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CORREOS/215: Venezuela - Parlament = Putschstruktur


Correos de las Américas - Nr. 188, 16. September 2017

Parlament = Putschstruktur

von Dieter Drüssel


Ein Strang der Destabilisierungspropaganda gegen Venezuela bildet die Dauerbehauptung einer diktatorischen Dynamik im Land, gegen die sich die rechte Parlamentsmehrheit wehrt. Verlogener geht nicht.

Verfassungszusatz und einfaches oder qualifiziertes Mehr: Kaum war das neue Parlament (Asamblea Nacional, AN) Anfang letztes Jahr zusammengetreten, lancierte es im Februar eine Verfassungsänderung, welche die Amtszeit von Präsident Nicolás Maduro um zwei Jahre kürzen sollte, so dass es Ende 2016 zu Neuwahlen hätte kommen sollen. Parlamentspräsident Henry Ramos Allup begründete in der kolumbianischen Tageszeitung El Tiempo, warum sich die Rechte zu jenem Zeitpunkt für dieses Vorgehen und nicht ein Abberufungsreferendum entschieden habe: Letzteres sei «umständlich», und für den Verfassungszusatz brauche es bloss eine einfache parlamentarische Mehrheit [1]. Eine einfache Mehrheit für einen Verfassungsbruch. Ein Verfassungszusatz darf nie konjunkturell oder auf konkrete Fälle oder Individuen ausgerichtet sein, was aber im Parlament offen betont wurde: Maduro muss weg!

Das Zusatzverfahren, von dem das rechte Parteienbündnis MUD (Tisch der Demokratischen Einheit) wusste, dass das Oberste Gericht (TSJ) dagegen einschreiten musste, wies verlockende «Vorteile» auf. Da man einerseits keine qualifizierte Mehrheit im Parlament hatte, sollte es ein einfaches Mehr tun. Die MUD hatte die Parlamentswahlen von Dezember 2015 klar mit 56.2% gegen 40.8% gewonnen und hätte aufgrund des im Wahlsystem eingebauten territorialen Minderheitenschutzes knapp die 2/3-Mehrheit im Parlament gewonnen, hätte sie im Gliedstaat Amazonas nicht einen offensichtlichen massiven Wahlbetrug mit Stimmenkauf u. ä. begangen. Die Justiz ordnete die Suspendierung der vier Gewählten (3 Rechte, 1 Chavista) an. Den Wahlbetrug stritt die MUD nie ab; sie beanstandete bloss angeblich illegale Umstände seiner Offenlegung in Form eines Gesprächsmitschnitts zwischen führenden rechten FunktionärInnen in Amazonas. Ende Juli 2016 setzte sich die Rechte über den bindenden Suspendierungsbeschluss des TSJ hinweg und vereidigte die drei Wahlbetrugsprofiteure als Abgeordnete. Damit sollten der eigenen Basis künftige Erfolge vorgegaukelt werden wie die Aushebelung wichtiger internationaler Verträge etwa im Energiesektor oder die ersehnte generelle Verfassungskonterreform. Gleichzeitig aber zielten die MUD-Leitung und die hinter ihr stehende US-Botschaft klar auf einen illegalen Umsturz. Es war evident: Das TSJ würde den Einbezug dreier Nicht-Gewählter ins Parlament nicht akzeptieren - so geschehen im September 2016. Und es würde bei Nichtbefolgung seines Urteils alle unter diesen Umständen erlassenen Gesetze als nichtig deklarieren. Das wiederum würde imperiumsweit als «Putsch gegen das Parlament» bezeichnet werden. Nota bene: Seit September 2016 hat die rechte Parlamentsmehrheit explizit in Nichtbefolgung juristisch bindender Beschlüsse der Justiz operiert, da sie nicht bereit war, auf ihre «2/3-Mehrheit» zu verzichten bzw. auf den Versuch, das Parlament als Operationsbasis für einen Putsch zu nutzen.

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Amnestiegesetz: Die rechte Parlamentsmehrheit verabschiedete im März 2016 ein Amnestiegesetz, das sämtliche Verbrechen seit dem Regierungsantritt von Hugo Chávez 1999, die auf den Sturz des Chavismus gerichtet waren, amnestieren sollte. Ausgenommen blieben einzig (kaum nachweisbare) gezielte Morde, nicht aber etwa die Mordfallen bei den Barrikaden 2014. Schon damals, wie wieder die letzten Monate, spannten «Oppositionelle» auf Hals-/Kopfhöhe von (oft chavistischen) MotorradfahrerInnen Nylondrähte über die Strassen, denen mehrere Menschen, die Barrikaden umfahren wollten, zum Opfer fielen (auch sie in den Medien Opfer der Diktatur). Detailliert werden zu amnestierende Delikte aufgezählt wie Einsatz von Minderjährigen und Kindern bei Delikten, Aufrufe zu Hassverbrechen, Verursachen von Panik in der Bevölkerung, Drogenhandel in den Gewaltherden, Immobilienbetrug, die Lancierung des 2015 offen zum Putsch aufrufenden Acuerdo Nacional para la Transición (Nationale Übergangsvereinbarung, ein Teamwork von Wirtschaftsmogulen, IWF-nahen Ökonomen, rechten Parteien, Ex-Militärs u.a.), Landesverrat, bewaffneter Aufstand und weitere «Gentleman-Delikte». Die Handlungen der Sicherheitskräfte waren dagegen explizit ausgenommen, im Gegensatz zu den ebenso explizit inbegriffenen nach Miami oder Kolumbien geflüchteten PutschistInnen.

Nun untersagt die venezolanische Verfassung die Amnestierung von Verbrechen gegen die Menschheit, unter die im Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs auch folgendes fällt: «Handlungen (...), mit denen vorsätzlich grosse Leiden oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der geistigen oder körperlichen Gesundheit verursacht werden.» Terrorisierte, durch «oppositionelle» Trupps mit Heckenschützen und Barrikaden eingeschlossene Unterklassen-Comunidades in verschiedenen Teilen des Landes 2014 (und wieder dieses Jahr); mörderische Drahtfallen und ähnliches - klingt da was an? Logisch, erklärte das Oberste Gericht dieses «Friedensgesetz» für verfassungswidrig. Ein «Beleg» mehr für die zunehmende Bevormundung des Parlaments.[2]

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Aussenpolitik I: Im Juni 2016 erklärte das TSJ das Gesetz zum «Gesundheitsnotstand» der parlamentarischen Rechten für verfassungswidrig. Es hätte der Exekutive vorgeschrieben, unangefragte «humanitäre Hilfsangebote» aus dem Ausland anzunehmen und deren Durchführung in die Hände der «Hilfswilligen» zu legen. Das Gesetz, so das Gericht, widerspreche komplett der Zuständigkeit der Exekutive für Internationales und verletze die nationale Souveränität. 2015 hatte das US-Südkommando die Möglichkeit eines «humanitären Einschreitens» in Venezuela propagiert, darauf folgte eine endlose Flut von «betroffenen» Medienberichten über angeblich danteske Zustände im Gesundheitswesen.

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Aussenpolitik II: Im Sommer 2016 versuchte die rechte Parlamentsmehrheit wiederholt, eine internationale Schuldenrestrukturierung der staatlichen Erdölgesellschaft Pdvsa mit direkter Intervention bei einer Reihe von Banken (von der Citi bis zur Commerzbank) und Regierungen mit zu verhindern. Die Botschaft: Ihre bevorstehende Regierung werde solche Geschäfte als null und nichtig betrachten. Auch hier beanspruchte sie eindeutige aussenpolitische Prärogative der Regierung. Mit der schliesslich nur teilweise geglückten Sabotage sollte Venezuela in eine Finanzpleite getrieben werden.

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Politischer Prozess: Am 25. Oktober 2016 beschliesst die AN mit 2/3-Mehrheit einen «politischen Prozess» gegen Maduro wegen angeblicher Verletzung der Verfassung. Denn Maduro habe ein System konsolidiert, das mit «Staatismus, Rentismus, Bürokratie und Korruption die Wirtschaft des Landes ruiniert hat»[3]. Gleichzeitig leitete die AN eine Absetzung der MagistratInnen des Obersten Gerichts (TSJ) und des Nationalen Wahlrats (CNE) ein.

Einen «politischen Prozess» gegen FunktionärInnen kann die AN laut Verfassungsartikel 265 nur zusammen mit dem Poder Ciudadano, der «BürgerInnen-Macht», beginnen. Das meint eine der fünf Staatsgewalten in Venezuela. Sie wird von der Defensoría del Pueblo geleitet, einer entfernt mit hiesigen Ombudsstellen vergleichbaren Instanz. Dieser fünften Staatsgewalt (neben Exekutive, Legislative, Judikative und Wahlrat) gehören etwa auch die Generalstaatsanwaltschaft und der Rechnungshof an. Weitere Verfassungsvoraussetzung für die Einleitung des «politischen Prozess» ist ferner, dass das TSJ darin einwilligt. MagistratInnen des TSJ und des Wahlrats wiederum kann die AN laut dem erwähnten Verfassungsartikel ebenfalls nur im Zusammenspiel mit dem Poder Ciudadano absetzen und neue MagistratInnen nur auf Vorschlag eben dieser fünften Gewalt wählen. Das hinderte sie nicht, letzten Juli ein «neues Oberstes Gericht» zu ernennen.

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Das gleiche Muster wiederholte sich 2016 in mehreren anderen Fällen, etwa, als die AN sich Exekutivvollmachten bei der Bestimmung der (Personal-)Politik der Zentralbank anmassen wollte. Selbstredend ging die Sache auch dieses Jahr weiter:

Absetzung des Präsidenten: Am 9. Januar 2017 hatte die Parlamentsmehrheit Präsident Nicolás Maduro wegen «Amtsaufgabe» abgesetzt. Dies, weil der Mann Regierungen verschiedener ölproduzierender Länder besucht hatte, um eine gemeinsame OPEC-Preispolitik zu diskutieren. Verfassungsartikel 232 und 233 sehen eine Präsidentenabsetzung ausser mittels eines Abberufungsreferendums nur vor, wenn der Präsident die nationale Souveränität, die territoriale Integrität oder die Landesverteidigung verletzt, weiter bei Tod oder Rücktritt oder wenn das Oberste Gericht die Amtsunfähigkeit des Inhabers zertifiziert. Das juristisch absurde Manöver diente dem Anheizen einer Putschstimmung, die sich vom letztem April bis Ende Juli in einem konkreten Aufstandsversuch kondensierte.

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«Entmachtung des Parlaments»: Am 28. März 2017 erliess das Oberste Gericht ein Urteil, das imperiumsweit als definitiver Schritt in die Diktatur denunziert wurde. Es war der gesuchte Auslöser für den schon angekündigten monatelangen Versuch, die Regierung gewaltsam zu stürzen bzw. eine internationale Intervention zu propagieren. Im Kern dürfte es dem TSJ darum gegangen sein, angesichts der zunehmenden internationalen ökonomischen Strangulierung die Formierung von energetischen Joint Ventures (speziell mit der russischen Rosneft) zu ermöglichen. Denn dafür bedurfte es eigentlich einer parlamentarischen Zustimmung, die aber a) wegen der Destabilisierungspolitik der rechten Mehrheit nicht zu kriegen war und b) wegen der grundlegenden Illegalität der 2/3-Mehrheit eben ohnehin nicht hätte rechtskräftig sein können. Eine Art double bind-Situation also. Das Gericht glaubte, einen Ausweg gefunden zu haben, indem es wegen der «verfassungswidrigen Unterlassung» der AN deren Vollmachten provisorisch auf die Verfassungskammer übertrug. Gleichzeitig hob es die Immunität der Abgeordneten auf und übertrug Maduro im Gegenzug weitreichende Vollmachten, «um die verfassungsmässige Ordnung aufrecht zu halten». Auf Ersuchen des Nationalen Sicherheitsrats nahm das Gericht am 1. April diese Punkte zurück.

Das Märzurteil widerspiegelt nicht die «definitive Diktatur», wie propagandistisch behauptet, sondern die Absurdität und Hilflosigkeit, einen antagonistischen Konflikt zwischen Staatsgewalten juristisch lösen zu wollen. Einen Schritt in die richtige gesellschaftliche Richtung machte der Chavismus erst später mit der Einberufung zur Verfassungsgebenden Versammlung. Die parlamentarische Rechte operierte präzis und ununterbrochen putschistisch, indem sie bewusst Vollmachten anderer Staatsgewalten, insbesondere der Exekutive, für sich beanspruchte. Die das transnational bejubeln, tun das angeblich aus Respekt für die Gewaltenteilung. Krieg ist Frieden und Frieden ist Krieg.


PS: Freddy Guevara, AN-Vizepräsident, am 25. Juli 2017 im Privatsender Venevisión: Aktuell «sind wir in einer Thematik, die mehr Ähnlichkeit mit der chilenischen Konzertation aufweist, die sich Allende entgegenstellte, und danach kam der Wiederaufbau von Chile.[4]» Natürlich haben die Imperiumsmedien dieses Bonmot «verpasst».


Anmerkungen:

[1] El Tiempo online, 6.2.16: «Con la enmienda se acorta más rápido el período de Maduro»: Allup

[2] Ein Video zum Amnestiegesetz:
www.radiomundial.com.ve/article/vea-eldocumental-confesi%C3%B3n-de-parte

[3] misionverdad.org, 31.3.17: Intentos de golpes de Estado de la Asamblea Nacional

[4] youtu.be/Fu-0FcLOPjE

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Quelle:
Correos de las Américas, Nr. 188, 16. September 2017, S. 10-11
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
E-Mail: zas11@sunrise.ch
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Oktober 2017

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