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DAS BLÄTTCHEN/1542: Deutschland ist kriegsuntauglich


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
18. Jahrgang | Nummer 23 | 9. November 2015

Deutschland ist kriegsuntauglich

von Wilfried Schreiber


Deutschland ist kriegsuntauglich. Diese Tatsache ist keineswegs neu. Sie wurde bereits in den 1970er Jahren erkannt und hat sich seitdem in drei Stufen entwickelt. Die erste Stufe bezog sich vor allem auf die Unfähigkeit der gesamten europäischen Zivilisation, einen Kernwaffenkrieg zu überleben. Die Einsicht in diese Tatsache, die Ost und West besonders in den letzten beiden Jahrzehnten des Kalten Krieges miteinander verband, führte zu einem Prozess, der in die Schlussakte von Helsinki 1975 mündete. Dort gelobten die Staaten der NATO und des Warschauer Vertrages sowie alle neutralen Staaten Europas, ihre Streitfragen friedlich zu lösen und eine gesamteuropäische Friedensordnung aufzubauen. Sie untermauerten das mit vielfältigen Vereinbarungen und Verträgen zur Verringerung der Konfrontationsrisiken - ohne letztlich das Ziel einer europäischen Friedensordnung zu erreichen. Erinnert sei hier nur an den Kernwaffensperrvertrag und andere Abkommen zur Begrenzung der Kernwaffenrüstung, an den ABM-Vertrag, an den INF-Vertrag zur Vernichtung der Mittelstreckensysteme in Europa, an die Vereinbarungen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen (VSBM) sowie gegenseitige Inspektionen zur Rüstungskontrolle und Manöverbeobachtungen, die Roten Telefone und anderes - also an das ganze Instrumentarium zur Verhinderung einer nicht gewollten Eskalation.

In den 1980er Jahren wuchs als eine zweite Stufe auf beiden Seiten die Erkenntnis, dass selbst ein auf konventionelle Waffen beschränkter Krieg - also ein Krieg ohne Anwendung von Massenvernichtungswaffen - für Deutschland und die gesamte europäische Zivilisation tödlich wäre. Damals standen sich an der Trennlinie zwischen NATO und Warschauer Vertrag zirka 1,5 Millionen Soldaten feindlich gegenüber - ausgerüstet mit den modernsten Waffen aller Zeiten. Schon damals schätzten beide Seiten vor allem die Energie- und Kommunikationsinfrastruktur in Zentraleuropa als außerordentlich fragil und verletzbar ein. Es war bekannt: Ohne Elektroenergie gibt es kein Licht, kein Wasser, keine Telekommunikation, keine stabile gesundheitliche Versorgung, keinen Bahntransport und so weiter. In einem solchen Krieg hätte vor allem die Zivilbevölkerung keine Chance gehabt zu überleben. Exakt mit dieser Fragestellung beschäftigte sich im November 1988 in Berlin der vom Wissenschaftlichen Rat für Friedensforschung der Akademie der Wissenschaften initiierte Nationale Friedenskongress der Wissenschaftler der DDR. Wissenschaftler aller gesellschaftlichen Bereiche - einschließlich militärakademischer Einrichtungen - machten dabei auf die neuen Gefahren und Gefährdungen eines konventionellen Krieges aufmerksam und leisteten damit einen wichtigen Beitrag zur Begründung einer gesamteuropäischen Entspannungspolitik und zu einem neuen außenpolitischen Denken am Ende der 1980er Jahre.

Inzwischen hat sich das Rad der Geschichte weitergedreht und neue Hoffnungen aber auch neue Gefährdungen gebracht. Mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus verschwand einer der beiden Kontrahenten auf Grund seiner inneren Widersprüche von der Bühne der Weltgeschichte. Das weckte zunächst verführerische Erwartungen auf eine Welt des Friedens. Tatsächlich verschwand aber damit die einzige gesellschaftliche Kraft, die dem expansiven Drang des transatlantischen Westens und seiner Militärorganisation Einhalt gebieten konnte. Der Westen, der sich als Sieger der Geschichte verstand, setzte seine Expansion mit Out-of-Area-Einsätzen, begrenzten Kriegen und einer als Demokratisierung getarnten Regime-Change-Politik fort. Die NATO dehnte sich bis an die russische Grenze aus. Der vom Westen forcierte Missionierungs- und Transformationsprozess führte zu einer Destabilisierung des Balkans und mehrerer Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie des gesamten Nahen und Mittleren Ostens. Gegenwärtig stehen wir mit der Krise in der und um die Ukraine am Rande einer neuen Konfrontation zwischen der NATO und Russland. Spiegelbildlich eskalieren sowohl die NATO als auch Russland militärisch und ideologisch die Lage.

Die gegenwärtige Konfrontation vollzieht sich in einer neuen welthistorischen Situation, die nicht mit der alten Blockkonfrontation bis 1990 vergleichbar ist. Das alte Kräftegleichgewicht ist zerfallen. Führungsfähigkeit und Führungsanspruch der USA sind aufgrund ihrer inneren Defizite infrage gestellt. Neue Staaten wie China und Indien sind ökonomisch und politisch auf dem Vormarsch. Russland bestimmt trotz seiner ökonomischen Schwäche zunehmend die internationale Agenda. Neue Mittelmächte wie die Türkei und der Iran nehmen aktiven Einfluss auf das Weltgeschehen. Der Nahe und Mittlere Osten sowie Nordafrika sind weitgehend destabilisiert. Gleichzeitig hat die wechselseitige Abhängigkeit der Staaten im Rahmen der Globalisierung und der digitalen Kommunikation zugenommen. Jede Destabilisierung der internationalen Situation schlägt ökonomisch und politisch auf alle beteiligten Staaten zurück. Dazu kommen beunruhigende Entwicklungen im Militärwesen. Die Möglichkeiten zur Echtzeitaufklärung und Computerisierung führen zu einer Automatisierung militärischer Entscheidungen. Der Cyberwar ist zu einer eigenständigen Dimension jeglicher konfrontativen Auseinandersetzung geworden. Seine zerstörerische Kraft für Wirtschaft und Gesellschaft wird bisher kaum reflektiert. Insgesamt sind die Risiken für eine unbeherrschbare militärische Eskalation gewachsen.

Die Verletzbarkeit und Kriegsuntauglichkeit Deutschlands sowie der gesamten europäischen Zivilisation hat damit eine dritte Stufe erreicht. Trotz einer drastischen Verringerung der Truppenstärken aller NATO-Armeen nach dem Ende des Kalten Krieges sind seitdem die Gefahren für den Frieden größer geworden. Die Europäische Union ist umzingelt von zerfallenden Staaten und Krisenregionen mit einem hohen Eskalationspotenzial. Die militärische Eskalationsspirale ist enger und unbeherrschbarer geworden. Gleichzeitig fehlt aber heute das politische Instrumentarium der Deeskalation, das die Blockkonfrontation der 1970er und 1980er Jahre beherrschbar gemacht hat. Zugleich waren alle militärischen Auseinandersetzungen der letzten 15 Jahre, an denen die westliche Gemeinschaft beziehungsweise Truppen der NATO-Staaten beteiligt waren, weitgehend erfolglos und haben vor allem zu Chaos und "failed states" geführt. Für die beteiligten NATO-Staaten - einschließlich ihrer Führungsmacht USA - haben die Kriegs- und Kriegsfolgekosten zu enormen wirtschaftlichen Belastungen geführt, die auch die ökonomischen Grenzen ihrer Kriegsführungsfähigkeit deutlich gemacht haben.

Insbesondere der sich gerade auf das EU-Europa ergießende Flüchtlings-Tsunami zeigt, dass auch ferne und begrenzte beziehungsweise asymmetrische Kriege für Deutschland nicht mehr führbar sind und zumindest eine destabilisierende Rückwirkung auf die Urheber haben. Das Chaos, das vor allem von den USA - aber auch mit aktiver Unterstützung Deutschlands - in den Randregionen der EU, im Nahen und Mittleren Osten sowie in Nordafrika angerichtet wurde, schlägt unweigerlich auf uns zurück. Der unabsehbare Flüchtlingsstrom ist vor allem das Ergebnis von Kriegen, für die auch Deutschland die Verantwortung trägt. Hier in erster Linie medial einen Zugewinn in den Vordergrund zu stellen, ist blanke Augenwischerei und bagatellisiert die enormen Kosten, die mit der Bewältigung dieses Zustroms verbunden sind. Deutschland wird für diese Kriegsfolgen bezahlen und sich dabei verändern. In welchen Dimensionen ist noch nicht absehbar. Die allerwichtigste Voraussetzung für ein "wir schaffen das" besteht in der Verhinderung einer weiteren Eskalation der militärischen Konfrontation in den die Europäische Union umgebenden Krisenherden - also in der Krise in der und um die Ukraine, im Irak, in Syrien, in Afghanistan, in Palästina und an anderen Brennpunkten. Die Kriegsuntauglichkeit von Deutschland ist durch den Flüchtlingsstrom nur noch deutlicher geworden. Vielleicht war es der geheime Plan der Kanzlerin, genau das beweisen zu wollen.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 23/2015 vom 9. November 2015, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 18. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Dezember 2015

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