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CORREOS/211: Mexiko - 100 Tage LehrerInnenstreik, und kein Ende in Sicht


Correos de las Américas - Nr. 185, 1. September 2016

Mexiko: 100 Tage LehrerInnenstreik, und kein Ende in Sicht

von Philipp Gerber


Am 22. August begann in Mexiko offiziell das neue Schuljahr. Aber nur für einen Teil der Kinder und Jugendlichen: In den Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca, Guerrero und Michoacán sind seit dem 15. Mai die Lehrkräfte im Streik. Eine kurze Rückblende auf die Geschehnisse.


«Wenn ein Helikopter über das Casa Xitla in Mexiko Stadt fliegt, dann rennen die Kinder von Nochixtlán verängstigt fort und versuchen sich zu verstecken», berichtet Luis Hernández Navarro. «Der Lärm des Metallvogels über ihren Köpfen weckt ihre Angst und ihre Hilflosigkeit, welche sie zwei Monate vorher, am 19. Juni in ihrem Dorf erlebten, als die Polizei ihre Familienangehörigen massakrierte». In der Casa Xitla sind die verletzten Überlebenden des Massakers von Nochixtlán untergebracht. Was in Nochixtlán genau geschehen ist, wird nur bruchstückhaft bekannt. Die Behörden versuchen, den Schwarzen Peter der Eskalation der sozialen Bewegung zuzuschieben: Sechs oder sieben soziale Organisationen seien vor Ort gewesen, auf die Polizisten sei scharf geschossen worden. Auch die Untersuchungskommission des Parlaments versucht das Massaker zu rechtfertigen, spricht mit Polizisten, die zugeben, dass sie scharf geschossen haben und sich in Widersprüche verwickeln.

Der 19. Juni, mit dem Schusswaffeneinsatz der Polizei in Nochixtlán, aber auch in den an der Autobahn nach Oaxaca-Stadt gelegenen Ortschaften Huitzo, Telixtlahuaca, Hacienda Blanca und dem Stadtteil Viguera, ist der tragische Wendepunkt in der Lehrer-Innenmobilisierung. Acht Tote und an die zweihundert Verletzte, die Hälfte davon mit Schussverletztungen, war die Bilanz des Tages. Ausserdem wurden 27 Personen verhaftet und gefoltert. In einer ersten, vorläufigen Aufarbeitung dieses schwarzen Sonntags beschreiben die Menschenrechtsorganisationen Oaxacas die Brutalität des Einsatzes, der zum Vorwand hatte, die Blockaden der wichtigsten Verbindungsstrassen zu räumen. Obwohl ihnen das unter massivem Einsatz von Tränengas meist innert Minuten gelang, verfolgten sie Protestierende und griffen insbesondere die Mixteca-Gemeinde Nochixtlán während Stunden an.

Schon eine Woche vor dem 19. Juni verschärfte sich die Lage: Die beiden wichtigsten Gewerkschafter der Sektion 22 der Lehrergewerkschaft CNTE wurden verhaftet, ein Protest in Oaxaca-Stadt von der Polizei angegriffen (Tage später starb ein Lehrer an den Folgen einer Kopfverletzung). Die Kriminalisierung des Protests brachte die Eltern, die Gemeinden und ganze Regionen in Aufruhr. Auch wenn die Massenmedien seit Jahren gegen die unbequeme Gewerkschaft vom Leder ziehen, die Realität in den armen Vierteln der Städte und auf dem Land ist, dass die Lehrkräfte grossen Respekt geniessen und die Leute sehr wohl wissen, dass sie für ihre Rechte kämpfen und gegen eine Reform des Bildungswesens, welche auch den Kindern keine Verbesserung bringt.

Seit dem 10. September 2013, seit drei Jahren also, ist die Reform des Bildungswesen in Kraft. Eine Reform, die massgeblich von der Unternehmervereinigung «Mexicanos Primero» geschrieben wurde und die sich einreiht in eine Serie von Strukturanpassungsmassnahmen, mit denen die Regierung Peña Nieto brillieren wollte. Heute, aufgrund der Mobilisierung der CNTE, wird Sinn und Unsinn der Reform breit diskutiert: «Leider erst jetzt, nach der Tragödie von Nochixtlán, sagen alle, es sei unverzichtbar, dass man die Stimme der Lehrer anhören müsse», meinte Manuel Gil Antón auf einem Forum im Senat anlässlich der drei Jahre Bildungsreform. Denn die Stimme des zentralen Akteurs in der Aula, der Lehrerin und des Lehrers, wurde bisher ignoriert, ja sie wurden «infantilisiert» und schlicht als kritikunfähig hingestellt, so der Pädagogik-Spezialist von der Universität Colegio de México.

Zentrales Element der umstrittenen Reform ist die Evaluation, mit der die Zukunft des Lehrers verknüpft ist. Und das Einschränken von gewerkschaftlich erkämpften Arbeitsrechten. Und wer wegen Demonstrationen oder Streik im Unterricht fehlt, wird erst durch Lohnkürzung gebüsst und im Wiederholungsfall entlassen. Die Kündigung droht auch denjenigen, welche die Evaluation (ein Multiple-Joice-Test mit 160 Fragen) nicht über sich ergehen lassen will. Der Regierung geht es nicht um die Verbesserung des öffentlichen Schulwesens, sondern um politische Kontrolle über die oppositionelle Gewerkschaft, die auch territoriale Widerstände, beispielsweise gegen Grossprojekte, unterstützt.

Nach dem Massaker von Nochixtlán wechselte also scheinbar der Wind. Das Innenministerium verhandelte mit der CNTE, sieben verhaftete Gewerkschafter kamen frei, tausende Entlassungen streikender Lehrer wurden zurückgenommen. Doch die Reform, die eigentliche Ursache des Konflikts, wurde nicht angetastet. Auch das Parlament bleibt stur, will die Reform frühestens fünf Jahre nach deren Inkrafttreten neu diskutieren.

Das Bildungsministerium seinerseits zauberte im Sommer ein neues «Bildungsmodell »aus dem Hut, darin enthalten auch die Reform. Dieses Bildungsmodell, orientiert am Beispiel Finnland, soll nun plötzlich in Bürgerforen konsultiert werden. Organisator der Foren ist die neoliberale Privatuniversität CIDE, welche keine Pädagogikfakultät besitzt. Warum das Bildungswesen als Ganzes erst jetzt ins Spiel kommt, fragen sich viele. Der Karikaturist Patricio beschreibt die Situation treffend: «Hier sind wir nicht in Finnland, hier in Mexiko wird erst die Strasse asphaltiert und nachher wieder aufgerissen, um die Kanalisation zu verlegen». Die epische Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaft und Regierung geht mit dem Beginn des Schuljahrs in eine neue Runde.

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Quelle:
Correos de las Américas, Nr. 185, 1. September 2016, S. 22
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. November 2016

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