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DAS BLÄTTCHEN/1327: Lebt die OSZE eigentlich noch?


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
16. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2013

Lebt die OSZE eigentlich noch?

von Wolfgang Kubiczek



Von welcher OSZE ist da die Rede, könnten sich viele Leser im jugendlichen Alter, aber auch manche Ältere fragen - noch nie gehört!

Die OSZE - Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa - ist mit ihren heute 57 Teilnehmerstaaten die einzige alle europäischen Staaten umfassende Organisation - Ausnahmen bilden Kosovo, Nordzypern, Abchasien und Südossetien - mit einem umfassenden Sicherheitsverständnis. Die traditionelle Mitgliedschaft der USA und Kanadas sichert einen transatlantischen Bezug, während die Mitgliedschaft aller Nachfolgestaaten der UdSSR und der Mongolei ihre Ausdehnung weit in den mittelasiatischen Raum zur Folge hat.

Ja, die OSZE lebt noch, aber mit bescheidenem politischen Einfluss auf die europäischen Geschehnisse. Sie führt eher ein Nischendasein im Konzert europäischer, transatlantischer und eurasischer internationaler Organisationen.

In der Euphorie des fallenden "eisernen Vorhangs" zu Beginn der 90er Jahre noch überschwänglich als Instrument zur endgültigen Überwindung der Teilung des Kontinents gefeiert, ließ ihre Strahlkraft in den folgenden Jahren nach. Heute spielt sie in den europäischen und globalen Angelegen eine untergeordnete Rolle, oder, wie der irische Außenminister, Eamon Gilmore, bekannte: "Die OSZE ist heute nicht die Organisation, über die sich die Außenminister den Kopf zerbrechen, wenn sie frühmorgens aus dem Schlaf erwachen." Betrachtet man die der Organisation in ihrem Haushalt zur Verfügung stehenden Finanzmittel, so wird dieser Abstieg deutlich: während von 1993 bis 2005 das Haushaltsvolumen kontinuierlich zunahm - von zwölf auf 186,6 Millionen Euro, standen ihr danach von Jahr zu Jahr weniger Mittel zur Verfügung, für das laufende Jahr nicht inflationsbereinigte 144,8 Millionen Euro. Vielsagend ist der Vergleich mit dem NATO-Budget. Nach inoffiziellen Angaben hatten die direkten Beiträge der NATO-Mitgliedsländer zur Organisation 2010 einen Umfang von 2,5 Milliarden Euro. Die Kosten für die diversen Militäreinsätze sind darin nicht enthalten; sie müssen von den beteiligten Ländern aus ihrem eigenen Haushalt bezahlt werden.

Dabei hatte die Organisation Anfang der neunziger Jahre durchaus bahnbrechende Ergebnisse vorzuweisen: die "Charta von Paris" (1990); den "Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa" (KSE-Vertrag - 1990); den Vertrag über den offenen Himmel (1992 und, schon in der Zeit der sich abzeichnenden Krise der Organisation, das Wiener Dokument über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen (1999). Alle diese die europäische Sicherheitsarchitektur nach 1990 wesentlich bestimmenden Übereinkommen befinden sich entweder in einer tiefen Krise, wie der KSE-Vertrag, oder sie stagnieren im wesentlichen auf dem damals erreichten Niveau ohne Chance auf Weiterentwicklung.

Was hat diesen Bedeutungsverlust der OSZE für die europäische Politik bewirkt? Neben den politischen Veränderungen zu Lasten Russlands sind es entgegengesetzte Strategien der Hauptakteure in Bezug auf die Organisation. Letztlich läuft es darauf hinaus, dass die beiden wichtigsten Gruppierungen - die Staatenmehrheit aus NATO und EU und die Minderheit, Russland und einige Partner aus der OVKS (Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit), sich jeweils den Teil aus den drei Dimensionen ("Körben") herauszusuchen, der der Verwirklichung ihrer eigenen politischen Ziele am meisten dient: der Westen den Korb 3 "Menschenrechte", Russland vor allem den Korb 1 "Sicherheit". Dabei geht die Kultur des Kompromisses innerhalb der OSZE, die sogar im "kalten Krieg" zu vorzeigbaren Ergebnissen geführt hatte, zusehends verloren.

Der Westen geht davon aus, dass die wichtigsten sicherheitspolitischen Bedrohungen geklärt sind. Russland hält dagegen, dass mit der Ausdehnung der NATO in Wirklichkeit Zonen unterschiedlicher Sicherheit im OSZE-Raum zu Lasten Russlands und seiner Verbündeten entstanden sind. Aus Sicht des Westens ist dagegen der Mangel an Demokratie und Menschenrechten in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion die Hauptursache für die politischen Spannungen. Um das zu ändern, werden solche OSZE-Institutionen wie das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR) in Warschau und die OSZE-Missionen und Feldoperationen des Konfliktverhütungszentrums in Wien genutzt. Sie verfügen über einen hohen Grad an Autonomie bei der Entscheidungsfindung und sind nicht dem ansonsten in der OSZE geltenden Konsens-Prinzip unterworfen. Diese Entscheidungsautonomie ist für Russland nicht ohne Brisanz, kamen doch 2012 von den 741 internationalen Mitarbeitern der OSZE allein 527 aus NATO-Ländern und lediglich 61 aus den OVKS-Staaten.

Der russische Botschafter bei der OSZE formuliert die Kritik an dieser Praxis ziemlich unverblümt. In der Organisation werde durch die geografische Konzentration der Missionen auf Osteuropa und Mittelasien eine Trennung vorgenommen zwischen dem demokratischen Westen und dem postsowjetischen Osten, also einem Teil von Staaten ohne Probleme und einem anderen, dem internationale Betreuung und Erziehung zuteilwerden müsse. Es würden Doppelstandards praktiziert, mit deren Hilfe den postsowjetischen Ländern das neoliberale Demokratiemodell ohne Berücksichtigung der nationalen Besonderheiten und Traditionen oktroyiert werden soll. OSZE-Organisationen wie das BDIMR würden zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten der jungen Staatsgebilde instrumentalisiert.

Steht nun das Ableben der OSZE bevor?

Das ist nicht zu erwarten. Denn beide Großmächte haben ein tiefsitzendes Interesse am Erhalt der Organisation. Für die USA bietet sie eine Möglichkeit zur ständigen Projektion ihrer Interessen in den postsowjetischen Raum, vor allem nach Mittelasien und in den Kaukasus, speziell auch im Zusammenhang mit dem Abzug aus Afghanistan. Russland wiederum sieht in der OSZE das einzige Format, um auf gleichberechtigter Grundlage im Mächtedreieck mit den USA und der EU den Dialog über Sicherheitspolitik in Europa zu führen. Daneben entsteht in einer Reihe von Detailfragen zunehmende Interessenidentität. Vor allem sind hier die transnationalen Bedrohungen zu nennen: Terrorismus, Drogen- und Menschenhandel, organisierte Kriminalität, Korruption und Geldwäsche. Hier existiert ausreichend Substanz, um gemeinsame Maßnahmen zu ergreifen und zu einer konstruktiven Zusammenarbeit zu finden.

Das internationale Gewicht der Organisation wird aber davon bestimmt sein, wie sie sich in den politisch-militärischen Sicherheitsfragen Achtung und Einfluss verschafft. Ganz vorn steht hier die Frage, den Prozess der konventionellen Rüstungskontrolle wieder in Gang zu bekommen. Gleichzeitig gibt es seit dem Medwedjew-Vorschlag von 2009 in der OSZE einen manchmal etwas intensiveren, dann wieder zähen Dialog über die Konturen einer neuen Sicherheitsgemeinschaft. Die politische Erklärung des OSZE-Gipfels in Astana bekannte sich zu der Vision einer "euroatlantischen und eurasischen Sicherheitsgemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok". Worum es sich dabei handeln sollte und welche Rolle der OSZE in ihr zugedacht ist, ging allerdings daraus nicht hervor. Diplomaten aus NATO-Staaten haben schon zuvor ihre Skepsis zum Ausdruck gebracht: es gebe bereits ein hervorragendes europäisches Sicherheitssystem mit der NATO und der ESVP, an dem auch Russland über die entsprechenden Gremien wie den NATO-Russland-Rat beteiligt sei und es sei nicht ersichtlich, worin der Mehrwert eines solchen Dialogs bestehen sollte.

Dennoch der Dialog unter der ambitionierten Zielvorstellung einer euroatlantischen und eurasischen Sicherheitsgemeinschaft geht weiter. Er vollzieht sich im Rahmen des "Helsinki + 40"-Prozesses, der auf den 40. Jahrestag der KSZE-Schlussakte von Helsinki fokussiert ist. Vier renommierte europäische Institute haben im Rahmen des Gemeinschaftsprojekts IDEAS ein Papier vorgelegt, das sowohl die Vision umreißt und gleichzeitig praktikable Schritte aufzeigt. Die Autoren sehen dann eine Chance, wenn die Erreichung einer Sicherheitsgemeinschaft als Prozess und nicht als einmaliger Akt verstanden wird. Dabei gelte es in allen drei Dimensionen der OSZE parallel jeweils jene Probleme anzupacken, die eine Lösung möglich erscheinen lassen. Im Ergebnis solle ein Netz von verschiedenartigsten Vereinbarungen entstehen, das letztlich die Basis für ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis schafft.

Die OSZE ist also am Leben, allerdings nicht in der besten Verfassung. Alle Hauptakteure - die EU, Russland und die Vereinigten Staaten - sind derzeit einem erheblichen Wandlungsdruck ausgesetzt. Solange dieser anhält, sollte das Minimalziel der Erhalt dieser in der Welt einmaligen regionalen Organisation sein.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 19/2013 vom 16. September 2013, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 15. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2013