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CORREOS/198: El Salvador - Wahlen und Justizputsch in «slow motion»


Correos de las Américas - Nr. 181, 15. Mai 2015

Wahlen und Justizputsch in «slow motion»

von Dieter Drüssel


Rund um die letzten Wahlen hat der Justizputsch gegen die FMLN-Regierung an Tempo zugelegt. Doch zuerst zu den Wahlen vom 1. März 2015 für das nationale und das zentralamerikanische Parlament (Parlacen) und auf Gemeindeebene. Heute, beim Verfassen dieses Artikels eine Woche vor Ende April, stehen die definitiven Resultate immer noch aus! Zwar hatte das Oberste Wahlgericht (TSE) am 27. März «definitive» Ergebnisse veröffentlicht, doch aufgrund eines Gerichtsbeschlusses findet derzeit eine Nachzählung für die Wahlen zum nationalen Parlament statt. Allerdings wird sie die Resultate nicht mehr grundlegend verändern. Präsentieren wir deshalb eingangs die «definitiven» Resultate des TSE! Im Vergleich zu den Gemeinde- und Parlamentswahlen von 2012 konnte der Frente leicht zulegen, der Rechtsblock (ARENA, PDC, PCN) verlor etwas. Dank einem lokalen Bündnis mit dem PCN und Reststimmenglück schafft es ARENA auf 35 Parlamentssitze (2012: 33), der FMLN bleibt bei seinen 31 Abgeordneten (davon 15 Frauen), PCN 6 (2012: 7), PDC 1 (bisher) und der CD fliegt raus. Numerisch verfügen beide Lager über je die Hälfte der insgesamt 84 Parlamentssitze.

Auf Gemeindeebene regiert ARENA in 129 von landesweit 262 Kommunen, der FMLN in deren 85. Hier ist anzufügen, dass ARENA etwas weniger als 50 % der Bevölkerung kommunal regieren wird, der FMLN etwa 40%; er hat die Hauptstadt und einige ihrer Vorortsstädte, die er 2012 verloren hat, zurückgewonnen. Für einen gewissen Frente-Rückgang auf dem Land spielen vermutlich lokale Faktoren, aber wohl auch das Auswählverfahren der KandidatInnen eine Rolle (es war vereinzelt zu Basisprotesten gegen die KandidatInnen gekommen). Neu auf kommunaler Ebene ist, dass die Gemeindeexekutiven plural zusammengesetzt sein werden; bisher hat die siegreiche Partei die gesamte Exekutive gestellt. Beim zentralamerikanischen Parlament Parlacen betrug der Vorsprung von ARENA auf den FMLN bloss rund 7000 Stimmen.


«Schlussresultate» des TSE, Stand 27.3.15, escrutiniofinal2015.tse.gob.sv

ARENA: 874.169.55246* Stimmen (38.77 Prozent)
FMLN: 840.619.34928 Stimmen (37.28 Prozent)
GANA: 208.851.06759 Stimmen (9.26 Prozent)
PCN: 152.632.86595 Stimmen (6.77 Prozent)
PDC: 55.698.27729 Stimmen (2.47 Prozent)
ARENA/PCN: 37.690.08333 Stimmen (1.67 Prozent)
CD: 36.396.2442 Stimmen (1.61 Prozent)
Rest**: 48.972.5598 Stimmen (2.17 Prozent)

* Die für unsere Zwecke irrelevanten Stellen hinter dem Komma resultieren aus dem System der sog. offenen Listen.
** Mehrere Kleinstparteien und eine parteilose Kandidatur

Insgesamt bestätigt sich also ein Patt zwischen den beiden grossen Parteien. Einschränkend ist allerdings zu sagen, dass die gesamte Rechte bei den Parlamentswahlen klar die Mehrheit stellt; auch GANA ist trotz taktischer Anti-ARENA-Allianz mit dem Frente keineswegs als linke Kraft misszuverstehen. Sie pflegt ihr «Ja» für Reformvorlagen von deren Verwässerung abhängig zu machen und bekleidet verschiedene Regierungsposten.

Zwischen Wahlgang und Veröffentlichung der Resultate durch das Wahlgericht TSE vergingen fast vier Wochen. Und aufgrund einer erneuten Einmischung der Verfassungskammer des Obersten Gerichts werden derzeit die Stimmzettel für die Parlamentswahl im Departement San Salvador neu ausgezählt. Warum?


Personenwahl gegen Programmwahl

Das salvadorianische Wahlsystem sieht die Hauptauszählung der Resultate an den einzelnen Wahltischen durch die Wahltischdelegierten der Parteien gleich nach Wahlschluss um 17 h vor. Nach dieser dezentralen Auszählung findet die zentralisierte, sog. definitive Auszählung statt. Dabei handelt es sich realiter um eine Überprüfung der Wahltischakten auf ihre Konsistenz unter Ägide des TSE, erneut durch ParteivertreterInnen unter Beobachtung der Generalstaatsanwaltschaft und der Menschenrechtsprokuratur (und einer OAS-Mission). Aus den Urnen hervorgeholt werden laut Wahlgesetz einzig die angefochtenen Stimmzettel, und dies nur, wenn ihre Anzahl die Differenz zwischen Sieger und Verlierer übersteigt. Dieses Grundprinzip der massgeblichen dezentralen Auszählung ist 1992 in den Friedensverhandlungen zwischen Guerilla und Regierung vereinbart worden, da die üblichen Wahlbetrüge stets bei der zentralisierten Urnenöffnung erfolgt waren.

In der Vergangenheit beanspruchte diese Auszählung an den Wahltischen im Schnitt einige Stunden. Angekreuzt wurde jeweils nur das Parteilogo auf dem Wahlzettel. Die Rangfolge der KandidatInnen wurde durch die jeweilige Partei vorgegeben. Für das kaum interessierende zentralamerikanische Parlament gab es keine besondere Wahl, es wurden die Resultate des nationalen Parlaments proportional übernommen. Die Gemeindeexekutive wurde nach einfachem Majorz gewählt.

Ein Kernelement des bisherigen Wahlsystems war, dass die Parteien, in der Hand die Wahltischakten ihrer Delegierten, sich gegenseitig kontrollieren und damit Spielräume für einen Wahlbetrug einschränken konnten. So gelang es der Linksallianz um den FMLN 2009, die Rechte aus der Exekutive zu verdrängen. Das alte System war deshalb für die Eliten nicht mehr funktional und wird seither massiv verändert. Zentral ist dabei die Verfassungskammer des Obersten Gerichts. Alle Veränderungen verfolgten das Ziel, die Wahl gegensätzlicher Programme durch eine solche von atomisierten Personen aufzuweichen - Marketing statt Inhalte. Unter Aushebelung der üblichen Gewaltenteilung (Exekutive, Parlament, Justiz) setzte die Kammer (nicht nur ) im Wahlsystem eine Reihe von Verfassungsänderungen durch, zu denen sie laut Verfassung nicht befugt war, sondern nur das Parlament. Als sich dieses 2012 mit einem Rekurs an das Zentralamerikanische Gericht gegen die fortlaufende Beschränkung seiner Kompetenzen durch die Kammer wehrte, kam es zu einer eigentlichen Krise der Staatsgewalten. Ein monatelanger Stillstand - die Rechte feierte dies als Unregierbarkeit des Landes unter einer linken Exekutive - und ein massiver internationaler, von Washington koordinierter Druck liessen die Parlamentsmehrheit einknicken. US-Kongressabgeordnete, die US-Botschaft, die damalige UN-Menschenrechtskommissarin u. a. intervenierten massiv zugunsten der «Respektierung der Unabhängigkeit der Justiz», also der Neuschreibung der Verfassung und der schrittweise realisierten Aushebelung der Gewaltentrennung durch vier nicht vom Volk gewählte Mitglieder der Verfassungskammer.


«Reformen»

Schrittweise setzte die Kammer seither diverse Verfassungsbestimmung zum Wahlsystem per «Neuinterpration» gesetzlicher oder konstitutioneller Artikel ausser Kraft und führt bei den Parlamentswahlen scheibenweise ein Wahlmodell à la suisse ein. Aus dem Wahlgericht wurden FMLN-Magistraten entfernt - das Gericht müsse, entgegen der konstitutionell vorgeschriebenen Parteibalance, parteifremd sein, doch das ging nur gegen FMLN-Leute. Zwecks «Freiheit des Bürgers» wurde von der reinen Listenwahl zu einer kombiniert mit Präferenzmarkierungen für die einzelnen KandidatInnen übergegangen und jüngst, vier Monate vor dem Wahltermin (!), zur sog. offenen Liste (also der Möglichkeit, KandidatInnen verschiedener Parteien zu wählen). Für die Umsetzung seien das Parlament und, falls dieses zu keiner Regelung der Auszählungsmodalität der offenen Liste komme, das TSE zuständig. Als das Parlament wegen unüberbrückbarer Links-/Rechts-Differenzen die Sache an das TSE leitete, erliess dieses, schon mitten in der offiziellen Wahlvorbereitungsphase, eine Auszählungsregelung und begann ein Rennen mit der Zeit, um die wahllogistischen Vorbereitungen in den Griff zu kriegen. Zu Beginn der Weihnachtsferien erklärte die Kammer die TSE-Regelung für verfassungswidrig und die von ARENA favorisierte Modalität als bindend. Für beide Modalitäten gibt es wohl Pro und Contra-Argumente, für das Vorgehen der Kammer dürfte ein anderer Gesichtspunkt entscheidend gewesen sein: sich selbst als absolute Macht auch in Wahlfragen setzen und Hand mitanlegen für die Schaffung eines Chaos. Denn mittlerweile zirkulierten über die grossen rechten Medien jede Menge Halbwahrheiten über die «gültige» Art der Stimmabgabe mit dem Resultat, dass die Leute tendenziell nur noch Bahnhof verstanden. Vor allem aber blockierte die Kammer erneut die Arbeit des TSE, allein schon die Umschulung aller Wahltischdelegierter war ein herkulisches Unterfangen. Doch nicht genug damit: Eine Woche vor den Wahlen erliess die Kammer eine neue Resolution, von der absolut unklar war, was sie eigentlich besagte. Das Resultat war noch mehr öffentliche Verwirrung, Falschgerüchte jagten einander. FMLN-Generalsekretär Medardio González meinte dazu: «Niemand soll unsere Warnung vor dem Beschluss der Kammer acht Tage vor dem Wahltermin vergessen, der, das muss man richtig sehen, nicht die Form der Stimmabgabe, sondern die Form der Validierung der Stimme in der Auszählung betraf.Also die Arbeit der Wahltischdelegierten [der Parteien]; acht Tage vor einem Wahltermin, der auf der Ausbildung von nicht-professionellen Personen beruht. Das betraf 160.000 Wahltischdelegierte, die in einer Woche ausgebildet werden mussten.»


Der Coup mit dem Chaos

Der Coup gelang. Statt um 9 h oder 10 h abends fertig zu sein, zählten die Wahltischdelegierten an Tischen in bevölkerungsreichen Departementen mit entsprechend vielen Abgeordnetensitzen bis in den Morgen, vereinzelt gar in den Nachmittag des folgenden Montags hinein. Es herrschte allgemeine Verunsicherung über das korrekte Auszählen, auch die Delegierten der Wahlbehörden widersprachen sich zuweilen. Die Leute waren seit spätestens 4h früh auf den Beinen, im Lauf der Auszählung sahen wir später in der Nacht immer wieder Leute, die nicht zählten, sondern schliefen. In San Salvador mussten nun statt 2 wie bei früheren Wahlen 25 detaillierte Tischakten ausgefüllt werden. Der Eindruck drängte sich auf, dass selbst Leute, die gerne beim Zählen systematisch betrogen hätten, mit der Zeit dafür kaum mehr Energien aufbringen konnten.

Um das Chaos komplett zu machen, fiel die Übermittlung der Wahltischresultate auf der Homepage des TSE aus. Warum? Eines der mit der Sache beauftragten Informatikunternehmen hatte einen Code entwickelt, der Resultate von verschiedenen Wahlen vermanschte. Der Fehler war relativ schnell gefunden, doch das Problem konnte nicht behoben werden. Denn das fragliche Unternehmen rückte seine Datenbank nicht heraus, da dies seine rechtlich geschützte Betriebssoftware offen gelegt hätte. Wer hat das Unternehmen empfohlen? Der TSE-Informatikchef, ARENA-Mitglied. (Die Rechtspartei kontrolliert immer noch alle relevanten Abteilungen des TSE wie Logistik, Rechtsfragen Personalabteilung etc. Vor einigen Monaten hatte der Präsident des TSE, der ehemalige Dekan der Jura-Fakultät der Nationaluniversität, öffentlich gemacht, dass der ARENA-Chef des Wahlregisters nicht einmal ihm Einblick in das Register gewähre.)

Es war Chaos total, provoziert hauptsächlich durch das Vorgehen der Verfassungskammer. Doch die Medien und die Rechten blendeten die unglaublichen Zustände bei der Auszählung total aus und konzentrierten sich auf die angeblich einem Betrugsplan des FMLN gehorchende elektronische Nicht-Veröffentlichung der Wahltischdaten. Die Verfassungskammer und das Auszählungschaos verschwanden hinter der Nebelwand der solchermassen orchestrierten Entrüstung. Die folgende «definitive Auszählung», also die zentralisierte Überprüfung der Wahltischakten, verlief ebenfalls «chaotisch» - bis hin zu Schlägereien eines ehemaligen ARENA-Magistraten im TSE vor laufender Kamera. Erst als sich klar abzeichnete, dass ARENA die Parlamentswahlen tatsächlich gewonnen hatte, kam ein normales Arbeitsklima auf. Die Chaos-Inszenierung diente ARENA auch dazu, den schmerzlichen Verlust der Hauptstadt zu überspielen und ihre AnhängerInnen gegen den FMLN aufzuhetzen.


Und wieder die Kammer

Unterlegene RechtskandidatInnen rekurrierten gegen den Sieg eigener ParteikollegInnen und verlangten die Neuauszählung aller Stimmzettel im Departement San Salvador. «Begründung»: Möglicherweise seien ihre persönlichen Präferenzstimmen nicht richtig gezählt worden. Am 12. April ordnete die Kammer, gestützt auf diese «Begründung», die verlangte Neuauszählung an. Zu dieser Resolution sagte der FMLN-Generalsekretär: Sie «bestätigt alle Vorahnungen [...] Wir sagten, [...] dass die Rechtssicherheit des passiven Wahlrechts, also der Kandidaten, nicht garantiert sei. Und dass wir das Risiko eingehen, von nun an zu sehen, wie Verfassungsrekurse wegen angeblicher Verletzung individueller Rechte Wahlresultate beeinträchtigen werden. Und [die Entscheide] den einzelnen Kandidaten Recht geben würden, logisch, denn kein Kandidat kann an jeder Urne sein, um zu garantieren, dass seine Präferenzstimmen richtig gezählt werden [...] Damals warnten einige davor, dass die vier Herren der Kammer möglicherweise die Bedingungen schufen, um Mittel zu finden, feste Wahlergebnisse zu verhindern, um die Voraussetzungen für eine totale Destabilisierung zu schaffen, für einen Präzedenzfall für die massive Öffnung der Urnen. Jetzt sind es 28 % der Stimmen landesweit, die erneut gezählt werden. Von jetzt an gibt es bei jedem Wahlprozess eine juristische Instabilität, denn die Kammer kann sich mit Verweis auf den Präzedenzfall 2015 stets zugunsten irgendeines Rekurses irgendeines Kandidaten aussprechen. Wenn die Resultate den Rechten nicht passen, können sie von vier oder drei Personen der Verfassungskammer umgestossen werden.»

Die Kammer setzte dem TSE eine Frist bis 21. April für diese Neuzählung, die von der ARENA-hörigen Generalstaatsanwaltschaft «supervisiert» werden müsse und ohne aktive Teilnahme der Parteien zu erfolgen habe. Angesichts der vom TSE deutlich gemachten Unmöglichkeit der Fristgerechtigkeit erstreckte die Kammer die Deadline auf den 27. April. Auch dies ein Ding der Unmöglichkeit, wie sich seither bestätigte. Dem TSE fehlt schlicht das Personal und es kann Mitglieder von NGOs, AnwältInnenverbänden etc. nicht einfach, wie von der Kammer unterstellt, auf Knopfdruck tageoder gar wochenlang einspannen.

In wenigen Tagen, am 1. Mai, tritt nach Verfassung das neue Parlament zusammen. Am 14. April hatte deshalb das TSE die offiziellen Beglaubigungsschreiben an die Neugewählten ausgehändigt - während dieser Handlung geruhte die Kammer, ihr Neuzählungsgebot zu verkünden. TSE-Präsident Julio Olivo meinte im Fernsehen: Die Kammer «will Macht demonstrieren [...] Die Macht der Staatsorgane zu hinterfragen, das ist die politische Funktion, die sie ausübt und die keine Grenzen kennt». Verfassungsartikel 208 nennt das TSE die «höchste Autorität» in Wahlsachen, doch weiss sich die Kammer für Verfassungsverletzungen zuständig, deren Existenz sie nach Belieben «interpretiert». Eine kafkaeske Situation: ein verfassungswidriger Akt - die Neuauszählung - muss von Akteuren ausgeführt werden, die für eine Stimmzettelauszählung laut Verfassung dazu nicht berechtigt sind: das TSE und erst recht die Generalstaatsanwaltschaft. Was für ein Parlament am 1. Mai allenfalls zusammentritt, steht in den Sternen.

Wird diese «Nachzählung» die bisherigen Resultate für die Parlamentswahlen im Departement San Salvador ändern? Eher nicht. Zwar werden sehr viele Unstimmigkeiten und auch grobe Fehler bei den Akten zutage treten, doch soweit sie der Erschöpfung der Wahltischdelegierten entspringen, sollten sie sich tendenziell ausgleichen.

Die von der Kammer betriebene «Demokratisierung» des Wahlsystems enthüllte übrigens ihre eigentliche Logik auf verblüffende Weise. ARENA orientierte völlig auf Personenwahl im Gegensatz zum Frente mit seiner Betonung des kollektiven Programms. ARENA-Ergebnis: Viele Parteikader scheiden aus der Fraktion aus zugunsten direkter Abgeordneter der Oligarchie (als «Verjüngung» schön geredet). Denn im Fall der Personenwahl entscheiden das individuelle Kampagnenbudget und die oligarchischen Grossmedien. Der offen zu Tage tretende Groll der Parteikader gehört zum Preis für die intelligent verordnete Neuausrichtung des Wahlsystems gegen den linken Aufbruch.


Die US-Spur der Verfassungskammer

So surreal die Lage ist, die Kammer wird weiter eskalieren. Sie weiss sich von wichtigen Mächten gestützt. Eine Parlamentsuntersuchung über ihre illegal zustande gekommene Zusammensetzung (zwei der vier Täter dürften gar nicht Mitglieder sein, einer hat zudem zwei Verurteilungen wegen «häuslicher Gewalt») verbot die Kammer als verfassungswidrig ebenso wie jegliche Beteiligung von Staatsangestellten - von der Abgeordneten bis zur Lehrerin - an Wahlkampagnen (in der Freizeit), da besagte Wesen qua dieser Eigenschaft als Staatsangestellte die Nation als solche zu vertreten haben; zaghafte Reformen in Richtung progressive Steuergerechtigkeit unter der FMLN-Regierung hebelte sie (gerade vor wenigen Tagen wieder) als Verletzung der Gleichheit vor dem Gesetz aus; sie setzte in verschiedenen Staatsapparaten die Wiedereinstellung von entlassenen Rechten in ihre bisherigen politischen Vertrauensposten durch, usw. Die Kammer agiert unter der Protektion der US-Botschaft, also der «internationalen Gemeinschaft». Als sich das Parlament 2012 gegen die weitreichende Beschneidung seiner Befugnisse durch die Verfassungskammer wehren wollte, kam es zum erwähnten transnationalen Aufschrei. Als wenige Monate später der starke Mann im nachputschistischen Honduras, damals Parlaments-, heute Staatspräsident, die Richter der Verfassungskammer knallfall entliess, weil sie sich einem seiner Machtprojekte («Modellstädte» unter eigener Investorenverfassung im nationalen Territorium) widersetzten, schwieg die besagte Gemeinschaft - das Vorhaben stammte schliesslich von rechten US-Ökonomen. In El Salvador dagegen operiert die Verfassungskammer strikt gegen den linken FMLN.


Die Probleme des Frente ...

Ein nicht zu unterschätzendes Element für das enttäuschende Abschneiden des FMLN lag auch bei den Maras (den «Strassenbanden»). Die sind mit der FMLN-Regierung unzufrieden, da diese nicht bereit ist, mit ihnen zu «verhandeln». Wie Benito Lara, Sicherheitsminister, sagte: was verhandeln? Die Quote von Morden und Erpressungen? Es scheint klar, dass die Maras «orientiert» haben, gegen den FMLN zu wählen.

Doch auch hausgemachte Elemente dürften zum ernüchternden Abschneiden des FMLN beigetragen haben. Etwa wenn namhafte Regierungs- und FMLN-ExponentInnen sich in der Öffentlichkeit oft eines Diskurs befleissigen, bei dem die alternativen Konturen zu verschwinden drohen. Beispiel die «Allianz für den Wohlstand im Norddreieck» (El Salvador, Honduras, Guatemala). Ein noch unscharfes Investitionsprojekt, entstanden angeblich aus dem Bemühen, die Massenemigration von Kindern in die USA einzuschränken. Die salvadorianische Regierung kann aus Gründen wie der wirtschaftlichen Abhängigkeit dem US-Allianzprojekt nicht einfach die kalte Schulter zeigen. Aber wenn ihre Verlautbarungen seit Monaten herausstreichen, wie gut man sich mit Washington verstehe und wie fruchtbar der Dialog mit dem nationalen Grosskapital sei (eine US-conditio sine qua non), wirkt das nicht nur befremdend, sondern wohl auch entfremdend. Wo bleibt die Motivierung für den cambio, wenn anscheinend das Glück «made in USA» ist? Natürlich gibt es auch ganz andere Momente der Regierungspolitik, etwa im Agrar- oder im Sozialbereich, die zur Bewusstwerdung beitragen - doch oft werden mit Blick auf die wählende «Mitte» und zur Besänftigung der Bourgeoisie Dinge wie diese «Wohlfahrtsallianz» hervor gestrichen.

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Nachtrag: Vorerst kein Parlament

(5.5.15) Zwei Tage vor der verfassungsmässig gebotenen Konstitution des neuen Parlaments erliess die gewohnte Vierermehrheit der Verfassungskammer einen weiteren Beschluss. Das Wahlgericht hatte die Kammer informiert, es könne die angeordnete Neuauszählung unmöglich bis zur Frist vom 27. April 2015 abschliessen. Damit habe es, so die Kammer, seine Pflicht mutwillig verletzt. Deshalb müssten am 1. Mai die 60 nicht zur Auszählungsdebatte stehenden Abgeordneten das Parlament eröffnen, während der Rest nach Abschluss der Auszählung nachfolgen solle. Alle Abgeordneten verzichteten auf die absurde Kammershow am 1. Mai und verschoben ihre konstituierende Sitzung auf den Zeitpunkt, an dem alle 84 Gewählten teilnehmen können.

Man befinde sich jetzt in der Phase eines technischen Putsches, liess die FMLN-Parteileitung verlauten. Die Kammer habe eine der drei Staatsgewalten - das Parlament - für den Moment abgeschafft. Gegen ihre «diktatorischen Beschlüsse», die zunehmend offener «Interessen der grossen Unternehmergruppen und der Partei ARENA repräsentieren», rief die Partei «die Sozialbewegung, politische Parteien und Nichtregierungsorganisationen» auf, die «Respektierung der in den Friedensabkommen geschaffenen Institutionen und die Gewaltenteilung im Staat zu verlangen». Staatspräsident Salvador Sánchez Cerén vom FMLN sagte in seiner 1. Mai-Demorede: «Es ist Zeit, dass wir sagen ,Basta'; vier Personen können nicht die Geschicke des Landes entscheiden ... auf der Basis von tendenziösen Kriterien, die ausschliesslich die Interessen von oligarchischen Gruppen reflektieren.» Darauf sprach Roberto González von der Verfassungskammer von «Reden eines Staatspräsidenten», von dem man nicht wisse, ob er als «Staatschef, Gewerkschaftsführer oder Guerillero» spreche. Parlamentarische Initiativen zur Erneuerung des die Kammer regulierenden Gesetzes werde man gegebenenfalls stoppen. «Gewisse Parteien» täten sich schwer damit, «die Gewaltenteilung [sic!] und die unabhängige Justiz» zu akzeptieren (La Página, 5.5.15).

Zurzeit sind praktisch alle Wahlzettel nachgezählt. Zwar haben ARENA über 10.000 und der FMLN unter 7.000 Stimmen dazu gewonnen, was ungefähr im statistischen Trend der Ergebnisse der Wahltische liegt, doch am Resultat hat das nichts geändert: Die Abgeordneten sind auch jetzt die vom TSE beglaubigten. Doch die Kammer zielte wohl ohnehin in eine andere Richtung. Was sie seit dem linken Wahlsieg 2009 erreicht hat, ist, sich als allen anderen Staatsinstanzen übergeordnete Macht zu setzen. Die Verfassung ist jetzt eine beliebig interpretierbare Plattform zur Sabotage des FMLN und seiner Regierung. Die Kammer hat jetzt für eine befristete Episode das Parlament ausgesetzt. Möglich, dass sie dereinst den Staatspräsidenten «absetzt» oder in der Logik bisheriger Beschlüsse für neue AmtsinhaberInnen einen parteifremden Hintergrund vorschreibt. Wenn möglich, wird die transnationale Rechte den jetzigen Präsidenten nicht zu stürzen versuchen, sondern via Kammer (und Wirtschafts- und Gewaltssabotage) am Regieren hindern, so dass eine frustrierte WählerInnenschaft das nächste Mal «richtig» wählt. Ob der FMLN der sich jetzt beschleunigenden Rückführung der Staatsmacht in rechte und transnationale Hände wirksamen Widerstand entgegen setzt, ist wohl offen. Schon schaltet sich, vorerst noch hinter den Kulissen, die US-Botschaft mit der Message ein, die «Unabhängigkeit der Justiz» sei zu respektieren. Bei Bedarf wird Washington mit dem Weltuntergang, etwa der Streichung der auch vom FMLN hochgelobten «Entwicklungsprojekte», drohen. Die vier von der Verfassungskammer.

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Quelle:
Correos de las Américas, Nr. 181, 15. Mai 2015, S. 8-11
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
Tel.: 0041-(0)44/271 57 30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juni 2015

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