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GEGENWIND/442: Kirgisien - Präsidentensturz, Unruhen, Verfassung und Neuwahlen


Gegenwind Nr. 266 - November 2010
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

INTERNATIONALES
Kirgisien: Präsidentensturz, Unruhen, Verfassung und Neuwahlen

Von Atyrkul Joomartova


Am 10.10.10 haben die Kirgisen gewählt. Zuvor hatte Kirgisien die Verfassung geändert und sich für eine Parlamentarische Demokratie entschieden.


Kurzer Überblick

Nach der Auflösung der Sowjetunion bekam Kirgisien 1991 seine Unabhängigkeit. Aber seit dem Bestehen als unabhängiger Staat, bzw. innerhalb der 19 Jahre gab es in Kirgisien nicht wenige politische Turbulenzen. Aus dem einst wegen der ersten eingeleiteten Reformen zur Demokratie und Marktwirtschaft als "Insel der Demokratie" in Zentralasien bezeichneten Land unter der Herrschaft dem ersten Präsidenten Askar Akaev (1990-2005) und seinem Nachfolger blieb wenig übrig. Stattdessen herrschte im Lande Korruption, Vetternwirtschaft und Clanherrschaft. Es gab immer wieder Kritik seitens der Oppositionellen an der Akaevschen System. Zu seinem Sturz kam es 2005 nach den Parlamentswahlen im Februar, wo die Akaev-Anhänger die Mehrheit bekamen und ins Parlament einzogen. Diese Mehrheit sollte wiederum dem Präsidenten in den bevorstehenden Wahlen die dritte Amtszeit gewähren. Von der OSZE wurden damals die Wahlen nicht als frei und fair kritisiert. Dies war der Grund des Präsidenten-Sturzes: die Oppositionellen forderten die Überprüfung der manipulierten Wahlen. Diese Proteste im März 2005 wurden auch als "Tulpenrevolution" bekannt. Seitdem lebt Akaev im Exil in Russland.

Im Zuge der Tulpenrevolution wurde an seiner Stelle der damalige Oppositionspolitiker Kurmanbek Bakiev Präsident. Kurz nach seinem Amtsantritt wiederholt sich die gleichen Politikstile wie bei seinem Vorgänger: Clanherrschaft und Korruption. Aber er überschreitet seine Kompetenzen mehr als der erste Präsident. Die Medien und Meinungsfreiheit wurden eingeschränkt. Die Kritik an seiner Politik wurde nicht geduldet. Seine Brüder bekamen die wichtigsten Posten im Lande. Sein Bruder Dschanysch wurde Chef der Sicherheit und ein anderer Bruder, Marat, Botschafter in Deutschland. Ein dritter Bruder, Odil, ist Diplomat in China. Sein Sohn Maxim war für die Finanzen im Lande zuständig bzw. Chef der Behörde für Entwicklung, Investition und Innovation, und galt als der zweite Mann im Lande.

Bakiev hat die Erwartungen der Mehrheit nicht erfüllt. Sein Versprechen war, die Korruption (nach dem Index von "transparency international" steht Kirgisien auf Rang 162 von 180 Staaten) und Clanherrschaft zu bekämpfen und die Machtkompetenzen des Staatoberhauptes zu Gunsten des Parlaments einzuschränken.

Trotzdem wird Bakiev im Sommer 2009 wieder gewählt. Einerseits saß er fest im Sattel, andererseits war die herrschende Meinung im Lande, lieber Bakiev wiederwählen als einen anderen - der "Neue" würde doch auch seine Taschen füllen und Bakiev ist einigermaßen gesättigt. Gegen den Ausgang der Wahlen hatte damals die Opposition protestiert, jedoch ohne Erfolg. Seitdem wuchs die Wut der Regimegegner.

Die Folgen sind aus den Medien vom April 2010 weitgehend bekannt: Das zweite Staatsoberhaupt Kirgisiens wurde nach einem blutigen Kampf im April gestürzt. Kurz darauf suchte das Land ein ethnischer Konflikt im Süden heim. Da im Süden des Landes viele Usbeken leben, gab es immer wieder Konflikte zwischen beiden Ethnien. Traditionell ist das Land in den "kirgisischen" Süden und den "russischen" Norden geteilt. Im Süden lebt die usbekische Minderheiten, und dazu war der Süden der Hochburg des Bakiev-Clans. Die usbekische Minderheit hatte sofort nach dem Umsturz Bakievs ihre Unterstützung der Übergangsregierung zugesagt.

Es gibt viele Spekulationen, wie dieser Konflikt entstanden ist. Offiziell gilt, dass der Konflikt von Bakievs Anhängern von außen gesteuert wurde, damit das Land instabil bleibt und Bakiev zurückgerufen wird. Insgesamt kamen in beiden Konflikten offiziell ca. 500 Menschen ums Leben (siehe Akipress online vom 07.10.2010). Nach anderen Schätzungen liegt jedoch die Zahl der Todesopfer bei über 2000 Menschen. Es gab Tausende von Verletzten und Flüchtlinge. Nach dem Sturz des Präsidenten Bakiev am 7. April 2010 übernahmen die Oppositionspolitiker die Übergangsregierung, erarbeiteten im Mai eine neue Verfassung, die im Juni von der Mehrheit angenommen wurde. Um das Machtvakuum im Lande auszufüllen, wurde die Führerin der Opposition Rosa Otunbaeva zur Übergangspräsidentin bis Ende 2011 ernannt.


Parlamentswahlen von 10.10.10: Perspektive

29 Parteien standen am 10.10.10 zur Wahl und kämpften um 120 Parlamentssitze. Zu den Wahlen wurden 2,8 Millionen Menschen aufgerufen. Die Angst, dass die Wahlen durch Unruhen gestört werden könnte, bestätigte sich nicht. Die Wahlen liefen zum Glück friedlich ab. Jedoch lag die Wahlbeteiligung nur bei 55,9 %. Von 29 Parteien haben nur 5 Parteien die 5-Prozent-Hürde geschafft. Die Partei "Ata Dschurt" (konservativ) bekam 8,88 % und 28 Sitze im Parlament. Die Sozialdemokratische Partei Kirgisistans bekam 8,04 % und 27 Sitze. Die Partei "Ar-Namys" (konservativ) errang 7,74 % und 24 Sitze. Die sozialistische Partei "Ata-Meken" bekam 19 Sitze und 5,6% der Stimmen. Respublika bekam 23 Plätze (siehe Akipress online vom 11.10.2010). Da keine der Parteien die absolute Mehrheit erlangen konnte, stehen den Parteien schwierige Koalitionsverhandlungen bevor.

Egal welche Regierungskoalition unter welchen Parteien gebildet wird, werden die Koalitionsparteien vor sehr schwierigen Herausforderungen stehen. Die Lage im Lande, besonders im Süden, ist als Folge der ethnischen Konflikte immer noch instabil. Dass es in Kirgisien zu einem politischen Neuanfang kam, ist auch in der wirtschaftlichen und sozialen Lage zu sehen. Die kommunalen Dienstleistungen waren von der Bevölkerung nicht mehr bezahlbar. Im Vergleich zu den anderen Zentralasiatischen Ländern ist Kirgisien ein ressourcenarmes Land. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung (rund 35%) lebt unter der Armutsgrenze (siehe Worldbank online). Es herrscht hohe Arbeitslosigkeit. Da Kirgisen überhaupt keine Erfahrungen und Traditionen mit dem Parlamentarismus haben, wird der Weg zur einen parlamentarischen Demokratie im westlichen Sinne natürlich steinig sein. Die Bevölkerung ihrerseits muss auch der Regierungsparteien ein paar Jahre Zeit geben, da die sozialen und wirtschaftlichen Probleme nicht in kürzester Zeit zu bewältigen sind.

Es gibt auch Prognosen, Kirgisien könnte wieder zur Präsidialdemokratie zurückkehren, wenn die Parteien keine Fortschritte vorweisen können,. Es gibt auch Parteien, die Interesse an einer Rückkehr zu einem präsidentiellen System haben.


Strategische Lage

Während der Unruhen dieses Jahres in Kirgisien gab es in den Medien viele Spekulationen, Kirgisien sei zum Spielball der USA einerseits und Russland andererseits geworden. Oder dass die Kirgisen eine Schaukelpolitik zwischen beiden Mächten führe. In der Tat spielt Kirgisien im Rahmen der Anti-Terror-Koalition eine sehr wichtigsten Rolle, immerhin ist es ein nördliches Nachbarland von Afghanistan. In Manas unterhält die USA eine Militärbasis, über die der Nachschub nach Afghanistan abgewickelt wird - 30 Kilometer entfernt befindet sich eine russische Militärbasis. Und beide Mächte haben Interesse, im Süden des Landes neue Militärbasen einzurichten. Kirgisien ist somit ein einziger Staat, in dem Militärs beider Mächte stationiert sind.

Es gab auch die überraschende Ankündigung im Februar 2009 seitens Kirgisiens, dass diese amerikanische Militärbasis, die Russland ein Dorn im Auge ist, geräumt werden solle. Kurz davor gab es ein Treffen Bakievs mit den Machthabern in Moskau, bei dem Russland einen Kredit von 2 Mrd. US-Dollar versprach. Deswegen gab es Vermutungen, dass Russland hier seine Hand im Spiel hatte. Natürlich möchte Russland seinen Einfluss in Zentralasien nicht verlieren und erklärte es auch zum vitalen Interessengebiet. Jedoch hat Bakiev sein Wort nicht gehalten und kündigte im Juni 2009 überraschenderweise an, dass die US-Militärbasis weiter bestehen bleiben darf, nachdem der Pachtpreis von 17,5 Mio. auf 60 Mio. Dollar jährlich erhöht wurde. Kurz danach zog Russland die Zusage des 2-Mrd.-Kredits an Kirgisien zurück.

Ob sich Russland in diesem Machtwechsel einmischte bleibt offen. Nach der Amtsenthebung Bakievs hatte Russland die Übergangsregierung sofort anerkannt. Im Laufe der ethnischen Konflikte im Süden bat die Übergangsregierung Russland um militärische Hilfe, was jedoch Russland ablehnte, da es sich um eine "innere Angelegenheit Kirgisiens" handele. Russland könnte schon die Rolle einer Ordnungsmacht übernehmen. Aber wie wäre die Reaktion des Westens, falls Russland zu Hilfe käme? Anscheinend hatte es kein Interesse sein Image als aggressiver Ordnungshüter, den ist nach dem Georgien Krieg erhalten hatte, noch zu verstärken.

Und als strategisch wichtiger Partner wünscht sich Russland ein stabiles Kirgisien. Die Parteien, die ins Parlament einzogen, haben angekündigt, zu Russland gut nachbarschaftliche Beziehungen zu pflegen. Besonders die Ata Dschurt und Ar Namys gelten als prorussische Parteien und wollen mit Russland neue Militärbasen im Süden einrichten.

Eines steht fest: Russland und die anderen Machthaber in Zentralasien sind mit der neuen Verfassung nicht zufrieden. Der Grund ist, dass Kirgisien keine Erfahrungen mit Parlamentarismus hat und dieser Schritt in einer Katastrophe enden könnte. Natürlich haben die Machthaber in den genannten Staaten Befürchtungen, wenn es Kirgisien gelänge, eine parlamentarische Demokratie mit dazu gehörigen Institutionen aufzubauen, würden auch die autoritären Machtstrukturen in anderen Ländern der GUS in Frage gestellt.

Die Übergangsregierung hatte gleich nach der Machtübernahme angekündigt, dass die US-Militärbasis ungehindert weiterbestehen darf. 60 Mill. Dollar Pachtpreis bedeutet natürlich für Kirgisien in finanzieller Hinsicht sehr viel. Natürlich wünscht man den Kirgisen einen gelungenen Neuanfang und dass die neue Regierung eine Balance zwischen den Mächten findet. Denn das Land ist auf die Finanzhilfe sowohl von Russland als auch dem Westen angewiesen.


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Quelle:
Gegenwind Nr. 266 - November 2010, Seite 38-39
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. November 2010