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DAS BLÄTTCHEN/1357: Privatsphäre - perdu


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
17. Jahrgang | Nummer 1 | 6. Januar 2014

Privatsphäre - perdu

von Gabriele Muthesius



Der erste handfeste Grund, nie wieder CDU/CSU oder gar SPD zu wählen und, wenn schon nicht das Ausscheiden der FDP, so doch das Sabine Leutheusser- Schnarrenbergers (SLS) aus dem Kabinett zu bedauern, liegt bereits vor, noch ehe die neue Bundesregierung ihre Amtshandlungen so richtig aufgenommen hat: Das Vorhaben beider Parteien, die Vorratsdatenspeicherung doch noch einzuführen, wird weiter verfolgt. So geht es aus dem Koalitionsvertrag hervor. Und die Aussichten, das Ziel im nächsten Anlauf zu erreichen, haben sich insofern verbessert, als SLS, in der letzten Legislaturperiode der einzige wirkungsvolle Bremsklotz am Kabinettstisch gegen diese Attacke auf die Privatsphäre und das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, nicht mehr im Amt ist.

Worum es geht, ist bekannt und eine Unverschämtheit sondergleichen: Alle Bürger des Landes werden unter kriminellen, ja terroristischen Generalverdacht gestellt, denn mit dem Argument, es diene der Terrorismusbekämpfung, sollen Telefonfirmen anlasslos und flächendeckend speichern, wer wann mit wem kommuniziert hat, und Internetunternehmen sollen sowohl die Verkehrsdaten sämtlicher E-Mails aufzeichnen als auch, wer wann mit welcher IP-Adresse online war. Das hat eine Richtlinie der EU von 2006 so bestimmt, die von den meisten der 28 Mitgliedsländer auch in nationales Recht umgesetzt worden ist.

Hierzulande hatte sich dagegen Widerstand geregt, weil eine dergestalt realisierte anlasslose Vollkontrolle der gesamten Bevölkerung in Sachen Grundrechte wirkt wie Multiple Sklerose. Ein wesentlicher Teil der Privatsphäre wird damit dem jederzeitigen direkten Zugriff interessierter Dienste und Behörden ausgeliefert, und wie willkürlich die selbst dann damit umgehen, wenn ihnen das gesetzlich untersagt ist, das kann exemplarisch in Pullitzer-Preisträger Tim Weiners außerordentlichen Gesamtdarstellungen von CIA und FBI nachgelesen werden. Wer die Sache an dieser Stelle mit einem hilflos achselzuckenden "Ich habe ja nichts zu verbergen." abtut, der liefert lediglich ein weiteres Beispiel dafür, dass keine Angst zu haben nur ein Ausdruck für den Mangel an Information ist. In bestimmten, historisch gar nicht so seltenen innenpolitischen und internationalen Konstellationen war "keinen Dreck am Stecken zu haben" nie eine Gewähr dafür, von staatlicher Willkür verschont zu bleiben. Die Schranken dagegen müssen errichtet werden, so lange es noch möglich ist. Als, um ein extremes Beispiel zu bemühen, das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 erst einmal da war, war es selbst für jene Nicht-Nazi-Parteien zu spät, die dem Gesetz im Reichstag zugestimmt hatten. Die neue Lex diente bekanntlich nicht dazu, die (Weimarer) Republik wieder handlungsfähig zu machen, sondern abzuschaffen.

Man kann gegen eine allgemeine, anlass- wie unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung im Übrigen auch noch andere Argumente ins Feld führen. So beeinträchtigt sie berufliche Aktivitäten, etwa in den Bereichen Journalismus, Recht, Medizin und Kirche, ebenso wie gesellschaftliche, politische oder auch unternehmerische Aktivitäten, die Vertraulichkeit voraussetzen. Nutzer von Telefonen, Handys und Internet werden gegenüber anderen Kommunikationsformen diskriminiert. Zu einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung passt all dies nicht.

Vor allem aber ist das von seinen Apologeten als unverzichtbare Medizin gegen Terrorismus und Schwerkriminalität beschworene Mittel nicht mal ein Placebo. Ein solches wirkt zumindest hin und wieder, auch wenn man dann in der Regel nicht weiß, wieso. Aktuelle Zahlen aus Österreich jedenfalls, wo die Vorratsdatenspeicherung praktiziert wird, sprechen da eine ziemlich eindeutige Sprache: Von April 2012 bis März 2013 hat die österreichische Polizei 326-mal gespeicherte Telefon- und Internetdaten abgerufen. Maßgeblich zur Aufklärung trugen diese in 56 von 139 abgeschlossenen Fällen bei - darunter waren 16 Diebstähle, zwölf Drogendelikte und zwölf Mal Stalking. Terrorismus und Schwerkriminalität waren nicht dabei. Nicht ein einziger Fall. Die Akteure in diesen Milieus können das, was die Vorratsdatenspeicherung angeblich leistet, nämlich mit geringem Aufwand umgehen. Und wem Österreich als Beispiel zu popelig ist: Gerade hat eine von US-Präsident Barack Obama höchst selbst eingesetzte Regierungskommission aus fünf Geheimdienst- und Rechtsexperten in Sachen "Vorratsdatenspeicherung" der NSA ihr für diese vernichtendes Urteil abgegeben - zur Abwehr terroristischer Bedrohungen sei die Speicherung exorbitanter Datenmengen nicht erforderlich. (Da bei der NSA aber wahrscheinlich nicht mehr Deppen sitzen als in derartigen Organisationen üblicherweise, fordert das die Schlussfolgerung geradezu heraus: Dazu werden die betreffenden Datenmengen dann wohl auch gar nicht gespeichert worden sein.)

Das Bundesverfassungsgericht hatte 2010 die regierungsseitig angestrebte sechsmonatige Vorratsdatenspeicherung als mit dem Grundgesetz "schlechthin unvereinbar" bewertet. Nun haben sich Union und SPD in den Koalitionsvertrag geschrieben, "auf EU-Ebene auf eine Verkürzung der Speicherfrist auf drei Monate hinzuwirken". Wie die Panazee allerdings in drei Monaten bewirken soll, wozu sie offenbar grundsätzlich gar nicht in der Lage ist, das bleibt das Geheimnis unserer Großen Koalitionäre. Oder die rücken nur mit ihrem wirklichen Motiv nicht heraus: Nämlich tatsächlich alles und jeden kontrollieren zu wollen. Ganz neu wäre auch das nicht - Staatsparanoia ist ja kein singuläres Phänomen in Geschichte und Gegenwart. Fast möchte man hier mit Brecht fragen: "Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?"

Und die Vorratsdatenspeicherung? Wer die nicht will, der kann seinen Bundestagsabgeordneten entsprechend traktieren (mit Dauerfeuer, nicht mit Eintagsfliegen!), der kann sich Internet-Petitionen anschließen oder selbst kreativ werden, was Widerstand und Protest anbetrifft. Und dann haben wir ja noch - als (ohne jede Ironie!) Speerspitzen der Demokratie - ein paar unermüdliche klage-erprobte Alt-Liberale wie Gerhart Baum und Burkhard Hirsch. Auch SLS war in dieser Phalanx in der Vergangenheit bereits aktiv, und mehr Zeit hat sie ja jetzt wieder ...

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 1/2014 vom 6. Januar 2014, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 17. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†), Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Januar 2014