Ende 2009 die sozialen Bewegungen vor allem dann aktiv wurden, wenn es galt, gegenüber der rechten Opposition im Senat die Regierung zu unterstützen, bat sich das Bild an einigen Stellen gewendet. Jetzt richten sich die Forderungen verbunden mit Protesten verstärkt an die eigene Regierung.

Besonders deutlich wurde das zum Jahreswechsel 2010/2011, als die Regierung versuchte, die Subventionen für Treibstoffe zu kürzen. Die damit verbundenen Preiserhöhungen in allen Sektoren brachten Busfahrer aber auch Bauern gegen die Regierung auf. Selbst die Koka-Bauern, aus deren Bewegung der Präsident hervorgegangen ist und der er immer noch vorsteht, beteiligten sich an den Protesten. Nachdem Morales zunächst mit der Erhöhung der Mindestlöhne reagierte, nahm er nach immer stärkeren Protesten seiner eigenen Basis die Preiserhöhungen zurück. Treibstoff bleibt weiter subventioniert, Bolivien will nun verstärkt gegen den Schmuggel ins Ausland vorgehen. Dieser war einer der Hauptgründe für die Maßnahme der Regierung Morales. Der Präsident erklärte, dass er seinem Prinzip des "gehorchenden Regierens" treu geblieben sei, das er vor gut fünf Jahren zum Prinzip seiner Politik gemacht hat. Nun soll es zu Gesprächen über den Abbau der Subventionen kommen, so Morales. Dies und insbesondere die weitergehende Diskussion über die weitere Politik ist dringend notwendig, wenn sich die Bewegung und die Regierung nicht weiter voneinander weg bewegen sollen.

Denn bislang hat weder die Regierung eine klare Vorstellung, wie die neue Politik im Bezug zur Basis aussehen könnte, wie auch große Teile der Bewegung nicht bereit sind, ihre traditionellen Formen des Protests hin zu einer neuen Form der protagonistischen Selbstregierung - wie es in Venezuela unter Hugo Chávez heißt - von unten zu transformieren. Die erste große Herausforderung für die Regierung durch die sozialen Bewegungen gab es im Mai 2010, nachdem der Präsident wie üblich am 1. Mai die Erhöhung des Lohns angekündigt hatte. Allerdings nur um fünf Prozent und nicht wie im Wahlkampf versprochen um zwölf. Zehn Tage später rief der Gewerkschaftsverband COB erstmals seit Morales' Wahl 2006 zu einem Generalstreik auf, an dem sich aber nur elf der 50 Sektoren des Dachverbandes beteiligten. Die wichtigsten Stützen der Regierung, die indigenen Bauern in Hoch- und Tiefland, standen hinter dem Präsidenten.

In der Lohnfrage kam die Regierung den Streikenden nicht entgegen. Dafür aber wurde das Rentenalter unter Einbindung der Gewerkschafter gesenkt. Von Seiten der Arbeiter Boliviens zeigte der Streik, dass die althergebrachten Kampfformen der Arbeiter für diese weiterhin Bezugspunkt geblieben ist. Ein alternatives Programm, etwa den Kampf für Arbeiterkontrolle, der in Venezuela geführt wird, gibt es derzeit nicht. Dabei würde eine solche Orientierung nicht nur kurzfristig mehr Geld bringen, sondern langfristig dem Prozess der Neugründung ein Fundament geben, das nicht mehr der Kapitallogik gehorcht.

Auf diesem Weg kann auch die Regierung einiges tun. Sie kann die Rahmenbedingungen für eine Selbstorganisation der Arbeiter schaffen, was jedoch derzeit nicht auf der Agenda zu stehen scheint. Derzeit verfolgt die Regierung neben der Unterstützung der Gemeindewirtschaft die bereits beschriebene staatszentrierte Form der nachholenden kapitalistischen Entwicklung. In diesem Rahmen sind Streiks in der Form, die der COB im Mai 2010 führte, wiederum eine logische Reaktion und das Beispiel zeigt, wie sehr eine Transformation des Bewusstseins auf beiden Seiten, von oben und unten, notwendig ist, um ein wirklich neues Bolivien zu erreichen. Dieser Wandel ist ein langer Prozess, auf dem, wie das Beispiel der Rentengesetzgebung zeigt, schon einige Fortschritte erreicht worden sind. Das spiegelt sich auch im Bewusstsein einiger, aber eben bei weitem noch nicht aller Aktivisten der Basis wieder.

Die zweite große Verwerfung zwischen Regierung und Bewegung gab es im Süden des Landes im besonders armen Departement Potosí. Seine Bewohner gehören zu den wichtigsten Unterstützern der Regierung von Evo Morales. Fast 80 Prozent stimmten bei der Wahl im Dezember 2009 für die MAS und so wollen die Bürger nun auch eine deutliche Verbesserung ihrer Lage sehen, die sich seit dem Amtsantritt des Präsidenten nicht maßgeblich geändert hat. Die Unzufriedenheit gepaart mit einem oppositionellen Stadtrat und den Ambitionen eines oppositionellen Bürgermeisters in der gleichnamigen Departementshauptstadt waren die Hauptgründe für die Proteste im Juli und August 2010. Offiziell ging es um sechs Streitpunkte, die allerdings zum Teil - wie die Grenzstreitigkeiten mit dem Nachbardepartement Oruro - schon eine jahrelange Geschichte haben. Die Protestierenden forderten Infrastrukturprojekte wie den Ausbau des Flughafens oder den Bau einer Zementfabrik. Sie sahen sich gegenüber den Nachbarn aus Oruro benachteiligt, da diese von der Regierung Versprechungen erhalten hatten, die sich die Menschen in Potosí ebenfalls erhofften. So radikalisierte sich der Protest hin zu einer Blockade der Stadt, die über fast drei Wochen lang nicht nur das öffentliche Leben in Potosí, sondern auch einige nahe gelegene Bergwerke und Fabriken lahm legte. Die Menschen forderten die direkte Verhandlung mit dem Präsidenten, da sie den Ministern vorwarfen, nicht in ihrem Sinne zu handeln. Der Präsident schickte dennoch Mitglieder seines Kabinetts, die nach zähen Verhandlungen letztlich einen Kompromiss erreichten. Potosí bekommt den internationalen Flughafen und eine Zementfabrik - ebenso wie Oruro. Der legendäre Berg Cerro Ricco, dessen Silber in der Kolonialzeit die Bedeutung von Potosí ausgemacht hat und dessen verbliebene Reste heute noch unter äußerst gefährlichen Bedingungen abgebaut werden, wird gesichert, so dass die Bergleute weiter arbeiten können. Wiederum waren es Zugeständnisse der Regierung gegenüber den Bewegungen, die mit Streiks und Blockaden vor allem die Partizipation an der Entwicklung des Landes forderten, nicht aber Schritte der Selbstermächtigung in die Wege leiteten. Ohne die wird aber ein künftiges Bolivien kein wirklich neues Gesicht bekommen.


*


Quelle:
Gegenwind Nr. 271 - April 2011, Seite 63-64
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
Schweffelstr. 6, 24118 Kiel
Redaktion: Tel.: 0431/56 58 99, Fax: 0431/570 98 82
E-Mail: redaktion@gegenwind.info
Internet: www.gegenwind.info

Der "Gegenwind" erscheint zwölfmal jährlich.
Einzelheft: 3,00 Euro, Jahres-Abo: 33,00 Euro.
Solidaritätsabonnement: 46,20 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2011