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CORREOS/145: Brasilien - Kampf gegen Rassismus und "Sozialhygiene" in São Paulo


Correos des las Américas - Nr. 169, 8. März 2012

Kampf gegen Rassismus und «Sozialhygiene» in São Paulo

Antirassistischer Widerstand im Nobelquartier von São Paulo.
Dieses, entworfen von deutschen Architekten, heisst tatsächlich Higienópolis!

von Wilson H. Silva



Nach einer Reihe von Aktivitäten im Zentrum von São Paulo mobilisierten die Organisationen des Comitê contra o Genocídio da Juventude Negra (Komitees gegen den Genozid an der schwarzen Jugend) für Samstag, den 11. Februar, im «emblematischen» Stadtteil Higienópolis» in São Paulo. Aufgerufen hatten 25 Organisationen, vor allem die schwarzen Bewegungen, aber auch soziale Bewegungen, die LGTB und Gewerkschaften, die sich seit Jahresbeginn zusammengetan haben, um eine Antwort auf das zu geben, was alle als eine Welle von Rassismus, sozial-rassischer «Hygiene» und Armutskriminalisierung bezeichnen. Eine Welle, die das ganze Land, aber, unter der Leitung des Stadtpräfekten Gilberto Kassab [PSD, Partido Social Democrático, Rechtspartei] und des Gouverneurs Gerardo Alckmin [PSDB, Partido da Social Democracia Brasileira, Rechtspartei] insbesondere São Paulo überschwemmt hat.

Gewalttätig offen rassistische Ereignisse von Ende 2011 gehören zu den wichtigsten Elementen, die zur Bildung des «Komitees gegen den Genozid an der schwarzen Jugend» geführt haben. Anfang Dezember wurde die junge Ester, Schülerin im Colegio Ahembi-Morumbi, «eingeladen» auszutreten, wenn sie sich nicht das Haar glätten liesse. Kurz darauf wurde ein sechsjähriger äthiopischer Knabe aus dem Restaurant Nonna e Paolo rausgeworfen und der Student Nicholas erlitt schwere Angriffe rassistischer Polizisten in der Uni. Der junge Matheus war während zweier Monate mit einem Dieb «verwechselt» worden und im Gefängnis, trotz zahlreicher gegenteiliger Zeugenaussagen und Beweismittel. Zudem fusst das Komitee auf den Gruppen, die sich 2011 zusammen taten, um gegen die Politik der «Sozialhygiene», der Kriminalisierung der Armut und der sozialen Bewegungen zu protestieren, die in den letzten Monaten ihre beklagenswerten Höhepunkte in faschistoiden Aktionen von Kassabs Polizei in «Cracolandia», dem äusserst verdächtigen Brand in der Favela do Moinho und kürzlich der kriminelle Angriff auf Pinheiro [Cracolandia, nach Crack benannt, Zentrumsviertel, das jetzt für Investoren gentrifiziert werden soll. Brand in der Favela do Moinho: Grossbrand zwei Tage vor Weihnachten im Zentrumsquartier, zwei Tote, hunderte obdachloser Familien. Pinheirinho: Extrem brutaler Überfall in der Stadt Sáo José dos Campos im Bundesstaat Sáo Paulo auf die «illegale» Siedlung Pinheirinho, auf dem Gelände eines wegen Finanzdelikte angeklagten Spekulanten und Parteifreundes des Gouverneurs. 2000 Militärpolizisten stürmten am 22. Januar 2012 um 6h früh die Siedlung und überraschten viele Leute noch im Schlaf oder beim Frühstück. Es kam zu Barrikadenkämpfen und nach Aussagen von AnwältInnen zu mindestens zwei Todesopfern. Die Leute wurden in eine Art Internierungslager verlagert.] Ein «Manifest» des Komitees erklärt die um all diese Probleme aufgebaute Einheit so: «Ohne Zweifel bestimmte der Rassismus auch diese Geschichten wie gewohnt, zusammen mit der ökonomischen und sozialen Marginalisierung. Es gibt keinen Zweifel an der Farbe der Männer und Frauen, die in diesen Gemeinschaften lebten: schwarz.»


Die Kampfgeschichte wieder aufnehmen

Als Teil der Mobilisierung für den 11. Februar planten die Organisationen eine Reihe von Aktivitäten an einem für das schwarze Volk buchstäblich historischem Platz: der Praça Ramos, gegenüber der Gemeindetheater von São Paulo. Der Platz wurde nicht zufällig ausgewählt. Hier kam es 1978 gegen eine andere rassistische Welle zur Gründung des Movimento Negro Unificado Contra a Discriminação Racial (Vereinigte schwarze Bewegung gegen Rassendikriminierung). Viele RednerInnen betonten, dass der Fakt, 30 Jahre nach dem modernen schwarzen Wiedererwachen in die Gemeinde zurückzukehren, eine Erinnerung daran darstellt, dass der Rassismus, trotz der vielen Kämpfe der letzten Jahrzehnte, immer noch anhält. Vor allem sei es wichtig, den Weg des direkten Kampfes zu gehen, unabhängig (von Patrons und Regierungen) und im Bündnis mit anderen Kräften, die gegen Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen. Diese Gewissheit drückte sich in vielen der Dialoge zwischen 13 Uhr und 21 Uhr auf der Praça Ramos aus.

Einer der Höhepunkte war der Dialog mit dem Genossen Marrom, Anführer aus dem Pinheirinho. Nach einem Bericht über die Situation der BewohnerInnen und ihren Widerstand sagte er: «Dort gab es eine Mehrheit Schwarzer. Kämpferische Leute, die ihren ersten Platz Quilombo dos Palmares nannten [nach einer während des 17. Jahrhunderts unabhängiger Siedlung schwarzer SklavInnen und anderer Geflüchteter im Bundesstaat Alagoas]. Es war auch kein Zufall, dass dies einer der ersten Orte war, den die Polizei von Alckmin platt machte. Ihr Hass auf die Armen und ihr Hass auch auf die Schwarzen und ihre Kämpfe... Deshalb macht es mich hier glücklich zu sehen, dass hier alle unseren Kampf als gemeinsamen sehen. Dies ist der Weg zum Sieg. Für das Volk von Pinheirinho ist es der gegen den Rassismus.»


«Sozialhygienische Geschichte»

Die Mobilisierung vom Samstag war auch als Antwort auf die zunehmenden Angriffe auf die Bewegungen gedacht. Auch deshalb fiel die Wahl des Quartiers, in dem sie stattfinden sollte, auf Higienópolis, ein Name, der alles sagt. Von deutschen Architekten Ende des 19. Jahrhunderts geplant, sollte der neue Stadtteil die «differenzierten Menschen» beherbergen und ihnen einen Komfort garantieren. Dies zeigte letztes Jahr ein Protest sui generis, als nämlich die Ansässigen gegen den Bau einer Metrostation im Quartier opponierten, da man sich so sehr «anders» als die BenutzerInnen des öffentlichen Verkehrs sah.

Es wäre ein Witz, wäre es nicht tragisch, dass die BewohnerInnen wieder die Haltung ihrer Vorfahren einnehmen, die ab 1890 begannen, vor der Armut zu fliehen, die nach dem Bau des Bahnhofs Estaçao da Luz drohte, die Strassen der Campos Eliseos, des ersten Nobelquartiers der Stadt, zu besetzen. Sie zogen in die Palacetes [Nobelresidenzen] um, nach deren EigentümerInnen die «hygienisierten» Strasse benannt wurden: Avenida Angélica, Doña Meridiana, Maria Antonia etc.

«Der Rassismus ist hier. Basta!» Unter dieser Parole zogen die DemonstrantInnen diesen Samstag durch die Strassen von Higienópolis - ein Protest, der die Geschichte der Bewegungen gegen den Rassismus in São Paulo und im Land bestimmt zeichnen wird.

Am 21. März (Internationaler Tag gegen die Rassendiskriminierung) und am 13. Mai wird es zu neuen Mobilisierungen kommen. Denunzier die Pseudoabschaffung der Sklaverei der Schwarzen in Brasilien! Beteilige dich an unserem Kampf!

Organisationen, die das Manifest unterschrieben: Amparar (Assoc. de Amigos e Familiares de Presos/as), Anastácia Livre, Centro Acadêmico de Ciências Sociais Florestan Fernandes (Uninove), Centro de Resistência Negra, Círculo Palmarino, Coletivo AnarcoPunk SP, Coletivo Anti-Homofobia, CONEN, Consulta Popular, Empregafro, Força Ativa, Fórum Popular de Saúde, Juventude Socialista, Levante Popular da Juventude, Mães de Maio, Movimento Negro Unificado (MNU), Movimento Quilombo Raça e Classe, MST, Núcleo de Consciência Negra na USP, Sarau da Brasa, Setorial LGBT da CSP-Conlutas, Sujeito Coletivo - USP, Tribunal Popular, UNEAFRO, UNEGRO.

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 169, 8. März 2012, S. 12-13
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2012