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EXPRESS/791: Zur Kritik am Tarifabschluss im Einzelhandel 2017


express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit
Nr. 9-10/2017

Ein schlechter Erfolg?
Zur Kritik am Tarifabschluss im Einzelhandel 2017

von Anton Kobel


Hinter den Fassaden der Shopping-Tempel ist eine Revolution im Gange, über deren Auswirkungen man selbst als KundIn, fern vom Kern des Geschehens in den Zentralen der Entscheider und Macher, nicht umhin kommt zu stolpern: Der gleichzeitige Ab-, Um- und Ausbau der Handelsunternehmen im Zuge veränderter Akkumulationsbedingungen und -strategien des Kapitals führt nicht nur zu sichtbar chaotischen Zuständen bei der Warenverräumung in den Filialen - ratlose Gesichter und ungeklärte Zuständigkeitskonflikte der »Logistik-Teams« sind hier ebenso wie blaue Schienbeine verkraftbar. Er hat vor allem Konsequenzen für die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten und für deren Interessenvertretungen - Betriebsräte und ver.di. Mit Galeria Kaufhof verlässt nun auch eine der letzten Bastionen gewerkschaftlicher Kampfkraft und tariflicher Sicherheiten den Flächentarif. Der Umbau zum »Omni-Channel-Retailer« koste Geld, das der neue Investor HBC, Nachfolge des Metro-Konzerns im Umbauspiel, gerne von den Beschäftigten hätte, und zwar in Gestalt eines sog. »Beschäftigungssicherungsvertrags«. Und wie reagiert ver.di? Man lässt die ökonomischen Hintergründe prüfen, setzt aber schon mal eine Tarifkommission für das neue Haustariflein ein. Ein genaueres Bild der Ökonomie des Einzelhandels, ihrer desaströsen Folgen für die Beschäftigten und deren Kampfbedingungen zeichnen wir in dieser Ausgabe, beginnend mit der Debatte über den letzten Einzelhandelsabschluss, gefolgt von Beiträgen über Kapitalstrategien am Beispiel des Metro-Konzerns und (Gegen-)Strategien im Umgang mit Netzwerk-Unternehmen, Werkverträgen und anderen Katastrophen der Revolutionierung des Einzelhandels.

Heftige und zahlreiche Reaktionen aus dem gesamten Bundesgebiet gibt es nach dem Tarifabschluss vom 27. Juli, den die Große Tarifkommission Baden-Württemberg am 9. August bei einer Enthaltung gebilligt hat. Vereinbart wurden rückwirkend zum 1. April 2017 eine Erhöhung der Entgelte ab 1. Juni um 2,3 Prozent, nach zwei Nullmonaten April und Mai, sowie ab 1. April 2018 eine Erhöhung um 2 Prozent und im März 2018 eine Einmalzahlung von 50 Euro. (Zur Diskussion um die Forderungen s. auch den Beitrag von Stefan Schoppengerd in express, Nr. 7/2017)

Die Reaktionen kamen vorwiegend aus der Berliner ver.di-Zentrale des Fachbereiches Handel, aus Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen/Bremen, Bayern und Hessen. Neben Kritik an der Höhe - es sei mehr drin gewesen bzw. es hätte mehr drin sein müssen angesichts der im Einzelhandel bescheidenen Gehälter und Löhne sowie der »klotzig« verdienenden Betriebe - und des Zustandekommens, nämlich »Das einseitig an den eigenen regionalen Interessen ausgerichtete Vorgehen in Baden-Württemberg«, gab es Androhungen von (Ab-)Strafungen. So wurde in Frage gestellt, ob BaWü angesichts des jetzt fehlenden »Vertrauens« bei den derzeit - im Prinzip schon seit fast 20 Jahren - dahin dümpelnden Gesprächen und Verhandlungen über eine neue Entgeltstruktur im Einzelhandel überhaupt noch eines der »Schwerpunktverhandlungsgebiete« sein könne. Kritisiert wurde auch, dass für ein besseres Tarifergebnis nicht länger gekämpft und verhandelt wurde bzw. werden konnte, zumal angesichts der niedrigen Tarifbindung - ca. 40 Prozent im Westen und 30 Prozent im Osten Deutschlands - in dieser Tarifrunde das Thema Allgemeinverbindlichkeit (AVE) der Tarifverträge im Einzelhandel ein Schwerpunktthema gewesen sei. Unter der Hand wurde darauf hingewiesen, dass dieser Abschluss die in Düsseldorf für Samstag, den 9. September, bewusst im Vorfeld der Bundestagswahlen am 24. September angesetzte Großkundgebung pro AVE mit Frank Bsirske, Andrea Nahles u.a. behindere. Die UZ der DKP, die den Tarifabschluss in BaWü aus bayrischer Sicht kommentierte, wusste es scheinbar besser: «Der ver.di-Bundesvorstand will offenbar die Tarifauseinandersetzungen aus dem Wahlkampf heraus halten.« (Unsere Zeit, 8. September 2017) Ähnlich skurril mutmaßte ein Beitrag aus Hessen in der SoZ: »Die Spekulation darüber, dass der Abschluss in Baden-Württemberg einschlägigen Pressemeldungen zufolge zu finanziellen Engpässen bei Galeria Kaufhof geführt und die Angst vor einem möglichen Tarifausstieg beflügelt hätte, macht das Ergebnis vielleicht individuell verständlich, aber auf der Ebene kollektiver Konsequenzen nicht besser oder richtiger.« (SoZ, Nr. 9/2017) Nach zehn Wochen Arbeitskampf (!) kein Eigensinn der Tarifkommission in BaWü, sondern Gehorsam nach oben oder angstgetriebene Kumpanei mit dem Einzelkapital? Allein die vier Kaufhof-Filialen in Mannheim/Heidelberg hatten auch 2017 mehr Streiktage als alle Kaufhöfe in Bayern oder Hessen zusammen.

Nicht gut weg in der Kritik kam auch die Bundesfachbereichsleitung Handel - trotz ihrer eindeutigen Ablehnung des Abschlusses und einiger Drohgebärden. Ihr wurde neben mangelnder Koordinierung auch vorgeworfen, »dass scheinbar durch die Bundesfachbereichsleitung/ -tarifkoordinierung nicht in allen Ländern die gleichen Informationen den Verhandlungsführungen und damit den Mitgliedern der Tarifkommissionen zur Verfügung gestellt wurden. Dieses wenig demokratische Vorgehen wird von uns abgelehnt.« (Einstimmiger Beschluss der Landestarifkommissionen Niedersachsen und Bremen vom 2. August 2017)


Fragen an die KritikerInnen

Nicht wenige der Kritikpunkte werden auch in BaWü geteilt, und dennoch wurde dieser Abschluss gebilligt und von den Aktiven in den Streikbetrieben als Erfolg angesehen, auch wenn es wie immer mehr hätte sein sollen und können.

1.) Was sind die kritisierten »regionalen Interessen«? Vertreten nicht die jeweiligen Tarifkommissionen die Interessen der Mitglieder? Wer denn sonst? Sollte nicht die Zustimmung eines der bekannt kampfstärksten Landesbezirke wie BaWü zum Tarifabschluss zum Nachdenken über das »Warum« verleiten? Welche Rolle sollen die VertreterInnen von Betrieben mit auch in dieser Tarifrunde bis zu 20 Streiktagen haben, wenn nicht eine entscheidende?

2.) Sollen wirklich hauptamtliche acht bis zehn LandesfachbereichsleiterInnen mit einem Bundesvorstandsmitglied ein Vetorecht gegen einen bis auf eine Enthaltung einstimmigen Beschluss der ehrenamtlich Aktiven der Tarifkommission haben? Und das in einer - laut ver.di-Satzung - Organisation der Ehrenamtlichen? Wer soll zu einem Tarifabschluss berechtigt sein? Warum wurden in anderen Landesbezirken vor dem Abschluss in Ba-Wü keine besseren Angebote in den Verhandlungen erreicht?

3.) Wie überzeugend ist die Kritik der nicht ausgeschöpften »gegenwärtigen wirtschaftlichen Möglichkeiten«? Wären wirklich die im Großhandel vereinbarten 2,5 Prozent, die ja als Abschlusslinie von den meisten KritikerInnen für den Einzelhandel statt der jetzt vereinbarten 2,3 Prozent propagiert werden, eine solche Ausschöpfung gewesen? Wie überzeugend kann angesichts von so genannten Sanierungs-, Beschäftigungssicherungs- und Zukunftstarifverträgen wie bei Karstadt, real und ganz aktuell auch bei Kaufhof dieses Argument sein? Erfolgen Betriebsschließungen nur aus unternehmerischer Willkür?

4.) Wären diese propagierten 0,2 Prozent, das sind im Endgehalt einer Verkaufskraft monatlich 5 Euro mehr, einen Arbeitskampf, der nach der Sommerpause weiter geführt werden sollte, wert gewesen? Wie lange? Bis Weihnachten, wie es jetzt aus Hessen zu vernehmen ist? Also neun Monate Arbeitskampf von April bis Dezember für 5 Euro im Monat? Wie ernst zu nehmen sind jetzt die in ver.di gegen den Tarifabschluss angeführten Äußerungen des obersten Lidl-Chefs Gehrig, wonach 3 Prozent drin seien? Hat sich tatsächlich auch die Rewe-Spitze ähnlich geäußert? Warum gibt es jetzt dort keinen übertariflichen Nachschlag?

5.) Warum wäre bei einer bis in den Herbst bzw. bis Weihnachten dauernden Tarifrunde ein besserer Abschluss zu Stande gekommen? Schon vergessen, dass es 2007/8 erst nach 18 Monaten einen - wenig berauschenden - Abschluss gegeben hat? Warum 2013 erst nach acht Monaten harter Arbeitskämpfe? Könnte es sein, dass die Arbeitgeber deshalb 2015 in Erinnerung an 2013 zügig zu Potte kamen? Ist nicht die gewerkschaftliche Kampfkraft für einen Tarifabschluss entscheidender als jegliche Dauer des Konflikts? Wie sollten wir uns den 2009 in NRW getätigten zweijährigen Abschluss von 2 Prozent und ein Jahr später 1,5 Prozent nach jeweils vier (!) Nullmonaten erklären, wenn nicht mit der Schwäche von ver.di im Handel?

6.) Folgt die Schwäche von ver.di-Handel nicht auch aus regional sehr unterschiedlicher Stärke? Sind die unterschiedlichen Laufzeiten der EH-Tarifverträge, deren so genannte Friedenspflicht in BaWü, Hessen, NRW zum 31. März, in Bayern, Niedersachsen und Bremen zum 30. April, in Berlin, Brandenburg, Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt zum 30. Juni endet, eine zusätzliche Erschwernis für einen bundesweit geführten Arbeitskampf? Könnten diese Probleme durch eine bessere Koordination der Arbeitskämpfe gelöst werden? Warum wird dieses seit Jahrzehnten (!) bekannte Problem nicht konsequent angegangen?

7.) Was soll die überall bemängelte Koordinierung umfassen? Nur einen möglichen Tarifabschluss? Auch die Forderungen? Die Aktivitäten in der Tarifrunde? Bundesweit abgesprochene Einbeziehung der Arbeitskämpfe bei Amazon und jetzt Zalando? Der o.T.-Betriebe, also der Unternehmen ohne Tarifbindung? Der so genannten »weißen Flecken«? Verknüpfung der verschiedenen Tarifrunden in ver.di - Stichwort »solidarische Tarifpolitik«?

8.) War die Tarifrunde 2017 ein Beispiel für eine gelungene Tarifkampagne? Gab es eine begleitende Pressekampagne? Eine organisierte Einbeziehung der Kunden? Warum nur hie und da lokal/regional organisiert und nicht bundesweit?

9.) Was steckt noch in der teilweise heftigen Kritik? Ist das nicht auch ein Ablenken von der eigenen Schwäche, die Suche nach einem Sündenbock - statt einer seit Jahren überfälligen Diskussion über die eigene Stärke und deren Entwicklung vor allem durch Tarifrunden?

10.) Wie könnten die Kritikpunkte produktiv im Interesse der notwendigen Stärkung von ver.di-Handel umgesetzt werden?

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express 9-10/2017 - Inhaltsverzeichnis der Printausgabe
Gewerkschaften Inland
  • Anton Kobel: »Ein schlechter Erfolg?« - Fragen zur Kritik am Tarifabschluss Einzelhandel
  • Werner Volz: »Jetzt haben wir es ihnen gezeigt« - Strategien gegen Onsite-Werkverträge
  • Bernd Gehrke, Willi Hajek, Renate Hürtgen: »Tagung "Ostwind" jagte einem Phantom nach?« - Zur Rolle und Spielräumen betrieblicher Praxis
  • Rolf Geffken: »Betriebsräte sind keine Bewegung!« - Zur Kritik an der Tagung "Ostwind"
  • Willi Hajek: »Bewegte Institution« - Eindrücke von der Ostwindtagung
  • Anstiften.net: »Zwischenschritt: Mehr werden« - Interview zur Azubi-Selbstorganisation im Internet und am Stammtisch
  • Wolfgang Schaumberg: »Die Linke ohne die Leute?« - Ein Debattenbeitrag
  • Klaus Weber: »Herkunft und Überleben in der Klassengesellschaft« - Eribon und einige Gründe, jetzt Kommunist zu werden (Teil II)
Betriebsspiegel
  • Anton Kobel: »Metro: Auf-, Um- und Abbau« - Folgen kapitalistischer Akkumulation für Beschäftigte und Gewerkschaften
Internationales
  • »Verhaftet die Straße!« - Interview mit Meryem Çag über Gewerkschaften und Frauenbewegung unter der Herrschaft der AKP in der Türkei
  • Autorenkollektiv der August Spies Gesellschaft e.V.: »August Spies und die "Chicagoer Idee"«
  • »Mit Klassenbewusstsein und Charisma« - Interview zu Motiven und Absichten der August Spies Gesellschaft
  • Richard Buzek und Alexandru Firus: »Care europäisch denken« - Wie die Fürsorge mit den Menschen auswandert - das Beispiel Rumänien
  • Willi Hajek: »Teufelsaustreibung« - "Le Macronisme", das Volk und die Schlachtpläne
Rezension
  • Anton Kobel: »Wenn Betriebe zu Netzwerken werden...« - Carsten Wirths Untersuchungen der Entwicklungen im Einzelhandel
  • Anton Kobel: »Streik und Menschenwürde« - Gerhard Kupfers Band über den Streik gegen Leiharbeit bei Mercedes Bremen
  • Wolfgang Völker: »Ein Sturm weht vom Paradiese her« - Ein Sammelband über das utopische Denken André Gorz'
  • Heiko Maiwald: »Zwischen Organizing und Ökonomisierung« - Eine illustrierte Geschichte der Sozialen Arbeit

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Quelle:
express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit
Nr. 9-10/2017, 55. Jahrgang, Seite 5-6
Herausgeber: AFP e.V.
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fünf neuen Ländern sowie 12 Euro Hartz IV-Spezial-Abo


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2017

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