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DAS BLÄTTCHEN/1330: Ein friesischer Dickschädel?


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
16. Jahrgang | Nummer 20 | 30. September 2013

Ein friesischer Dickschädel?

von Wolfgang Brauer



Jochen Missfeldt hat ein Buch über Theodor Storm geschrieben. Das Buch ist sehr dick, es enthält einige Redundanzen - er präsentiert die Biographie Storms eher als Roman denn als Sachbuch. Zuweilen dominieren dann die "Nebenfiguren", hauptsächlich wenn das Schicksal der Storm-Söhne verhandelt wird. Aber die Mühen der Lektüre werden mit Erkenntnisgewinn belohnt.

Missfeldt liebt den Lyriker Theodor Storm. Sein Buch breitet vor dem Leser wunderschöne Entdeckungen aus. Mit der Novellistik geht er dagegen durchaus kritisch zu Gericht. Sie dient ihm zu guten Teilen als Hilfsmittel zum Aufblättern der Familiengeschichte und dem Ausleuchten ihrer Abgründe. Storm literarisiert nicht nur die richterliche Praxis, wie der Autor bemerkt, er verarbeitet in einem sehr doppelten Sinne die familiären Verhältnisse. Er benutzt sie als stoffliche Anregung für die Novellen, und er bewältigt erzählend Zustände, die er wohl anders nicht auszuhalten vermag. Übrigens nicht erst in der Stiefmuttergeschichte "Viola tricolor" (1872), das war schon in Heiligenstadt der Fall. "Unter dem Tannenbaum" (1862) sei "die erdichtete Gegenwelt zur tatsächlichen Familienlage", so Missfeldt, die damals materiell misslich war. Storms Dichtungen waren (und sind!) nicht nur seinen Lesern Lebenshilfe, für ihn waren sie Überlebenshilfe.

Viele seiner Probleme waren Storms "grenzenlosem Egoismus" (Missfeldt) vor allem im Umgang mit seiner Frau Constanze geschuldet: "Von Zaum und Zügel weiß er nichts. Takt, Hemmung, Rücksicht sind ihm versagt." Mit dem Manne Storm geht der Autor hart ins Gericht. Er bezeichnet ihn als jähzornig und ichsüchtig. Der Schriftsteller wiederum habe diese Eigenschaften - Takt, Hemmung, Rücksicht ... - "in seinen Novellen meisterlich thematisiert" und beschreibe sie kunstvoll.

Diese Widersprüchlichkeit scheint tatsächlich evident gewesen zu sein. Fontane hat sie mit der bekannten Anekdote über das grobe Auftreten seines Freundes im Berliner Nobel-Café "Kranzler" in ein treffendes Bild gefasst. Mit Storm Wohlmeinende interpretieren dies bis zum heutigen Tag als verzeihliche Tölpelhaftigkeit des unwissenden Husumer Provinzadvokaten. Sie irren. Theodor Storm stammt aus aristokratischen Verhältnissen und wusste sehr genau, was er tat. Nichts mit "elender Husumerei", wie Fontane meinte. Die Provokationen waren gezielt gesetzt.

Storm traute den Preußen nicht über den Weg. Und die ihm auch nicht. In Potsdam, ab 1853 erste Station seines Exils, hält ihn die Justizbürokratie auf Abstand. In Heiligenstadt (1856 bis 1864) kann der Kreisrichter Storm auch nicht so recht Fuß fassen: "Im Kollegium ist Storm als Dichter ein Fremdkörper, als Richter ist er ein Paradiesvogel, den man mit Argusaugen mustert." Der Richter tanzt aus der Reihe. "Er weiß mit dem gemeinen Mann sich gut zu verständigen", urteilt man über ihn. In Preußen ein Karrierehindernis. Statt mit der Keule des Gesetzes herumzufuchteln, suchte Storm lieber den Ausgleich in Form langwieriger Vergleichsgespräche. Die schmälerten die Einnahmen der Justizkasse, kamen aber dem Erzähler, dem der Stoff auf diese Weise nur so zusprudelte, zugute.

Für die Obrigkeit war das in Verbindung mit den demokratischen Ansichten des Richters mitnichten ein positiver Ausweis: Missfeld zitiert Otto von Bismarck, dem die Möglichkeit, "durch Professoren, Kreisrichter oder kleinstädtische Schwätzer" regiert zu werden, ein Graus war. Mit den Kreisrichtern war Theodor Storm gemeint. Bismarck schrieb das 1863. In jenem Jahr tobte der preußische Verfassungskonflikt so heftig, dass dessen politisches Überleben auf dem Spiel stand.

Die Bismarcksche Politik, durch kriegerische Erfolge die innenpolitischen Konflikte zu bändigen, hatte dennoch ihre Auswirkungen auf Storm. Am 17. März 1864 wurde er von den Husumern zum Landvogt gewählt. Vorher hatten preußische und österreichische Truppen Eider und Schlei überquert, das dänische Heer räumte kampflos das Danewerk. Storm sei "eigensinnig", meint der Autor, "auf ein unabhängiges Schleswig-Holstein festgelegt" gewesen. Der Dichter selbst spricht im Zusammenhang mit den preußischen "Befreiern" (er hat den Annexionsbraten früh gerochen) von der "verfluchten Junkerbrut". Unterwerfung war ihm wesensfremd: "Inbegriff der Unterwerfung ist ihm das preußische Junkertum." So Missfeldt. Und: "Storms Preußenhass, der sich verschwommen oder abwegig äußert, lebt und arbeitet in der heidnischen Gestimmtheit seines friesischen Dickschädels."

Das ist verschwommen. Natürlich hat Storms Preußenbild etwas mit dem Erleben eiskalter Machtpolitik im Zusammenhang mit dem Ersten Schleswig-Holsteinischen Krieg 1848 bis 1851 zu tun. Natürlich sieht Storm sehr genau die Begleitumstände der preußischen Annexion nach 1866. "Ich komme über die Vergewaltigung meines Heimatlandes nicht weg", schreibt er 1868. Jochen Missfeldt erinnert in diesem Zusammenhang an die deutsche Wiedervereinigung, "als die Gernegroß und Wichtigtuer aus dem Westen ihren Landsleuten in der ehemaligen DDR die Welt erklären, Sitte, Anstand und Versicherungen beibringen und Autos verkaufen wollten."

Storms jüngerer Schriftstellerkollege Wilhelm Jensen irrte aber, wenn er meint, dass Storm "für das an sich geschichtlich Bedeutungsvolle" der Sinn gefehlt habe. Hurrapatriotismus war ihm wesensfremd, Adel und Klerus verabscheute er. Für das Kaiserreich musste Storm ein Fremdkörper sein, den das literarische Deutschland der Gründerjahre offensichtlich nur ertragen konnte - bei den Lesern war Storm beliebt, er gehörte zu den wenigen Autoren, deren Honorarforderungen die Verleger zähneknirschend akzeptierten - indem es ihn in die Schublade des Idyllikers hinter dem Deich (die "Husumerei") abtat.

Dennoch: "Er genießt die allgemeine Achtung und ist auch als Dichter und Schriftsteller rühmlich bekannt." So begründete die preußische Finanz- und Justizbehörde 1880 die außergewöhnlich hohen Pensionszahlungen. Zeiten waren das! Theodor Fontane sah das ähnlich. Storm sei bei aller Preußen-Feindschaft dennoch "ein traitabler Mensch - und ein Poet."

Das Letztere ist das Entscheidende. Storm wusste um seinen und den Platz der Freunde in der Literaturgeschichte - 130 Jahre nach seinem Tode müssen wir ihm Recht geben. Seinen poetischen Umgang bildeten Kollegen wie Eduard Mörike, Gottfried Keller, Iwan Turgenjew, Theodor Fontane... Nie wieder habe es in Schleswig-Holstein Vergleichbares gegeben, sagt Missfeldt - das ist eine Spitze gegen Günter Grass.

Ein vordergründig "politischer" Dichter war Storm nicht. Aber Jochen Missfeldts Satz, dass Politik "Storm immer erst dann wichtig [ist], wenn sie ihm selber an den Kragen geht", ist nicht nachvollziehbar. Storm verhandelt das kaum auflösbare Spannungsfeld zwischen dem individuellen Glücksanspruch seiner Helden und den gesellschaftlichen Zwängen, an denen diese zumeist zerbrechen. Diese darf man, wenn sie unmittelbar in das persönliche Leben eingreifen, auch "Politik" nennen. Selbst wenn Storm versuchte, diesen Konflikten als Mensch aus dem Wege zu gehen, die Politik ging ihm in Permanenz "an den Kragen". Der Autor blättert diese Aspekte der Biographie detailgenau auf.

Theodor Storm warf sich den politischen Bewegungen seiner Zeit nicht mit Begeisterung in die Arme - aber er konnte und wollte sich ihnen auch nicht entziehen. Er bezog Position, und die war selten die der "Sieger der Geschichte". Wenn Missfeldt das mit "friesischem Dickschädel" meint, dann wollen wir gerne Detlev von Liliencrons "Pidder Lüng" anstimmen: "Lewwer duad üs Slaav!" Missfeldt umgeht die Beziehung zu Liliencron leider weitgehend. Das ist schade. Beide Dichter beschäftigte das Rungholt-Motiv: 1872 schrieb Storm "Eine Hallig-Fahrt", Detlev von Liliencron 1883 das berühmte "Trutz, blanke Hans" ("Heut nacht bin ich über Rungholt gefahren...") - und Storm schreibt 1887 den "Schimmelreiter". Den missversteht Jochen Missfeldt gründlich als "Höhepunkt des Stormschen 'Alles umsonst'", ein Wermutstropfen im Gesamteindruck seines Buches.

Ärgerlicher sind einige sachliche Fehler: Die "Frankfurter Buntbücher" erscheinen nicht in Frankfurt am Main sondern in Frankfurt an der Oder. Auch der Turm der Potsdamer Garnisonskirche steht schon lange nicht mehr. Das scheppernde Glockenspiel wurde erst 1991 errichtet und hat mit dem alten Turm so gut wie nichts zu tun. Das sollte korrigiert werden.

Jochen Missfeldt: Du graue Stadt am Meer. Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie, Carl Hanser Verlag, München 2013, 496 Seiten, 27,90 Euro.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 20/2013 vom 30. September 2013, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 15. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Oktober 2013