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DAS BLÄTTCHEN/1194: Ein literarischer Doppelmord als Plagiat


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
15. Jahrgang | Nummer 11 | 28. Mai 2012

Ein literarischer Doppelmord als Plagiat

von Manfred Orlick



Man will es einfach nicht glauben, aber in meiner Schulzeit war Abschreiben (besser bekannt als Abgucken) noch gang und gäbe. Schummeln, Spicken, Abschreiben - das waren früher noch schulische Traditionswerte. Ob Mathe-Arbeit oder Deutschdiktat ... man schielte einfach heimlich zum Banknachbarn. Na gut, man durfte sich vom Lehrer nicht erwischen lassen. Der sah das Ganze dann nicht gerade als Kavaliersdelikt an, sondern verpasste die entsprechende Note. Trotzdem, abgeschrieben hat früher wohl jeder einmal. Und wer nicht abschreiben ließ, war ein fieser Streber.

Im Internet-Zeitalter ist das Abschreiben nun viel unkomplizierter und beliebter geworden. Einfach per Mausklick kopieren und einfügen - computertechnisch als "copy & paste" bezeichnet. Das Ganze hat sich regelrecht zu einer neuen Sportart entwickelt.

Ob Hausaufgabe, Referat, Bachelorarbeit oder Dissertation ... dank Internet geht es jetzt schneller und effektiver. Einfach einen Text aus dem Internet kopieren und fertig ist man mit dem Aufsatz, der einem früher mehrere Stunden der kostbaren Freizeit stahl. Ist doch wunderbar. Das hektische Abschreiben der Hausaufgaben auf der Schultoilette gehört damit ebenso der Vergangenheit an, wie das tagelange Recherchieren in staubigen Bibliotheksräumen beim Verfassen der Diplomarbeit.

Doch seit Karl-Theodor zu Guttenberg ist diese zeitsparende Methode in Verruf gekommen. Man spricht nicht mehr vom "Abschreiben" sondern von "geistigem Diebstahl", vom "Plagiat". Welch hässliches Wort. Und fast jeden Tag mehren sich die Plagiatsvorwürfe. Besonders Politiker scheinen für diese "Internet"-Krankheit anfällig zu sein und sind damit zur Zielscheibe von Plagiats-Jägern geworden. Inzwischen kommt uns jeder Doktortitel irgendwie anrüchig vor.

Das "digitale Abschreiben" beschränkt sich aber längst nicht mehr nur auf die große Politik und elitäre Universitätsgefilde, auch in den Niederungen der Schreiberzunft ist diese Praxis längst angekommen. Vor einiger Zeit verfasste ich eine Rezension zu einem Maigret-Krimi. Bereits während der spannenden Lektüre (es handelte sich um den Mord an einem angeblich braven Unternehmer) machte ich mir dafür einige Notizen. Als mein Text schließlich fertig war, entdeckte ich auf dem Umschlag den Hinweis auf einen Doppelmord. Hatte ich einen Mord glatt überlesen? Also wurde der Roman nochmals studiert, doch es blieb bei einem Einfach-Mord. Nun sollte Google Gewissheit bringen. Aber auch frühere Buchvorstellungen sprachen von einem Doppelmord. Die knapp 200 Seiten also nochmals kritisch durchforstet und dabei stieß ich auf die wohl entscheidende Stelle: Nach einem gemeinsamen Theaterbesuch fanden Ehefrau und Tochter den Toten vor, sie hatten quasi mit einem Schlag Ehemann und Vater verloren.

Aha, daraus hatte irgendwann jemand einen Doppelmord konstruiert und alle nachfolgenden Kritiker haben diesen Unsinn dann abgeschrieben. Und wie immer: Ist eine Behauptung erst einmal in die Welt gesetzt, dann ist sie nicht mehr zu tilgen. Also hat der Doppelmord längst Eingang in die Literaturgeschichte gefunden und wird da wohl ewig herumgeistern.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 11/2012 vom 28. Mai 2012, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 15. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juni 2012