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DAS BLÄTTCHEN/999: Inge und Walter


Das Blättchen - Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
Nr. 19/2009 - 14. September 2009

Inge und Walter

Von Hermann-Peter Ebenem


Einem breiten Publikum ist Inge Jens zuerst durch ihre Bücher über Katja Mann und ihre Familie bekannt geworden. In den letzten Jahren ist sie offensiv mit der Demenz-Erkrankung ihres Mannes, des großen Philologen, Publizisten und Pazifisten Walter Jens umgegangen, ohne sie publizistisch so breitzutreten wie ihr Sohn Tilman. Nun hat sie ihre Unvollständigen Erinnerungen vorgelegt, die schnell zum Bestseller geworden sind: ein lesenswertes und zugleich problematisches Buch.

Lesenswert: der Sprache wegen. Unprätentiös, uneitel ist diese Rückschau, sehr persönlich gehalten und zugleich sachlich, emotional wie nüchtern. Darin spiegelt sich das Naturell der in Hamburg geborenen Autorin, die von Kind an Entschlossenheit besaß und ursprünglich Ärztin werden wollte. Der Text ist keine filigrane Prosa - aber in Zeiten, da jede geistige Null aus der Politik oder aus dem Showbusiness meint, im mittleren Lebensalter mit Hilfe einer Ghostwriterin eine Autobiographie auf den Markt werfen zu müssen, ist es geradezu eine Wohltat, wenn jemand guten deutschen Stil schreibt.

Lesenswert: der Begegnungen wegen. Das Leben dieser Frau wäre genauso wenig erzählenswert wie das jeder berufstätigen Akademikerin ihrer Generation, wären da nicht die Begegnungen mit Menschen wie Ernst Bloch oder dem Germanisten Hans Mayer, mit Friedrich Schorlemmer und Jörg Hildebrandt, mit den Blockade-Teilnehmern von Mutlangen 1983 und den Streithähnen in den getrennten und unter erheblicher Beteiligung von Walter Jens 1993 vereinigten Akademien der Künste in Berlin. Viele dieser Menschen hat Inge Jens durch ihre eigene Berufstätigkeit kennengelernt, andere durch ihre Stellung als Ehefrau des berühmten Tübinger Professors. Gerade die Passagen, die etwas vom geistigen Flair Tübingens faßbar werden lassen, gehören zu den schönsten des Buches.

Lesenswert: der eigenen Arbeit wegen. Zuerst ist Inge Jens mit einer Edition der Briefe Thomas Manns an den Kölner Germanisten Ernst Bertram hervorgetreten. Die Begegnung mit Manns Witwe Katja hat ihren Weg ganz wesentlich geprägt - ihre Edition der Tagebücher des Dichters und die noch mit ihrem Mann gemeinsam erarbeitete Pringsheim-Trilogie (Frau Thomas Mann, 2003; Katjas Mutter; 2005; Auf der Suche nach dem verlorenen Sohn, 2006) sind Früchte einer lebenslangen Auseinandersetzung mit der Familie Mann. Dazu treten Ausgaben der Briefe und Aufzeichnungen von Max Kommerell und der Geschwister Scholl.

Weniger bekannt ist Inge Jens' Anteil an der Tübinger Universitätsgeschichte (Eine deutsche Universität. 500 Jahre Tübinger Gelehrtenrepublik), einer Gemeinschaftsarbeit, die 1977 aus verkaufstaktischen Gründen noch unter dem Namen ihres Mannes "in Zusammenarbeit mit Inge Jens" erschien. Dieses Auftragswerk wurde ein Verkaufserfolg - weil es keine Faktenhuberei und noch weniger akademische Selbstbeweihräucherung bietet, sondern im Brennspiegel einer alten, kleinen Hochschule die ganze Größe und das Elend deutschen Universitätslebens lebendig werden läßt.

Noch weniger im Bewußtsein der Öffentlichkeit, aber ein Markstein in der exemplarischen Aufarbeitung von Institutionengeschichte und ein Standardwerk zum Thema, ist die Dokumentation Dichter zwischen rechts und links. Die Geschichte der Sektion für Dichtkunst an der Preußischen Akademie der Künste, 1971.

In zweierlei Hinsicht sind Inge Jens' Erinnerungen problematisch. Zum einen wird die Demenzerkrankung des Ehemannes im letzten Kapitel dann doch etwas exhibitionistisch zur Schau gestellt. Wie belastend dieser Zustand für die zweiundachtzigjährige Autorin sein muß, kann sich jeder Leser vorstellen, der je mit altersdementen Menschen zu tun gehabt hat. Und wes das Herz voll ist, dem geht der Mund trotz hanseatischer Nüchternheit gelegentlich über. Dieses Schicksal aber ist kein besonderes, sondern allgemein, und das Problem wird in unserer Gesellschaft mittlerweile so ausführlich diskutiert, daß man es nicht an einem Einzelfall ins Bewußtsein heben muß.

Problematisch ist aber auch der Umgang mit der Nazi-Vergangenheit des Vaters, der immerhin SS-Sturmführer und nach dem Krieg zwei Jahre interniert war. Sicher kann man von einem Mädchen, das bei Kriegsbeginn zwölf Jahre alt war, keine politische Einsicht verlangen. Aber von einer Autorin mit dem politischen Denkvermögen einer Inge Jens erwarte ich mehr als eine lange Reihe unbeantworteter Fragen und wenige hilflose Versuche einer psychologischen Analyse. Hier bleibt die mutige Frau merkwürdig blaß, während sie im Umgang mit der eigenen BDM-Vergangenheit unverkrampft und aufrichtig ist. Aber kein Mensch ist eben denen gegenüber neutral, die er liebt - auch eine Autorin nicht, die die besten Traditionen eines liberalen Bildungsbürgertums in sich vereint.


Inge Jens:
Unvollständige Erinnerungen
Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 2009, 320 Seiten, 19,90 Euro


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Quelle:
Das Blättchen, Nr. 19, 12. Jg., 14. September 2009, S. 21-23
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2009