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CORREOS/165: Venezuela - "Unsere" Medien, so überrascht


Correos des las Américas - Nr. 172, 14. Dezember 2012

VENEZUELA
"Unsere" Medien, so überrascht

von Dieter Drüssel



Auf dem ZAS-Blog haben wir vor den Präsidentschaftswahlen mehrere Berichte aus Venezuela und Analysen veröffentlicht, die ein anderes als das vom Medienmainstream vermittelte Bild ergaben. Darunter auch den Beitrag "Umfragen in Venezuela sind anders" von Mark Weisbrot, der auf die absurd verfälschte Darstellung der Meinungsumfragen vor den Wahlen einging. Das medial behauptete Kopf-an-Kopf-Rennen - entgegen aller seriösen Umfragen, auch aus dem rechten Lager - hätte bei einem knapperen Wahlausgang als "Legitimation" für eine rabiate Destabilisierungsoffensive gegen den siegreichen Chavismus gedient. Daraus wurde nichts, weshalb sich "unsere" Medien am Tag nach der Wahl in peinlichen Ausflüchten wandten. Ein Kommentar dazu aus unserem Blog.


(9.10.12) Sind sie aber alle überrascht, "unsere" Medien! "Hugo Chávez ist in Venezuela überraschend deutlich bestätigt worden", klagt heute Nicoletta Wagner in der "NZZ" in ihrem Stück "Goliath besiegt David in Venezuela". Welch wunderschönes Bild übrigens, beeindruckend es muss eine tiefere Wahrheit wiederspiegeln, die sich Schreibenden eingibt. Denn ich habe den Rekurs auf genau diese Parabel mehrmals gelesen, seit gestern früh "El País" seinem Schmerz über die Ereignisse so Ausdruck verlieh. So archetypisch wahr, dass sich das Bild David gegen Goliath nicht nur den von der Muse berührten Schreibenden aufdrängt, sondern auch - staunt still ob solcher sinnvoller Koinzidenz - seit Wochen schon in der Wahlkampfkampagne des Bourgeoisevertreters und Wahlverlierers Henrique Capriles zirkuliert. Ihr wisst, die arme, unterdrückte Oligarchie von Venezuela und Washington... jetzt kam einer, David gleich, und forderte den Tyrannen heraus - allein, die Parzen zertrümmerten unsere Hoffnungen.

Medium rauf, Medium runter, sie sind alle so überrascht. Dabei, um bei der NZZ zu bleiben, sahen wir doch den "verblassenden Stern der bolivarischen Revolution", wie das Wagner am 29. September 2012 formuliert hatte. Wir erfuhren, wie knapp das Kopf-an-Kopf-Rennen laut "seriösen" Umfrageinstituten war, die auf jeden Fall das Rennen in den Köpfen "unserer" Journis machten, im Gegensatz zu den pro- und antichavistischen Instituten, die vom Wahlrat CNE als professionell qualifiziert anerkannt waren und die übereinstimmend 10 oder mehr Prozent Vorsprung für Chávez ermittelt hatten. Auf die waren unsere WahrheitsheldInnen dummerweise grad nicht gestossen. Dafür auf andere, vom "Wall Street Journal" bis zum x-beliebigen hiesigen TV-Sender als "angesehen" gepriesene Institute, die bei vergangenen Wahlen relativ akkurat das Verhältnis von chavistischen Siegen und rechten Niederlagen vorausgesagt hatten - nur allerdings mit verwechselten Rollen auf dem Siegerpodest. Deshalb heute die Überraschung.

Auch andere immanente Wahrheiten tun sich heute "unseren" Medien kund. Zwar hat Chávez das Land gründlich ruiniert, allein, populistisch gelang es ihm erneut, verblendete Seelen einzufangen. Während in Griechenland dank kundiger wirtschaftsrationaler Anleitung die Selbstmordrate langsam auf ein befriedigendes, reformproduktives Niveau steigt, tut dieser Chávez das Ölgeld verschleudern und füttert faule Mäuler, die Selbstverantwortung scheuen! Wo doch, von Gott und den Märkten gewollt, diese Einnahmen wie früher an die transnationalen Börsen gehören! Da ist also mal diese Verblendung, die "uns" überrascht hat. Und vielleicht haben "wir" die Dimension des Bösen nicht tief genug ausgelotet. Wagner heute: "Auch wenn das Regime formale demokratische Prinzipien hochhält, kann es nicht darüber hinwegtäuschen, dass die venezolanische Demokratie pervertiert und ausgehöhlt ist". Im Gegensatz, you know, als 1989 ein paar tausend gegen Preiserhöhungen Antretende in Caracas mit IWF-Logik ins Jenseits weggeputzt wurden, die Ölgelder alle nach New York flossen und Linke unterdrückt wurden. Leider ungenügend war auch der Widerstand der Demokratie gegen den Autoritären - während des dreitägigen Putsches im April 2002 unter der Leitung des Unternehmerchefs Carmona, der gleich alle gewählten Körperschaften aufgelöst und die Mordkampagne gegen Chavistas in den Quartieren eingeleitet hatte (was ihm das hiesige Medienprädikat "besonnen" einbrachte). Vergeblich damals auch der Einsatz von Capriles, der an der Spitze eines bewaffneten Mobs - pardon, besorgter Bürger - die kubanische Botschaft stürmen wollte, um angeblich mutmasslich geflohener Chavistas habhaft zu werden - er war dafür als Bürgermeister des Bonzenstadtteils Baruta von Caracas hervorragend qualifiziert.

"Unsere" Journis reagieren besonders sensibel auf medienterroristische Einseitigkeit. Schon am Montag früh wusste DRS-Korrespondent Ulrich Ackermann diese weitere Ursache für den Wahlsieg des Unguten zu nennen. Chávez schaltete immer wieder alle nationalen Sender in eine obligatorische Kettenübertragung, um faktisch Wahlkampagne zu betreiben, während die Capriles-Spots in den staatlichen Sendern auf drei Minuten beschränkt blieben. Der ganzen Weltfreipresse ist dieser Punkt aufgefallen. Auch der in Venezuela, von der man sich ebenso wie von den "angesehenen" US-Medien leiten lassen kann. Weshalb denn auch sich bei dem aufhalten, was die die BBC mitten in ihrer sonstigen Dauerhetze am 3. Oktober 2012 auf ihrer Lateinamerika-Homepage vermeldet hat (In depth: Media in Venezuela), als absurde Spitze britischer Fairness vielleicht? Dass nämlich, offiziellen Angaben zufolge, 70 Prozent der venezolanischen Radio- und TV-Sender in Händen des Privatkapitals und 5 Prozent in Staatseigentum sind. (Der Rest sind Basissender). Und die privaten Kapitalmedien sind eigentlich fest für die Freiheit und gegen Chávez.

Details, die so wenig zu interessieren brauchen wie unpassende Umfragen, von denen dort, wo man abkupfert, ja auch nicht gross die Rede ist. Lieber Weisheiten verbreiten wie die, dass Chávez womöglich die vor allem in den Unterklassen Opfer fordernde Kriminalität fördere, um aus ideologischen Gründen die Mittelschichten zu bestrafen. Statt, wie Ackermann vor einigen Tagen in "DRS" so beredt beklagte, endlich mit harter Hand vorzugehen - frag in Zentralamerika und Mexiko nach den Blutresultaten. Welche Brillianz in der Analyse eines Ackermanns, der im Radio als klärenden Hinweis zur desaströsen chavistischen Lage und dem Aufstieg des Sterns Capriles anbringt, was ihm ein venezolanischer "Bekannter" eingeflüstert hat: Chávez regiere 3 Tage die Woche und 4 Tage mache er Revolution. Er und die vielen seinesgleichen geben eine Botschaft wieder, deren Sinn ihnen kaum sehr bewusst sein dürfte: Wäre die Distanz zwischen Sieger und Verlierer nicht derart klar gewesen, hätte durchaus eine unmittelbare gesteigerte Destabilisierungsoffensive gestartet werden können, national und international in derartige Erklärungen eingebettet. Es sind Medienschaffende, die sich über Zensur weit weg von ihnen empören; von der Schere im eigenen Kopf haben sie sich vermutlich angewöhnt, keinen Schimmer zu haben.

Etwas anders liegt der Fall vielleicht bei Figuren wie Wagner. Sie, NZZ-Redaktionsleitungsmitglied, liess etwa schon ihren Korrespondenten Marti vom Kriminalitätsterror linker Guerilla-Narcos in Venezuela schwafeln. Sie zumindest wird nicht ganz blind dafür sein, dass die Lunte am Dynamitfass der Kriminalität in Venezuela während Jahren systematisch von kolumbianischen Paramilitärs, protegiert in den von den Rechten regierten Gliedstaaten, gelegt worden ist. Sie, die in der späteren Phase der Präsidentschaft Uribes in Kolumbien etwa alle Quartale einmal Distanz zum Massenmörder signalisierte, liess gleichzeitig andauernd Beat Ammanns Lobgesänge auf Uribes Erfolge im Kampf gegen den "Terrorismus" erklingen - Erfolge, von denen schon damals klar war, dass sie als Massaker bezeichnet werden mussten, nicht an den Guerillas, sondern an deren angenommenen sozialen Basis. Bis heute kein Sterbenswörtchen der Entschuldigung. Sie ist es denn, die im "Verblassenden Stern..." gegen Chávez schrieb: "Er brachte Kolumbien unter dessen nicht weniger intransigenten Präsidenten Uribe sogar an den Rand eines bewaffneten Konflikts." Chávez hat also Uribe bis zur Weissglut gereizt, deshalb sagte letzterer ja auch kürzlich, ihm habe leider die Zeit gefehlt, gegen Venezuela in den Krieg zu ziehen. Chávez' Plan, Uribe (gleich Washington) zu seiner Ermordung zu provozieren, ging also irgendwie nicht auf.

In ihrem Vorwahlartikel noch voller Hoffnung auf einen Sieg des Möchtegern-Erstürmers der kubanischen Botschaft, behandelt Wagner heute Chávez' Krebskrankheit. Und schliesst ihre Meinungsäusserung so: "Verschwände Chávez demnächst von der politischen Bühne, würde die Lücke, die er hinterlässt, (...) in Südamerika (...) kaum lange spürbar sein."

Was müsste sie in diesem Fall nach einer ersten Euphorie wieder überrascht sein. Und weiss der Teufel, warum ich dieses Bild - "verschwände Chávez von der Bildfläche" - mit diesem obligaten Ende fast eines jeden Venezuela-Artikels gestern und heute im Schweizer und internationalen Mainstream in Verbindung bringe, mit diesem Stossgebet, dass Chávez demnächst sterbe - an Krebs (oder was immer).

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 172, 14. Dezember 2012, S. 13-14
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Januar 2013