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CORREOS/134: Mit Hunger Börsen und Armeen schmieren


Correos des las Américas - Nr. 167, 21. September 2011

Mit Hunger Börsen und Armeen schmieren

von Dieter Drüssel


Die mediale Aufbereitung der Hungersnot in Ostafrika ist pervers. Unter dem Titel «langfristige Hilfe» werden neue Hungermassaker im Süden aufgegleist und Macht und Einfluss von global players im Agrobusiness potenziert. Ein Blick auf verschwiegene Aspekte der somalischen Geschichte und auf einige Operateure des Verhungernlassens.


Auch Micheline Calmy-Rey zeigte sich im somalischen Flüchtlingslager Dadaab in Kenia und wie andere prominente BesucherInnen mochte auch sie ihr Mitgefühl mit den Hungernden nicht verbergen. Die Medien liessen es sich auch bei dieser Gelegenheit nicht nehmen, den aktive Anteilnahme signalisierenden Besuch mit Bildern von verhungernden Kinder und ihren unerträglich glasigen Blicken anzureichern. Umso ergreifender, als die Frau doch als Präsidentin eines Landes anreiste, in dem mit von 5 von den 10 global grössten Rohstoffhändlern (Glencore, Trafigura, Mercuria, Vitol und Gunvor(1)) Mitorganisatoren des globalen Hungermassakers sitzen. Als Vertreterin eines Landes, das sich seit Jahren dafür einsetzt, die Hungerpolitik von IWF und Weltbank gegen die Bevölkerungen im Süden stringent durchzusetzen.

Die Weltbank droht, am Horn von Afrika zusammen mit der UNO-Food and Agriculture Organisation (FAO) vor allem langfristig in Sachen «Hungerbekämpfung» zu wirken. Das tat sie schon früher, auch wenn die Berichterstattung diese ihre Verdienste um die aktuelle Hungersnot in der Region nicht würdigt. Werfen wir einen Blick zurück!

Nach einem verlorenen Krieg um Territorialansprüche 1977/78 gegen das von der Sowjetunion unterstützte Äthiopien wandte sich der somalische Herrscher Siad Barre dem Westen und seiner «Reformpolitik» zu. Was das beinhaltete, lässt uns der Ökonom Michel Chossudovsky in seinem Buch Globalization of Poverty erahnen. In den frühen 80er Jahren setzte die Weltbank die sukzessive Aushöhlung des Viehwirtschaftsministeriums und seine Ausrichtung auf «Kostentransparenz» durch. Bisher vom Staat geleistete Veterinärdienste (Impfungen gegen Seuchen, Graben von Wasserstellen in Dürrezeiten etc.) wurden eingestellt oder gebührenpflichtig. Generell wurde ein privatkapitalistscher Markt in diesem Bereich promoviert. Zusammen mit Dürren und der von der Weltbank ebenfalls unterstützten Kommerzialisierung von Wasser wurden so die Herden dezimiert - und die NomadInnen, deren Sesshaftmachung auch hier als Fortschritt propagiert wurde. Soweit Chossudovsky.

Rakiya Omaar und Alex de Waal von der Menschenrechtsgruppe African Rights(2) schrieben 1993 bezüglich der Strategie gegen die «rückständigen» NomadInnen: «Diese Sicht verdeckt die Tatsache, dass nomadisches oder halbnomadisches Hirtentum die beste Art ist, in einer der ungastlichsten Gegend der Welt mit unberechenbaren Regenfällen ein Einkommen zu finden.»(3) Ehemalige HirtInnen hungerten fortan nach ausgefallenen Regenfällen in den Slums. Die Antwort der internationalen «Reformgemeinschaft»: die Nahrungshilfe.

In einem Bericht von 1993 hielt African Rights fest: «In den 1980er Jahren erhielt Somalia pro Kopf die grösste Auslandshilfe im subsaharischen Afrika» (S. 49(4)). Die darin enthaltene Nahrungshilfe verstärkte die Zerstörung der autochthonen Landwirtschaft: Das grausame Modernisierungsritual brachte auch hier Nahrungsmittel zu einem Preis weit unter den Gestehungskosten der lokalen LandwirtInnen auf den Markt(5). «Zehntausende Armer, die von der Saisonarbeit im bewässerten Sektor abhängig waren, hingen nun für ihr Überleben von Hilfeagenturen ab» (S. 10). Die Offensive gegen die traditionelle Tausch- und Kaufwirtschaft zwischen BäuerInnen und NomadInnen war von beiden Seiten her gestartet. Denn diese war «unproduktiv», also für die internationalen Kapitalien nicht verwertbar. IWF, Weltbank und World Food Programme (WFP) der UNO wussten, was von ihnen erwartet wurde.


«Nahrungshilfe füttert Kriege»

Auch damals sahen wir am Fernsehen Bilder sterbender somalischer Kinder, während «humanitäre» StrategInnen die militärische US-Invasion mit UNO-Mandat von 1993 vorbereiteten. Eine Besetzung angeblich gegen die Warlords, welche die Hilfeverteilung verunmöglichten. Doch wie war es zu diesem neuen Phänomen der Warlords gekommen?

In ihrem erwähnten Artikel beschreiben Omaar und de Waal, wie die ExpertInnen des IWF und der USAID die tatsächlichen ökonomischen Verhältnisse im Land in übertrieben düsteren Farben zeichneten, um ihre Strukturanpassungs-«Reformen» in Gang zu setzen. Zu deren Ergebnissen gibt uns Chossudovsky einige Angaben: Senkung der staatlichen Ausgaben im Landwirtschaftsbereich um 85 Prozent gegenüber dem Stand Mitte der 70er Jahre, im Bildungsbereich von $82 (1982) pro Primarschüler/in auf $4 (1989) und ähnlich drastische Einschnitte erfolgten im Gesundheitswesen. Der Staat war in wesentlichen Bereichen ausgehebelt und die tradierte Gesellschaftsformation (auf der Beziehung zwischen Land- und nomadischer Wirtschaft beruhend) weitgehend zerstört. Es schlug die Stunde junger, männlicher Gewalttäter, wie wir sie seither immer wieder antreffen - bis zu den Banden und Narcos im nördlichen Lateinamerika. Omaar und de Waal verweisen auf saudische und italienische Finanzbeziehungen mit miteinander konkurrierenden Warlords.

Aufschlussreich auch diese Feststellung aus dem Bericht von African Rights: «In den 1980er Jahren konfiszierten StaatsfunktionärInnen, Armeeoffiziere und Geschäftsleute mit Regierungsbeziehungen viele der besten Landwirtschaftsböden» (S. 18). Böden, die in den folgenden Unruhen, als die Landusurpatoren fliehen mussten, nicht etwa an die beraubten Communities zurückgingen, sondern in den Besitz der Warlords gerieten. Der Bericht beschreibt, wie die Besatzungstruppen faktisch mit den Warlords kooperierten, sie kaum entwaffneten und dafür verbleibende Elemente der traditionellen Gesellschaftsregelung (Frauen- und anderen gesellschaftlichen Organisationen etc.) marginalisierten.

Der Bericht beleuchtet, wie etwa der Verlust an Nahrungsmitteln der internationalen NGOs und UNO-Organisationen durch Überfälle und Erpressungen seitens der Warlords im Vorfeld der Besetzung propagandistisch von real 20 auf 80 Prozent überhöht wurde. Die «humanitäre» Erregung um die verhinderte «Hungerhilfe» mündete im März 1993 in die Besetzung des Landes. African Rights situiert für uns die reale humanitäre Dimension internationaler Nahrungshilfe: «Tatsächlich hat in allen kürzlichen Hungersnöten in Afrika die internationale Nahrungshilfe eine relativ marginale Rolle gespielt. 1984/85 lieferte sie etwa im Sudan nicht mehr als 12 Prozent der Diät der Menschen in den von Hungersnot betroffenen Gegenden. Der Rest entsprang den Anstrengungen der Betroffenen selbst und der Hilfsbereitschaft lokaler Individuen und Organisationen. In wenigen Hungersnöten beliefen sich die von internationalen Agenturen gelieferten Nahrungsmittel auf über 20 Prozent der Nahrung» (S. 50). Soviel zum weissen Helfersyndrom. Anhand von Beispielen aus Äthiopien und anderen afrikanischen Ländern macht African Rights auch diese Beobachtung: «Nahrungshilfe hat überall dort, wo sie in Afrika hingegangen ist, die Kriege gefüttert» (S. 49).

Glaubt man einem Artikel von Thomas Mountain, der sich selbst als unabhängigen, in Eritrea lebenden Journalisten darstellt, hat sich an der Praxis «humanitärer» Nahrungsverteilung nichts geändert: «Gerade als die somalischen Farmer 2006 ihre Ernte auf den Markt bringen wollten, begann das WFP [Welternährungsprogramm der UNO] die Verteilung seiner ganzjährigen Getreidehilfe für Somalia. Für somalische LandwirtInnen war es fast unmöglich, ihre Ernte zu verkaufen, sie standen vor dem Nichts. Tausende wütender somalischer BäuerInnen protestierten vor den WFP-Verteilzentren in Somalia, manchmal mit Gewalt. Um die Lage zu beruhigen, versprach das WFP eine Untersuchung, die dann auch ergab, dass, ja, das WFP den somalischen BäuerInnen Schaden zugefügt habe. Das WFP versprach, das nicht wieder zu tun. Dann, just als die somalischen Farmer 2007 ihre Ernte auf die lokalen Märkte zu bringen begannen, verteilte das WFP einmal mehr seine Ganzjahresgetreidehilfe, aber diesmal im Schutz der äthiopischen Armee»(6). Mountain, ein auf anti-äthiopischer Propagandalinie liegender Mann, erklärt die Popularität der Shabaab-Milizen auch mit deren Opposition zum WFP.


«Ein Kind, das verhungert, wird ermordet. Punkt.»

Jetzt wird die Erregung um neue «Hungerhilfe» für die Menschen am Horn von Afrika erneut geschürt. Kürzlich antwortete der Buchautor und Mitherausgeber des US-Magazins «The Nation», Christian Parenti, frisch zurück von einem Besuch am Horn von Afrika, in einer TV-Sendung auf die Frage nach dem Kontext der aktuellen Hungerkatastrophe: «Sie wurde von Leuten vor Ort schon lange vorausgesagt. Eine Kombination von Krieg, Klimawandel und einer sehr schlechten Politik, insbesondere das Bekenntnis zu einer radikalen Marktfreiheitspolitik der regionalen Regierungen, die das Beenden von Unterstützung für HirtInnen beinhaltet, die Leute, die man mit ihrem toten Vieh sah. Es gibt keine Programme etwa der kenianischen Regierung, um ihnen beim Bohren neuer Brunnen, bei Veterinärdiensten für ihr krankes Vieh oder bei der Versorgung mit neuen Viehbeständen wie Kamelen helfen würde».(7) In der gleichen Sendung berichtete die für humanitäre Hilfe der UNO in Somalia zuständige Kiki Gbeho Folgendes aus dem Land: «Im letzten Jahr sind die [Nahrungs-] Preise um 300 Prozent gestiegen. Obwohl es also etwas Nahrungsmittel auf dem Markt gibt, sind sie für normale Leute schlicht unerschwinglich.»

«Weshalb jetzt Zehntausende in Ostafrika an Hunger sterben», erklärt uns der ehemalige UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler: «Die Presse spricht von einer Klimakatastrophe. Die seit fünf Jahren anhaltende Dürre ist bloss eine von vielen Ursachen. Aber weshalb haben Äthiopien, Dschibuti, Eritrea und Kenia keine Nahrungsmittelreserven? Weil Spekulanten in den letzten Jahren die Agrarpreise in die Höhe getrieben haben. Diese armen Staaten können sich das Getreide nicht mehr leisten.» Und wer sind die Spekulanten? «Hedgefonds, Banken. Sie stiegen in den letzten Jahren aus der Finanzbörse aus und auf Agrarrohstoffe um. Hier in Genf an der Rue de Rhône kann man am UBS-Schalter Reiszertifikate kaufen, letztes Jahr liessen sich damit über dreissig Prozent Rendite erzielen. Eine Tonne philippinischer Reis ist zeitweise von 110 auf 1200 Dollar gestiegen, der Maispreis um 93 Prozent, eine Tonne Weizen kostet heute 270 Dollar, vor einem Jahr war es noch die Hälfte ... Gleichzeitig verhungert in der südlichen Hemisphäre - notiert das! - alle fünf Sekunden ein Kind, jeden Tag verhungern dort 37.000 Menschen. Das ist ein strukturell bedingter Hunger. Der Welternährungsreport der Uno vom April dieses Jahres stellt fest, dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase ihrer Entwicklung problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte, also fast das Doppelte der gegenwärtigen Menschheit. Der objektive Mangel ist überwunden. Ein Kind, das verhungert, wird ermordet. Punkt.»(8)


Rohwaren-Indices

Neben dem Landraub (land grabbing) fallen in Sachen Spekulation etwa die sogenannten Rohwaren-Indices und von der Weltbank und der G-20 gepushte «Innovationen» und Regulierungen des Nahrungsraubes ins Auge. Im Hungerdossier in Correos 154 von August 08 (unter Correos-Tag auf unserer Blogseite zu finden) sind wir auf das Thema Landraub eingegangen. Es hat sich seither massiv verschärft und wird zum Gegenstand von kritischen Berichten, manchmal sogar in Mainstreammedien. Was die Rohwaren-Indices (commodity indices) betrifft, hat ein Artikel von Frederick Kaufman im Harper's Magazine für viel Aufsehen gesorgt(9). Den ersten commodity index (CI) lancierte Goldman Sachs (GS) 1991, heute gibt es deren viele. Gigantische Kapitalmassen strömten nach dem Platzen der Dot.com- und Subprimeblasen in die CI. Es handelt sich dabei um rein spekulative Instrumente zur Bereicherung der sie auflegenden Geldhäuser.

Wie funktioniert ein CI? Commodities sind für den globalen Handel möglichst standardisierte Waren wie z.B. Kupfer, bei dem es nicht darauf ankommt, in welcher Erdgegend es gefördert wird. Metalle, Erdöle und Agrargüter wie Mais, Weizensorten, Kaffee, Rinder und Kakao gehören dazu. Die GS-Analysten wählten 18 solcher commodities aus und «gwichteten», schreibt Kaufman, «den Investitionswert jedes dieser Elemente, verschmolzen Teile zum Ganzen [und] reduzierten danach die ursprünglich komplizierte Sammlung realer Dinge in eine mathematische Formel» - den Goldman Sachs Commodity Index, bei dem man nun Anteilscheine erwerben konnte. Stiegen die Preise der zugrunde liegenden Rohwaren, erhielten die InvestorInnen Geld, wenn nicht, gingen sie leer aus (Swap-Mechanismus). Im Gegensatz zur traditionellen Rohwaren-Spekulation, in der es an den Terminmärkten darum geht, möglichst billig einzukaufen und möglichst teuer zu verkaufen, folgen die CI einer anderen Logik: Sie gehen stets «long», d.h., sie kaufen einen Terminkontrakt, der sie verpflichtet, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Menge der dem CI zugrunde liegenden Rohwaren zu kaufen. Nähert sich der Termin, denken sie nicht daran, die physischen Waren auch wirklich zu kaufen, sondern kaufen einen nächsten Terminkontrakt, der den alten neutralisiert, wiederum mit der Verpflichtung, später physisch einzukaufen, was dann einen weiteren Futurekauf auslöst. Die Folge: Die «Nachfrage» nach den Rohwaren stieg, die Futures darauf wurden stets teurer, damit aber auch die Rohwaren wie Nahrungsmittel und Erdöl. Denn bei steigenden Zukunftspreisen steigen auch die Gegenwarts- oder Spotpreise, also jene für den tatsächlichen Kauf/Verkauf physischer Güter. Die Nahrungsblase war perfekt; unzählige Menschen verhungerten für sie.

Nach der Veröffentlichung einer «Studie» der Universitäten Yale und Pennsylvania über die fast narrensicheren Gewinne bei CI-Investitionen im Jahr 2005 begannen die diesen zugrunde liegenden Rohwarenpreise markant zu steigen, 2008 explodierten die Nahrungspreise. Laut Kaufman hatten sich die Investitionen in CI zwischen 2003 und 2008 auf über $300 Mrd. verzehnfacht. Ende 2008 sanken die Spot-Preise, dann gefolgt von den Futures, auf ein allerdings immer noch hohes Niveau, nach einer Spitzenernte bei Weizen. Kein Problem für die CI-Banken. Von jedem in ihre Rohwarenindices investierten Dollar zogen sie erst einmal eine Geschäftskommission ab und kauften danach Futures im Wert von rund einem Dollar für etwa 5 Cents (der Erwerb von Derivaten kostet nur ein Bruchteil der später fälligen Geldmenge). Den grossen Rest ihrer Kundengelder konnten GS etc. in sichere Positionen anlegen. Stiegen die Rohwarenpreise, verdienten sie. Sanken sie, dito: an den Kommissionen und vor allem an ihren mit den Kundengeldern getätigten Investitionen. Das Börsenverlieren blieb den «InvestorInnen» wie Versicherungsgesellschaften oder Pensionskassen bzw. den von diesen Ausgenommenen vorbehalten. Das Verhungern der globalen Plebs. Great fun.


Sarkozys New Deal

Die Nahrungspreise liegen den periodischen Preisberichten von FAO und Weltbank zufolge wieder im Bereich des Hochs von 2008, teilweise sogar schon darüber. Nicht nur in Mogadiscio. Wie die Hungerriots von 2008 stehen die arabischen Sozialrevolten dieses Jahres für ein globales Problem. Die globale Elite vergisst keine Sekunde die «Notwendigkeit» der Niederschlagung/Pazifizierung der Sozialrevolte. Entre en scène M. Sarkozy, mit Weltbank und G20 im Schlepptau. Monsieur lässt nicht nur in Libyen bomben, in Tunesien abwürgen, in Côte d'Ivoire verwalten, er geriert sich auch als globaler Sozialreformer. Schon 2007 verkündete er vor der UNO: «Die Welt braucht einen veritablen New Deal», wie Olivier Chantry, Mitarbeiter des Comité pour l'Annulation de la Dette du Tiers Monde, in einem sehr lesenwerten Papier(10) schreibt. Anlässlich einer EU-Konferenz über Rohwaren am 15. Juni 2011 betont Sarkozy: «Was die USA 1936 gemacht haben, kann Europa vielleicht 2011 inspirieren» (id.). Chantry gibt die historische Einordnung: Die mit neuen Futuremärkten verbundene Spekulation (Tiefpreise) trieb die Farmer in den USA in den 1930er Jahren in den Ruin und an den Rand einer «Revolution», wie der konservative Präsident der Farmerorganisation 1933 vor dem Senat warnte. Unter Präsident Roosevelt kam es zu einer Politik der agrarischen Preisstabilität (staatliche Lager und Produktionsvorgaben, Nahrungshilfe an Bedürftige, Exportsubventionen), gefolgt 1936 vom Commodity Exchange Act, einem Gesetz, das es nur noch im physischen Nahrungshandel aktiven Akteuren erlaubt, eine unbeschränkte Zahl von Nahrungsfutures zu halten. «Reine» Finanzspekulation sollte so eingezäunt, die angeblich sinnvolle Spekulation (das Hedging oder Absichern von Farmern und Handelsunternehmen gegen Preisschwankungen) gepusht werden: «So wurde gleichzeitig eine Ideologie in Stein gehauen. Die Märkte für Finanzderivate sollten angeblich das Funktionieren der Märkte verbessern», schreibt Chantry. «Statt eine politische Antwort auf die Spekulation zu sein, trägt die Regulierung zu ihrer Legitimierung bei».

Chantry insistiert aus aktuellem Anlass auf dem Legitimierungsaspekt der Regulierung. Er betont, dass neben grossen Bankhäusern die fünf den Weltmarkt dominierenden Rohwaren- und Nahrungshändler (Cargill, ADM, Bunge, Louis Dreyfus, Glencore) die Hauptgewinner bei der Nahrungs- und Rohwarenspekulation sind. Diese Fünf haben aufgrund ihrer enormen Marktmacht neben ihrer zusammen mit den Grossbanken dominanten Stellung im CI-Geschäft jederzeit die Möglichkeit, die physischen Märkte je nach spekulativer Interessenlage zu fluten oder auszutrocknen. Cargill habe, so Chantry, 1999 etwa 45 Prozent des internationalen Getreidehandels kontrolliert und ADM 30 Prozent. Seit 30 Jahren betreibe die Weltbank die Abschaffung jeglicher Preiskontrollen auf den nationalen Agrarmärkten, eine Politik, die die Preisfluktuationen massiv verschärft habe. Im Verlauf dieser Deregulierung sei in den matchentscheidenden USA auch die Schranke aus den 1930er Jahren zwischen physischen Händlern und sechs Grossbanken, darunter GS und Deutsche Bank, gefallen, was es den letzteren ermöglicht habe, auch an den Commodity-Börsen unbeschränkt mit Futures zu spekulieren. Die Börsen sind reguliert, ihr Handel ist standardisiert (fest gelegte Warenvolumen, Fälligkeitstermine, Qualitätsstandards etc.) und sie unterliegen einer gewissen staatlichen Aufsicht. Im Gegensatz dazu ist der sogenannte OTC-Handel (over the counter) zwischen zwei direkt interagierenden Geschäftspartnern unreguliert, nicht standardisiert, risikobehafteter. Die Regierungen wissen kaum Bescheid über die Vorgänge im OTC-Bereich, dessen Summen das Zehnfache des regulierten Börsenhandels und auch des Weltwirtschaftsprodukts betragen.


Albträume

Im Zeichen der Finanzkrise haben es die Geldhäuser nun wieder schwieriger, unbeschränkt an den Rohwarenbörsen zu spekulieren - nicht aber Glencore, Cargill und Co. (die auch massiv im OTC-Geschäft absahnen). In diesem Zusammenhang interessant die folgende Bloomberg-Meldung mit dem Titel «Glencore-Börsengang ist Goldmans Alptraum»: «Für die Wall-Street-Banken Goldman Sachs und Morgan Stanley wird mit dem [Börsengang von Glencore] ein Alptraum wahr: Sie bekommen für einen Teil ihres Geschäftes einen Konkurrenten, der im Vergleich mit ihnen selbst nahezu unreguliert agieren kann» (NZZ, 9.5.11). Nicht das Morden ist der Alptraum, sondern die Konkurrenz dabei.

Die G20-AgrarministerInnen verabschiedeten unter französischer Führung im Juni 2011 einen Aktionsplan zur Stabilisierung der Agrarpreise(11). Er will etwa «ein besseres Funktionieren und eine erhöhte Transparenz der Agrarfinanzmärkte (inklusive der OTC-Derivate) garantieren, um Marktmissbräuchen vorzubeugen». Um den stets bemühten «Kleinbauern» zu «helfen», wird auch eine von der FAO unter Einbezug des Privatsektors zu koordinierende internationale Datenbank AMIS über Ernten, Lagermengen, Agrartermin- und Energiemärkte etc. lanciert. Mehr «Transparenz» über die Agrarvorgänge soll «reiner» Spekulation den Boden entziehen, wie eine Stellungnahme des deutschen Agrarministeriums vor dem Juni-Treffen der G20-Minister suggeriert: «Es muss für alle Seiten erkennbar sein, welche Gruppen sich auf dem Rohstoff-Finanzmarkt betätigen und wer Waren kauft. Das können Rohstoffhändler sein, die ihr Risiko absichern, aber eben auch reine Finanzjongleure, die um den schnellen Profit pokern. Ein Transaktionsregister schafft Transparenz und damit die Möglichkeit, notfalls zu intervenieren.»(12) Erneut also das Lied von den «guten» versus den «bösen» Spekulanten, die künstliche Unterscheidung in Absichern und Spekulieren (wie schaffendes versus raffendes Kapital). Man sieht förmlich, wie die Kleinbäuerin im Süden dank Smartphone-Zugriff auf AMIS ihren Partner Glencore austrickst, über dessen Geschäftspraxis die NZZ schreibt: «Bei rund 98 % der Käufe sind die Waren zum Zeitpunkt des Geschäftsabschlusses bereits weiterverkauft oder über Finanzierungsinstrumente abgesichert. Glencores Kerngeschäft besteht in der Ausnützung von Arbitragemöglichkeiten. Dabei kann es sich um Preisdifferenzen zwischen verschiedenen geographischen Orten, Preisunterschiede zwischen unterschiedlichen Sorten oder Qualitäten oder Differenzen zeitlicher Natur zwischen Kauf und Auslieferung handeln»(13).

Als Pioniertat bejubelt die G20 die von der Weltbank und J.P. Morgan letzten Juni gemeinsam lancierte Ausweitung von Agrar-Derivaten auf den Trikont. Der Weltbank-Arm International Finance Corporation hat die wahren Nöte der Bäuerinnen und Bauern im globalen Süden erkannt: «Hedging-Instrumente wie Futures sind für ProduzentInnen und KonsumentInnen in Schwellenmärkten oft nicht zugänglich ... andere Hedging-Lösungen wie Forwards, Swaps(14) und gewisse Typen von Optionen könnten in dem Mass breiter zur Verfügung gestellt werden, wie ihre Anbieter im Stand sind, ein gewachsenes Kreditrisiko gegenüber LandwirtschaftskundInnen einzugehen, die davon profitieren könnten. Dieses neue Produkt - bei dem die IFC das Kreditrisiko von Banken, die solches Preishedging ihren KlientInnen anbieten - soll die Finanzinstitute dazu ermutigen, ihr Preisrisikohedging» in den Schwellenländern zu verbreitern»(15). Es handelt sich also nicht um eine «Versicherung» für die BäuerInnen, sondern um eine Ausweitung des Spekulationsinstrumentariums auf neue Märkte.

Selbstredend bemühen G20, Weltbank, FAO etc. auch die Zahl von 9 Milliarden Menschen im Jahr 2050, für deren Ernährung eine beträchtliche Erhöhung der «Produktivität» in der globalen Landwirtschaft (und sowieso eine Stärkung der Public Private Partnerships, d.h. der privat verwalteten öffentlichen Infrastruktur) nötig sei. Also Zerschlagung der bäuerlichen Landwirtschaft und ihr Ersatz mit kapitalintensiver Monokultur, Landraub und verschärfter Durchdringung durch die Gentechkonzerne wie Monsanto oder Syngenta. Als nächsten Schritt in die Gentechzukunft beschliesst der G20-Aktionsplan eine weitere «Verbesserung» erst des Weizengenoms, später von Reis unter Regie der CGIAR, dem Zusammenschluss der mit der Saatgutindustrie verbundenen internationalen Forschungszentren (Annex 1). Und natürlich postuliert der Plan, dass die G20-Beschlüsse WTO-Gesetz werden.


Quellenangaben:

(1) The Telegraph, 15.4.11: Top ten global oil and commodities traders

(2) Die nicht mehr existierende, früher in London domizilierte Organisation entstand Ende 1992. Damals hatte Human Rights Watch (HRW) die Leiterin ihrer Afrikaabteilung, gefeuert, weil die beiden die aufkommenden, von HRW begrüssten «humanitären Interventionen» der westlichen Staaten ablehnten. Die Gekündigten lancierten African Rights.

(3) Rakiya Omaar and Alex de Waal, Covert Action Information Bulletin #44, Spring 1993: Somalia: Adding «Humanitarian Intervention» to the U.S. Arsenal.

(4) African Rights, May 1993: Somalia. Operation Hope: A preliminary assessment. Der aufschlussreiche, durchaus in traditionellem entwicklungspolitischen Diskurs behaftete 60-Seiten-Bericht ist nicht im Internet und kann beim ZAS gegen Kopier- und Versandkosten bestellt werden.

(5) Natürlich ist Nahrungshilfe in bestimmten Situationen unabdingbar. Aber es ist längst klar, dass die nach wie vor oft praktizierte Nahrungshilfe in Funktion der Kommerzialisierung von Überschussproduktion in der EU und in den USA verheerend wirkt und Hunger potenziert. Ein Korrektiv besteht im Nahrungskauf für Hilfeaktionen möglichst in den lokalen oder regionalen Märkten.

(6) 2.8.11, counterpunch.org: Angel of Mercy or Angel of Death?

(7) Democracy Now, 22.7.11: Horn of Africa: Millions at Risk in «Deadly Cokctail» of War, Climate Change, Neoliberalism.

(8) WoZ 34, 25.8.11: «Und das Gras wächst»

(9) Harper's Magazine, July 2010, Frederick Kaufman: The food bubble: How Wall Street starved millions and got away with it.

(10) cadtm.org, 18.8.11, O. Chantry: Plus de spéculation : les plans de la Banque mondiale et du G20 pour faire face à la volatilité des prix agricoles et aux crises alimentaires

(11) agriculture.gouv.fr/Plan-d-Action-sur-la-Volatilite: Plan d'action sur la volatilité des prix alimentaires et sur l'agriculture

(12) bmel.de: Transparenz auf den Agrarmärkten

(13) NZZ, 7.4.11: Glencore beginnt ein neues Kapitel

(14) Forwards beinhalten im Gegensatz zu den handelbaren Futures eine von den Vertragspartnern eingegangene Verpflichtung für einen zukünftigen physischen Kauf/Verkauf.

(15) ifc.org: The Private Sector and Global Food Security


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 167, 21. September 2011, S. 12-16
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2011