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EXPRESS/776: Freiwilligendienste für alle?


express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit
Nr. 11/2015

Freiwilligendienste für alle?
Vom Ehrenamt zur Prekarisierung der Freiwilligen Arbeit

von Gisela Notz


Seit Beginn der Industrialisierung wird in Zeiten von zunehmender Armut, hoher Erwerbslosigkeit und prekärer Erwerbsarbeitsverhältnisse an die wohlhabenden BürgerInnen appelliert, dort zu helfen, wo die Not am größten ist. Die Appelle haben sich bis heute kaum geändert, doch die Zielgruppe der »Freiwilligen« ist größer geworden. Mit dem Einsatz des Rotstiftes vor allem im Sozial-, Gesundheits- und Kulturbereich wird heute nicht alleine an das Engagement der BürgerInnen appelliert, »ehrenamtlich«, d.h. in der Regel unbezahlt und neben ihrer Erwerbsarbeit, für das Gemeinwesen tätig zu werden. Die Appelle richten sich vielmehr mit immer neuen Programmen an immer neue Zielgruppen und schließlich an die Erwerbslosen und Armen selbst. Die historische Entwicklung des »Ehrenamts« hin zur aktuellen Bedeutung der »Freiwilligenarbeit« wird in diesem Beitrag nachgezeichnet.

Rückblick

Das Ehrenamt, schon im Mittelalter an weltlichen Höfen, in der Kirche, in Gilden und Bruderschaften bekannt, war dort vor allem dem Adel vorbehalten, der sich dadurch Ansehen, Privilegien und Macht verschaffte. Frauen waren von Ämtern qua Geschlecht und daraus abgeleiteter gesellschaftlicher Position ausgeschlossen. Erst nach langen Kämpfen der bürgerlichen Frauen wurden diese ab 1896 zögerlich zu bestimmten Ämtern zugelassen. Doch auch danach übernahmen sie vor allem die sozialen und karitativen Dienste, die Versorgung von Kindern, Alten und anderen, die sich nicht oder nicht mehr selbst helfen konnten, sie kochten und verteilten die Armensuppe und verbanden Verwundete in den Lazaretten. Kurzum: Sie waren für die ehrenamtliche Arbeit zuständig, die erst viel später als »ehrenamtlich« bezeichnet und damit den angesehenen Ehrenämtern gleichgestellt werden sollte. An den unterschiedlichen Inhalten der Arbeit und deren geschlechtsspezifischer Zuweisung änderte sich im Laufe der Geschichte bis heute allerdings kaum etwas.

Vertreterinnen der proletarischen Frauenbewegung wehrten sich seit der Zuspitzung der Klassengegensätze mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert gegen den verbreiteten Glauben der Bürgerlichen, »dass Wohltätigkeit, Armenpflege und allseitiger guter Wille die Mittel sind, das soziale Elend aus der Welt zu schaffen«. Es sei nicht nur eine Kränkung, Menschen mit Almosen abzuspeisen, sondern auch das Verständnis dafür, dass »jeder arbeitende Mensch ein Recht auf eine gesicherte Existenz hat«, gehe so verloren, so die Sozialdemokratin Lily Braun 1901 in ihrem Buch »Die Frauenfrage«.


Der »Nationale Frauendienst«

Diese Position änderte sich mit dem Ersten Weltkrieg 1914. Bürgerliche ebenso wie sozialdemokratische Frauen riefen zum »Nationalen Frauendienst« (NFD) auf. Zu dessen »freiwilligen« Aufgaben gehörte nicht nur die karitative Hilfe für notleidende Familien, sondern auch die Verteilung von Frauen auf die (bezahlten) Arbeitsplätze in der Kriegsindustrie. Die Einbeziehung der Frauen in die Arbeitspflicht, wie sie mit dem »Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst« von 1916 für alle Männer, die nicht zur Armee eingezogen worden waren, galt, stieß hingegen auf heftigen Widerstand und wurde nicht umgesetzt. Während des Ersten Weltkrieges wurden aber auch die Grenzen des »Freiwilligendienstes« deutlich: Er war weder quantitativ noch qualitativ ausreichend. In der Folge wurden Tätigkeiten im sozialen Bereich - von der Krankenpflege bis zu Formen der Sozialfürsorge - zunehmend professionalisiert. Auch die entlohnten WohlfahrtspflegerInnen waren dabei überwiegend Frauen. Die Erkenntnis, dass soziale Arbeit ohne Berufskräfte nicht mehr möglich sei, hielt allerdings nicht lange an.


Von der freiwilligen Arbeit zur Pflichtarbeit

Mit der Weltwirtschaftskrise rührten Staat und Wohlfahrtsverbände ab 1929 die Werbetrommel für die »Freiwilligenarbeit«, die bald unumwunden zur »Sparmaßnahme« erklärt wurde. 1931 wurde der »Freiwillige Arbeitsdienst« (FAD) für Männer und Frauen durch das Gesetz für gemeinnützige zusätzliche Arbeiten eingeführt. Für 'Freiwillige' wurden zunächst 'offene', dann geschlossene Lager eingeführt, vor allem, um sie mit gemeinnütziger Arbeit zu beschäftigen und sie von politischer Radikalisierung fernzuhalten. 1935 wurde aus dem FAD der Reichsarbeitsdienst (RAD) als »Ehrendienst am Deutschen Volke«; er war nun Pflichtdienst für »alle 18-25 Jahre alten jungen Deutschen beiderlei Geschlechts«.[1] Ziel dieser Pflicht zu gemeinnützigen Aufgaben war sowohl die Senkung der Erwerbslosenzahlen als auch die Erziehung der deutschen Jugend zur Kriegsfähigkeit. RAD-Angehörige erhielten deutlich weniger Geld als FacharbeiterInnen, Männer wurden hauptsächlich in Munitionsfabriken und beim Autobahnbau eingesetzt, 'Arbeitsmaiden' auch in Kindergärten, Krankenhäusern und Lazaretten. Zusätzlich konnten mit der Förderung der Aus- und Weiterbildung der »Ehrenamtlichen« vorher entlohnte sozialfürsorgerische Tätigkeiten an der »sozialen Front« mit unbezahlten Kräften ersetzt bzw. aufgefüllt werden.[2] Der Ausgang ist bekannt. Entlohnte wie unbezahlte SozialarbeiterInnen halfen bei der Aussonderung des angeblich »lebensunwerten Lebens« mit und trugen so zu Stabilisierung und Legitimierung des NS-Regimes bei.


Einblick

Ab Mitte der 1970er Jahre wurde infolge des stagnierenden Wirtschaftswachstums die Frage der Finanzierbarkeit expandierender Sozialleistungen gestellt. Unter Bundeskanzler Kohl wurde ab 1982 mit der (Re-)Privatisierung begonnen und das Subsidiaritätsprinzip - also die Stärkung von Eigeninitiative und Selbsthilfe - stärker betont; auch die Wiederentdeckung des Ehrenamts fällt in diese Periode. 1985 schrieb das Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit den Wettbewerb »Reden ist Silber, Helfen ist Gold« für soziale Initiativen aus. Eine Motivierungskampagne jagte von da an die andere.

Die Diskussion um den »aktivierenden« Staat und den Beitrag der sog. »Zivilgesellschaft« hat seit dem Schröder/Blair-Papier und der Agenda 2010 Konjunktur. Soziale, gesundheitliche und kulturelle Versorgung werden seitdem massiv weiter privatisiert, staatlichen Kürzungen zum Opfer fallende soziale Einrichtungen werden dem »freiwilligen« Engagement überantwortet. Die Folge: Primäre (familiale und freundschaftliche) und sekundäre (gesellschaftliche) Netzwerke werden hoffnungslos überlastet. Durch die steigende »Erwerbsneigung« der Frauen im Westen und die ungebrochene Erwerbsneigung im Osten - schon der Begriff ist hier problematisch, weil er ausschließlich im Zusammenhang mit Frauen benutzt wird - kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass Frauen diese Versorgungsarbeiten weiterhin kostenlos und aus (Nächsten-)Liebe übernehmen. PolitikerInnen verweisen immer wieder darauf, dass soziale Kontakte und Teilhabe, die die Gratisarbeit bietet, wichtiger seien als Geld. »Freiwilliges« Engagement soll glücklich, gesund und zufrieden machen, weil man aktiv das eigene Lebensumfeld mitgestalten kann. Dabei ist es eine Binsenweisheit: Erst wenn die professionelle Unterstützung von Hilfe-, Versorgungs- und Betreuungsbedürftigen sichergestellt ist, kann Freiwilligen-Arbeit wirklich freiwillig und zusätzlich verrichtet werden, also erst, wenn die eigenständige Existenzsicherung der Helfenden gewährleistet ist. Für die »Freiwilligen« hieße das, dass sie selbst über ausreichende Einkommen aus Erwerbsarbeit bzw. Ältere über ausreichende Renten abgesichert sein müssen.

Obwohl bereits mehr als ein Drittel aller Menschen in der Bundesrepublik freiwillig und unentgeltlich engagiert ist, verweisen ExpertInnen darauf, dass die Zahl der Engagierten für die Zukunft nicht ausreicht. Noch seien nicht alle Potenziale voll erschlossen. Im Zusammenhang mit aktuellen Kürzungsszenarien wird große Hoffnung auf die »nachwachsende Seniorengeneration«, auf »Menschen mit Migrationshintergrund« und auf die Erwerbslosen und Armen selbst gesetzt. Immer neue Arbeitsfelder werden gefunden, für die neue Potenziale gewonnen werden sollen. In jüngster Zeit sind das z.B. die Tafeln, Kleiderkammern und andere »existenzunterstützende« Maßnahmen, deren Notwendigkeit angesichts der zunehmenden Armut niemand bestreiten wird, durch die die Bedürftigen jedoch in der Rolle der BittstellerInnen bleiben, während sich an den Ursachen der Bedürftigkeit und Armut nichts ändert.

Die glorifizierende Diskussion um die Bedeutung der »Zivilgesellschaft« hat ohnehin einen Haken. Schließlich gibt es nicht nur Bürgerinitiativen, die Armensuppe verteilen und MigrantInnen unterstützen, sondern auch solche, die sich gegen Asyl- oder Obdachlosenunterkünfte wehren. Auch Neonazis, religiöse FundamentalistInnen und selbsternannte »Lebensschützer« sind gemeinschaftlich aktiv und übernehmen »freiwillige« Aufgaben. Sie nutzen Formen zivilgesellschaftlichen Engagements zur Verbreitung ihrer antidemokratischen und frauenfeindlichen Ideologien. Eine Auseinandersetzung mit diesen AkteurInnen gehört zur Aufgabe der Repolitisierung der Zivilgesellschaft, in der die Diskussion über die Stoßrichtung des jeweiligen Engagements Teil der Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung darstellt.


»Freiwilligendienste« für alle

Schon vor der Aussetzung des Zivildienstes wurde in der Bundesrepublik darüber diskutiert, wie die »Freiwilligenarbeiten« in verbindlichere und verlässlichere Strukturen gebracht, engagierte BürgerInnen stärker in vertragliche Vereinbarungen eingebunden und in personell unterversorgte Bereiche kanalisiert werden können, denn der Personalmangel in den Sozialund Pflegeberufen ist nicht neu. Weil Staat, Kirchen, Wohlfahrtsverbände und private Träger diese Arbeiten nicht regulär bezahlen wollen, erhöht sich der Bedarf an »freiwilliger Arbeit«. Arbeitsdienste im Sinne »sozialer Pflichtjahre« werden immer wieder diskutiert, wären aber ohne Verfassungsänderung schwer durchzusetzen, denn das Grundgesetz Artikel 12, Abs. 2 gebietet: »Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden«. In Abs. 3 steht unmissverständlich: »Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.« Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wussten, warum sie diese Sätze 1949, kurz nach dem Nazi-Faschismus, in das Grundgesetz eingefügt haben. Durch sie sollten, wie das Bundesverfassungsgericht hervorhebt, »die im nationalsozialistischen System üblich gewordenen Formen der Zwangsarbeit mit ihrer Herabwürdigung der menschlichen Persönlichkeit ausgeschlossen werden«.[3] Es gibt keinen Grund, daran etwas zu ändern. Wie also mit den »neuen« Problemen fertig werden?

Freiwilligendienste unterscheiden sich vom klassischen ehrenamtlichen Engagement dadurch, dass die »Freiwilligen« sich für einen bestimmten Zeitraum verpflichten, ein bestimmtes Stundenkontingent pro Woche abzuleisten, dieses in einem Vertrag festhalten lassen und dafür ein Taschengeld bekommen. Freiwilligendienste für Jugendliche gibt es schon lange, dazu zählen u.a. das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr sowie entwicklungspolitische Freiwilligendienste. Sie werden gerne übernommen, und solange sie nicht als Ersatz und Warteschleife für fehlende Lehrstellen oder Studienplätze angepriesen werden, ist das auch gut so. Vermehrt geht es nun aber auch um die Älteren. Für sie gab es seit 2005 »generationsübergreifende Freiwilligendienste«, in denen sie sich gegen Auslagenersatz und Weiterbildung für einige Stunden in der Woche engagieren sollten. Mit dem »Gesetz zur Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes« (BFD) hat die Bundesfamilienministerin ab April 2011 - gleichzeitig mit dem Aussetzen des Zivildienstes und der Einführung des freiwilligen Wehrdienstes - für Menschen aller Generationen ein völlig neues Arbeitsverhältnis geregelt. In der Gesetzesbegründung wird dies »öffentlicher Dienst des Bundes eigener Art« genannt; ein Gutachten des DGB spricht von »nicht gewerbsmäßiger Arbeitnehmerüberlassung«. Zwischen dem »Freiwilligen« und dem »Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben« wird eine Vereinbarung abgeschlossen, die mit einer Verpflichtung für einen vollen Arbeitstag (40 Stunden für unter 27-Jährige und 20 Stunden für über 27-Jährige) über mindestens zwölf Monate hinweg verbunden ist und mit einem Taschengeld (maximal 336 Euro monatlich) entlohnt wird.[4] Der BFD ist als »Lerndienst« angelegt und wird in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der außerschulischen Jugendbildung, der Wohlfahrts-, Gesundheits- und Altenpflege, Behindertenhilfe, Kultur und Denkmalpflege, im Sport, Zivilund Katastrophenschutz, Umwelt- und Naturschutz, in der Integration und Nachhaltigkeitsbildung vermittelt. TeilnehmerInnen werden Mitglied in der gesetzlichen Renten-, Unfall-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung. Nach Abschluss des Dienstes erhalten sie ein Zeugnis und ggf. (je nach Alter und Berufswunsch) Extra-Punkte für die Wartezeit auf einen Studienplatz.

39.262 Bundesfreiwillige waren Ende Dezember 2014 im Einsatz. Den Dienst neu angetreten hatten im Jahr 2014 37.881 Freiwillige, davon waren 20.738 Frauen und 17.143 Männer.[5] Über die Verteilung nach Arbeitsgebieten werden keine Angaben gemacht. 9.526 waren über 27 Jahre alt; 28.356 waren jünger. Der Anteil der älteren Freiwilligen war nach einer ersten Evaluationsstudie im April 2013 noch wesentlich höher. Damals waren von den 36.792 Freiwilligen 41 Prozent über 27 Jahre alt. In den westlichen Bundesländern waren es 18,6 Prozent, in den ostdeutschen, inklusive Berlin, sogar 76,5 Prozent.[6] Das ist eigentlich nicht verwunderlich, denn in den östlichen Ländern ist die Erwerbs- und Perspektivlosigkeit viel höher. Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-BezieherInnen dürfen von ihrem »Freiwilligen«-Taschengeld maximal 200 Euro zusätzlich zu ihren Arbeitslosengeldbezügen behalten. Das macht den Dienst für Langzeiterwerbslose einerseits und für ärmere RentnerInnen andererseits interessant. Da Erwerbslose während des BFD nicht verpflichtet sind, eine ihnen zugewiesene Arbeit aufzunehmen, erhöhte dies die Akzeptanz für die erwerbsfähigen Arbeitslosen[7] - offensichtlich allerdings nur vorübergehend, vergleicht man die Zahlen des ersten und der zweiten Evaluationsberichts.

Anders bei den RentnerInnen, auf die man seit Verabschiedung des Programms ebenfalls gesetzt hatte. Der Anteil der RentnerInnen steigt, Altersarmut nimmt ebenfalls zu - und die »armen Alten« brauchen das Geld ebenso wie die Erwerbslosen. Zwei Jahre nach Einführung des BFD, am 15. Mai 2013, wurde das Experiment »Altersöffnung« dem Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement des Deutschen Bundestages vorgestellt. »Ältere Freiwillige [...] sehen den Dienst als Qualifizierungsmöglichkeit, als Alternative zur Erwerbsarbeit«, jubelte man.[8] Die Hoffnung auf eine existenzsichernde Erwerbsarbeit hatten sie möglicherweise schon lange aufgegeben. Denn mit einer Erwerbsarbeit ist der Dienst nicht vereinbar. Auch bei reduzierter Stundenzahl müssen Nebentätigkeiten von der Einsatzstelle genehmigt werden. Der DGB-Bundesvorstand verweist darauf, dass so »ein weiterer Raum für prekäre Arbeitsverhältnisse geschaffen« wird.[9] Bereits für die Altenhilfe vereinbarte Mindestlöhne werden mit dem BFD umgangen. Eine Abgrenzung der lt. Gesetz »unterstützenden zusätzlichen Tätigkeiten« zu regulären Pflege- und Altenhilfejobs dürfte in der Praxis schwer fallen, das zeigt auch ein Blick auf Stellenangebote einschlägiger Web-Seiten,[10] und so geht es auch aus dem ersten Evaluationsbericht hervor.[11] Der DGB kritisiert, dass der BFD »häufig nicht ein zusätzliches und eigenverantwortliches zivilgesellschaftliche Engagement« darstellt, sondern zu befürchten ist, dass in den Pflegeberufen bestehende Arbeitsplätze verdrängt und neue Arbeitsplätze verhindert werden. Doch selbst die Beschränkung auf »unterstützende Tätigkeiten« ist nicht unproblematisch. Emotionale und in der Regel zeitaufwändige Dimensionen der Tätigkeiten in diesem Berufsfeld, die früher integrierter Bestandteil eines professionellen Selbstverständnisses waren, können nun outgesourct und an 'Randbelegschaften' aus Freiwilligen delegiert werden - sie werden so abermals abgewertet und sind damit alles andere als »unbezahlbar« (s.u.).

Angesichts der aktuellen Flüchtlingssituation in Deutschland hat Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) vorgeschlagen, dass sich auch Flüchtlinge im Bundesfreiwilligendienst engagieren können. Wenn ein Flüchtling eine Beschäftigungserlaubnis habe, könne er auch im Freiwilligendienst arbeiten. Aus diesem Grunde will sie 10.000 neue »Stellen« für den Bundesfreiwilligendienst schaffen. Dabei sei es »wichtig zu zeigen, dass auch die Flüchtlinge helfen bei der Flüchtlingsarbeit.« Viele würden dies auch wollen.[12]


3. Ausblick

»Was ich kann, ist unbezahlbar: tun was ich will, und nicht was ich muss«[13], das war einmal der Slogan zur Kampagne für das Internationale Jahr der Freiwilligen 2001. »Nichts ist erfüllender, als gebraucht zu werden«, lautet der neue Slogan, mit dem das Familienministerium für den BFD wirbt. Seitdem entstehen neue Unterschichtungen zwischen Erwerbsarbeitsverhältnissen und Ehrenamtlichen bzw. den neuen Freiwilligen. Das führt zu Konkurrenz zwischen den ohnehin schon heterogenen Beschäftigtengruppen und zwischen Ehrenamtlichen, Freiwilligen und bezahlten Kräften. Eine Trennung zwischen Erwerbsarbeit und Engagement ist kaum mehr möglich.

»Zeit, das Richtige zu tun«, so ein weiterer Slogan zum Bundesfreiwilligendienst. Was aber ist »das Richtige«? Es geht um Visionen einer zukünftigen Arbeitsgesellschaft, in denen der Gesamtzusammenhang von Arbeit und Leben, Existenzsicherung und Eigentätigkeit von Individuen und Gesellschaft neu gestaltet wird. Voraussetzung hierfür ist die Neubewertung und Umverteilung aller gesellschaftlich notwendigen Arbeit in ihrer (jetzt) bezahlt und (jetzt) unbezahlt geleisteten Arbeitsform und die Diskussion darüber, was als Arbeit gilt und was nicht. Schließlich kann es auch nicht darum gehen, alle sozialen Beziehungen Lohnarbeitskriterien zu unterziehen. Dringend brauchen wir dazu eine Arbeitszeitverkürzung im Bereich der Vollerwerbsarbeit (Sechsstundentag), wie er von Frauenbewegungen seit langem gefordert wird. Es gilt, die Deregulierung zu beenden, professionelle Arbeit auszubauen und existenzsichernd abzusichern. Dann kann das ehrenamtliche Engagement auch wieder freiwillig und unentgeltlich sein - das waren seine klassischen Attribute. Und es sollte nicht zum Stopfen der Löcher im sozialen Netz genutzt werden, d.h. nicht für das Kaschieren von Symptomen instrumentalisiert werden. Freiwilliges Engagement sollte vor allem auch dazu genutzt werden, Missstände auf die politische Agenda setzen und darauf zu dringen, dass sich etwas verändert. Positive Beispiele für solches Engagement finden sich in vielen Städten - von der Umweltpolitik über Mieterinitiativen bis zu Bündnissen gegen Rechts. Aktuell und für die Zukunft werden Flüchtlingsinitiativen zum großen Betätigungsfeld für bürgerschaftliches Engagement. Zentral hierbei wird es sein, über karitative Aspekte wie das Sammeln und Verteilen von Kleider- und Lebensmittelspenden hinauszugehen und gemeinsam mit den Flüchtlingen für deren Rechte zu streiten. Und auch hier wäre es Aufgabe einer sich politisch verstehenden Zivilgesellschaft, auf die Ursachen, die solche karitativen Initiativen überhaupt notwendig machen, hinzuweisen - also die Frage zu stellen, welche Gründe dazu führen, dass Menschen ihr Land überhaupt verlassen müssen.


Dr. Gisela Notz ist Sozialwissenschaftlerin, lebt und arbeitet in Berlin, Kontakt: gisela. notz@t-online.de; Ausführlicher zu diesem Thema: »'Freiwilligendienste' für alle. Von der ehrenamtlichen Tätigkeit zur Prekarisierung der 'freiwilligen' Arbeit«, Neu-Ulm: AG SPAK Bücher 2012, 10 Euro.


Anmerkungen:

[1] Reichsgesetzblatt, Teil I vom 27. Juni 1935, S. 769.

[2] Vgl. hierzu Hans-Joachim von Kondratowitz (1983): »Soziales Ehrenamt und gesellschaftliche Rationalisierung. Historische Entwicklung ehrenamtlichen sozialer Arbeit in Deutschland«, in: Roland Schmidt: »Ehrenamtlicher Dienst in der Altenhilfe. Ein Reader«, Berlin, S. 237 ff.

[3] Zit. nach Ulf Wende: »Hartz IV und das Grundgesetz. Gutachterliche Stellungnahme im Auftrag der PDS-Fraktion der Landtage Brandenburg, Sachsen und Thüringen«, Berlin 2004, S. 60

[4] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2014): »Zeit, das Richtige zu tun. Freiwillig engagiert in Deutschland - Bundesfreiwilligendienst, Freiwilliges Soziales Jahr, Freiwilliges Ökologisches Jahr«, 2. Aufl., Rostock, online unter:
http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/themen-lotse,did=183816.html

[5] Vgl. Homepage der Initiative für Jugendförderung Deutschland, online unter: www.bufdi.eu/presse/zahlen/

[6] Vgl. Rabea Haß/Anneli Beller (2013): »Experiment Altersöffnung im Bundesfreiwilligendienst«, Heidelberg

[7] Vgl. o.V.: »Immer mehr »Hartz IV«-Empfänger unter den Bufdis?!«, erschienen am 25. September 2013 auf der Seite »O-Ton Arbeitsmarkt«, online unter:
www.o-tonarbeitsmarkt.de/o-ton-news/bundesfreiwilligendienst-immer-mehr-hartz-iv-empfanger-unter-den-bufdis

[8] Haß/Beller, a.a.O., S. 4

[9] Michael Sommer: Vorwort, in: DGB Bundesvorstand (Hg.): »Das Bundesfreiwilligendienstgesetz - eine verpasste Chance«, Berlin 2012

[10] Vgl. z.B. die Seite von »Für soziales Leben e.V.«: »Initiative Engagementförderung junger Erwachsener«. online unter:
www.bundes-freiwilligendienst.de/stellen/angebote/html.

[11] Bei dessen Vorstellung wurde auf »Tätigkeitsprofile, die stark an Erwerbsarbeit erinnern«, hingewiesen. Helmut K. Anheier u.a.: »Ein Jahr Bundesfreiwilligendienst. Erste Erkenntnisse einer begleitenden Untersuchung«, Heidelberg 2012, S. 21.

[12] Migazin: »Flüchtlinge sollten sich im Bundesfreiwilligendienst engagieren«, online unter:
www.migazin.de/2015/11/11/schwesig-fluechtlinge-sollten-sich-im-bundesfreiwilligendienst-engagieren/

[13] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2000): »Freiwillig!«, Magazin zum Internationalen Jahr der Freiwilligen 2001, Nr. 1, S. 1.

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express 11/2015 - Inhaltsverzeichnis der Printausgabe
Gewerkschaften Inland
  • »Muster-Integration«. Interview mit Peter Bremme zum Entwurf einer Betriebsvereinbarung zur Integration von Flüchtlingen
  • Peter Birke: »Monster, Opfer, Superprofis«. Zur Diskussion über den SuE-Streik
  • Gisela Notz: »Freiwilligendienste für alle?« Über's Ehrenamt zur Prekarisierung
Betriebsspiegel
  • Michael Clauss: »Das Beste oder nichts?«. »Gemeinschaftsunternehmen« - Neuer Spartrick bei Daimler
  • »Arbeit nach Bedarf?« Interview mit drei Aktivisten des Kasseler »Forum Assistenzkräfte«
Internationales
  • Peter Nowak: »Auf dem Weg zum transnationalen Streik?« Über eine Konferenz im polnischen Poznan
  • Transact: »Über das Recht zu bleiben und zu gehen«. Von Ougadougou über Mytilini nach Nickelsdorf und weiter
  • Rainer Thomann: »Griechenland und die enttäuschten Hoffnungen«. Ein politischer Reisebericht
  • StS: »Showdown bei Vio.Me?« Fabrikbesetzer wehren sich gegen Zwangsversteigerungen
  • Thorsten Schulten: »Chancen für einen Wiederaufbau?« Über das griechische Tarifvertragssystem nach dem dritten Memorandum
  • Roman Danyluk: »Post-Majdan-Blues«.Über die soziale Krise und ArbeiterInnenproteste in der Ukraine, Teil II
Rezension
  • Joel Schmidt: »Alle Spätis stehen still?« Über einen Sammelband zu neuen Streikstrategien von Peter Nowak

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Quelle:
express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit
Nr. 11/2015, 53. Jahrgang, Seite 4-6
Herausgeber: AFP e.V.
"Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der politischen Bildung" e.V.
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Einzelheft: 3,50 Euro, Jahresabonnement: 35 Euro,
18 Euro für Erwerbslose, Azubis und Menschen in den
fünf neuen Ländern sowie 12 Euro Hartz IV-Spezial-Abo


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2016

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