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DAS BLÄTTCHEN/1198: Raketen auf dem Subkontinent


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
15. Jahrgang | Nummer 12 | 11. Juni 2012

Raketen auf dem Subkontinent

von Edgar Benkwitz



Wheeler Island, eine nur 1,6 Quadratkilometer große Insel im Golf von Bengalen, gehört zum Bhitarkanika Nationalpark, in dem sich jeweils im Januar Hunderttausende streng geschützter Meeresschildkröten der Spezies Lepidochelys olivacea zur Eiablage einfinden. Allerdings wird die friedliche Idylle mehrmals im Jahr empfindlich gestört, zuletzt am Morgen des 19. April 2012. Indische Wissenschaftler und Militärexperten feuerten von einem Testgelände eine neu entwickelte Rakete ab, die 20 Minuten später in 5.000 Kilometer Entfernung ihr vorgesehenes Zielgebiet im Indischen Ozean exakt erreichte. Mit der "Agni-V" wurde Indien der sechste Staat, der über atomwaffenfähige interkontinentale ballistische Raketen verfügt.

Das Ereignis fand weltweite Beachtung, die offiziellen Reaktionen darauf waren indes gelassen und zurückhaltend. Die USA sprachen Indien ihr Vertrauen aus; China betonte, dass es sich nicht bedroht fühle, beide Staaten seien keine Rivalen, sondern Partner. Und nach NATO-Meinung berühre der Test die Organisation nicht.

Medien und Experten bezogen jedoch andere Positionen. Sie stellten unisono fest, dass die "Agni-V" Ziele in China, einschließlich Peking, erreichen kann. Damit etabliere sich Indien als Gegengewicht zu China. Indiens Boulevard brachte sogar den Begriff "China-Killer" auf. Chinas "Global Times" reagierte prompt und konterte mit der Behauptung, diese Rakete würde mit einer Reichweite von sogar 8.000 Kilometern Westeuropa erreichen können. Der Westen wurde beschuldigt, China und Indien als verfeindete Staaten darzustellen, die zum Krieg gegeneinander rüsteten. Im Übrigen - so eine andere Tendenz - sei die chinesische nukleare Macht der indischen weit überlegen, Indien habe in einem Rüstungswettlauf keine Chance.

Der indische Premierminister Manmohan Singh sprach von einem "Meilenstein für die Sicherheit Indiens" und deutete damit auf die Ansprüche des riesigen Landes mit einer Bevölkerung von 1,2 Milliarden Menschen hin. Ähnlich wie in China wird seit Staatsgründung daran gearbeitet, das Land militärisch stark und somit unverletzlich zu machen. Bereits 1974 zeigte ein unterirdischer Test die Beherrschung der Kernspaltung an. Wegen verhängter Sanktionen beschritt Indien eigene Wege, scheute aber weitere Tests. Erst 1998 wurde die nun vorhandene nukleare Abschreckungskapazität mit fünf unterirdischen Tests, darunter einer Wasserstoffbombe, demonstriert. Da Indien weder dem Nichtverbreitungsvertrag für Kernwaffen noch dem Teststoppabkommen angehörte, antworteten die USA und andere westliche Staaten mit Wirtschaftssanktionen. Aber zehn Jahre später akzeptierte Präsident George W. Bush die vorhandenen nuklearen Einrichtungen einschließlich des Atomwaffenarsenals und stellte Indien damit de facto auf eine Stufe mit den übrigen Atommächten.

Analog zum Atomprogramm, das sich im Gegensatz zu anderen Staaten bis heute in zivilen, nicht in militärischen Händen befindet, wurde die Raketentechnik vorangetrieben. Eine im Land entwickelte Rakete transportierte 1980 einen Satelliten in den Weltraum. Noch fünf Jahre zuvor hatte das für Indiens ersten Satelliten eine sowjetischen Rakete tun müssen. Das zivile Programm wurde durch ein militärisches ergänzt, das heute mit den "Agni"-Versionen nahezu alle Reichweiten abdeckt. Unumwunden wird erklärt, dass die Kurzstreckenraketen "Agni-II" und "III" gegen Pakistan und die Mittelstreckenrakete "Agni-IV" gegen chinesische Basen in Tibet eingesetzt werden könnten. Die neue "Agni-V" soll nach weiteren Tests 2014 den indischen Streitkräften übergeben werden. Berichten zufolge wird schon an der "Agni VI" gearbeitet - mit einer Reichweite von 10.000 Kilometern sowie an der Ausrüstung mit Mehrfachsprengköpfen und der Modifizierung für den Start von U-Booten aus. Damit weist das Programm auf die Schaffung einer Zweitschlagskapazität, wie sie die fünf führenden Atommächte besitzen.

Russland, das nach Angaben der Indian Defence Review zum Navigationssystem der neuen Rakete beigesteuert hat, ist auch hierbei behilflich. Anfang April 2012 wurde der indischen Marine ein atomares U-Boot der "Akula II"-Klasse für zehn Jahre auf Leasingbasis übergeben. Indien lässt sich das eine Milliarde Dollar kosten. Eigene Atom-U-Boote befinden sich im Bau und der Erprobung. Der enorme Schub, den Indiens Streitkräfte in allen Waffengattungen erhalten, wird auch durch den jüngsten SIPRI-Bericht bestätigt. Hiernach ist Indien gegenwärtig weltgrößster Waffenimporteur, gefolgt von China und Pakistan. Gekauft werden neben maritimer Technik vor allem Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber, Panzer und Artillerie.

Indien geht es um mehr, als nur den Erzfeind Pakistan in Schach zu halten. Hier werden die Weichen für einen künftigen Weltmachtstatus gestellt. Die Verfügbarkeit über Atomwaffen und Raketen gilt dabei als unabdingbar. Politische Beobachter verweisen darauf, dass Indien genau das gleiche tue wie China, nur eben mit einer Verzögerung von zehn Jahren. Indien hofft, dass der angestrebte Status seine Interessenlage auch im engeren Umfeld besser schützen beziehungsweise beruhigend auf dieses wirken könnte.

Doch tut es das wirklich? Im Dauerkonflikt mit Pakistan ist keine Lösung abzusehen. Ansätze für allumfassende friedliche Beziehungen konnten nie realisiert werden. Schätzungen zufolge verfügt Pakistan mittlerweile über 100 atomare Sprengsätze, genauso viel wie Indien. Bezeichnenderweise testete Pakistan nur wenige Tage nach Indiens "Agni-V"-Erfolg erstmalig eine atomwaffenfähige Mittelstreckenrakete mit einer geschätzten Reichweite von 3.000 Kilometern.

Indiens geopolitisches Umfeld wird neben den instabilen Verhältnissen in Pakistan durch den Krieg in Afghanistan, die unberechenbare Politik Irans, durch nicht überschaubare Verhältnisse in den Staaten Mittelasiens und die Lage in Tibet bestimmt. Dort stationierte chinesische Raketen können mit Leichtigkeit die Hauptstadt Indiens erreichen. Mit China gibt es noch aus der Kolonialzeit herrührende Grenzstreitigkeiten, die 1962 zu größeren militärischen Auseinandersetzungen führten. Zum Umfeld gehören nicht zuletzt auch die USA, mit ihrer Flotte und diversen Militärstützpunkten Indien gewissermaßen vorgelagert. Die US-Strategie zielt darauf, Indien im Indischen Ozean und seinen Randgebieten in die Rolle eines Gegengewichts zu China zu drängen, um so langfristig eigenen sinkenden Einfluss zu kompensieren. Doch im Selbstverständnis Indiens ist der Indik seit jeher seine natürliche Einflusszone, in die es sich nicht hineinregieren lassen will.

Durch die Globalisierung wird Indien immer mehr mit der Welt vernetzt. Millionen indischer Arbeiter sind in den Golfstaaten beschäftigt. Mittels Satellitenkommunikation wird über Nacht die Buchführung amerikanischer und westeuropäischer Firmen in Indien erledigt. Um den Energiehunger zu stillen, werden aus dem Iran und den Golfstaaten riesige Mengen Erdöl herangeschafft. Immer mehr indische Firmen etablieren sich in Europa, darunter Deutschland. Indien braucht für seine Entwicklung ein friedliches Umfeld. Sind aber deshalb die ambitiösen atomaren und Raketenprogramme gerechtfertigt? Noch dazu in einem Land, wo Hunderte von Millionen Menschen täglich um das Existenzminimum kämpfen und wo es nicht zu unterschätzende nationalistische Kräfte gibt? Die Antwort darauf zu finden, ist nicht leicht. In der Welt von heute, in der rasante Veränderungen stattfinden und sich bestehende Kräfteverhältnisse verändern, meint die indische Regierung, den richtigen Weg zur Sicherung seiner Interessen zu beschreiten.

Doch wie wird die Zukunft aussehen? Wird es im Indischen Ozean zwischen den großen Mächten Indien und China ein zunehmend atomares Wettrüsten geben? Westliche Strategieexperten zeichnen ein derartiges Szenarium. Zu hoffen ist, dass die Vernunft sich durchsetzt, und sowohl Indien als auch China ihre Ressourcen vorrangig für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung einsetzen.

Im Moment ist allerdings der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass auch für die seltenen Meeresschildkröten auf Wheeler Island und Umgebung die Zukunft nicht rosiger wird.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 12/2012 vom 11. Juni 2012, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 15. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2012