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AUFBAU/599: Libyen - Vom "Regime-Change" zum "Failed State"


aufbau Nr. 100, März/April 2020
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

IMPERIALISMUS
Libyen: Vom "Regime-Change" zum "Failed State"


Das nordafrikanische Land am Mittelmeer steht heute beispielhaft für die Folgen imperialistischer Aggressionen. Im Tummelfeld der Widersprüche deutet wenig auf Beruhigung hin.


(gpw) Ob in Afghanistan, dem Irak oder Libyen, es ist stets dasselbe Lied. Mehr oder weniger erfolgreich gelingt der "Regime-Change" durch die gezielte Zersetzung von Innen und die militärische Aggression von Aussen. Mit der oft korrupten und im jeweiligen Land selber kaum verankerten "Opposition" lassen sich danach aber die zuvor zerstörten staatlichen Strukturen nicht wieder aufbauen. Diese Tatsache blieb auch dem am Libyen-Desaster mitverantwortlichen Ex-US-Präsidenten Obama nicht verborgen. So bezeichnet er als grössten Fehler seiner Aussenpolitik, Libyen nach 2011 nicht beim Aufbau eines neuen Staates geholfen zu haben (vgl. aufbau 65). Dieser Gedanke prägt die bürgerlichen Diskussionsrunden bis heute. Nicht der gewaltsame Regierungssturz, nicht die Bomben für die Demokratie und Menschenrechte sind das Problem, sondern die Tatsache, dass dieses kolonialistische Gebaren einfach nicht zum Erfolg führen will.

Neun Jahre nach dem von Frankreich und den USA angeführten NATO-Überfall auf Libyen und dem Sturz von Präsident Ghaddafi ist das Land vollends zu einem Tummelfeld verschiedenster Akteure und ihrer imperialistischen Hintermänner geworden. Die lokalen Kräfte sind kaum mehr in der Lage, einen eigenständigen Prozess zur Gestaltung der Zukunft des Landes voranzutreiben. Sinnbildlich dafür ist die Berliner Libyen-Konferenz im Januar. Am Tisch sitzen die Brandstifter und spielen Feuerwehr, während die beiden massgeblichen libyschen Akteure Chalifa Haftar (General der Libyschen Nationalen Armee - LNA, welche weite Teile des Landes inklusive Erdölvorkommen kontrolliert, aber nicht den nordwestlichen Zipfel inklusive Tripolis) und Fayiz Sarradsch (von der UNO anerkannter Premierminister, dessen Kräfte der Regierung der Nationalen Einheit - GNA - eben diesen Zipfel kontrollieren) bestenfalls konsultiert werden, ansonsten aber abseits des Verhandlungstischs zu warten haben.

Wenig erstaunlich, dass die an der Konferenz angekündigte Waffenruhe in Libyen kaum einen Tag hielt, da keiner der Anwesenden auch nur eine Sekunde ernsthaft daran dachte, das Feuer einzudämmen, sondern eher nach Möglichkeiten trachtete, weiteres Öl ins Feuer zu giessen. Ein massgeblicher Konflikt in Libyen dreht sich um eben dieses Öl, was einen Teil der Widersprüche zwischen den ehemaligen Kolonialmächten Frankreich, Italien und Deutschland begründen dürfte. Alle drei Staaten waren oder sind mit eigenen Erdölgesellschaften im Land vertreten, ob nun ENI (IT), TOTAL (F) oder Wintershall (BRD), und wollen sich den Zugriff auf diesen Rohstoff möglichst exklusiv sichern. Mindestens absurd mutet es angesichts dessen an, dass die deutsche Bundesregierung im Umfeld der Berliner Konferenz ihre Legitimität als Vermittlerin durch ihre mangelnden Eigeninteressen im Land erklären wollte - nach Russland und Norwegen ist Libyen drittgrösster Erdöllieferant Deutschlands.


War for Gas

Als wäre das Erdöl in Libyen selber nicht genügend Grund für innerimperialistischen Zank, wirkt zusätzlich der Konflikt um die Ausbeutung der Erdgasvorkommen vor Zypern auf die Situation ein. Innerhalb der NATO stehen sich hierbei massgeblich Frankreich und Griechenland der Türkei gegenüber. Mittels Vereinbarungen mit dem "Bürgermeister" von Tripolis Sarradsch versucht der türkische Präsident Erdogan den Anspruch der Türkei auf diese Vorkommen zu sichern. Er hat daher grosses Interesse daran, Sarradsch gegenüber Haftar weiter zu stützen. Kurz nach der Berliner Konferenz wurden erste syrische Söldner, notabene IS-Kämpfer, und türkische Truppen nach Libyen verlegt, während die türkischen Waffenlieferungen an Sarradsch gar nie erst eingestellt wurden. Gängige Deutungen reduzieren den türkischen Expansionismus auf grossottomanische Visionen Erdogans. Das dürfte dem dahinterliegenden strategischen Kalkül keinesfalls gerecht werden und verkürzt die Analyse auf Plattitüden. Es ist ein offen angekündigtes Ziel der Türkei, mindestens zu einem gewichtigen regionalen Player aufzusteigen, wobei die faschistische Entwicklung verbunden mit schlechten ökonomischen Verhältnissen im Inland ihr Übriges tun, um diesen Prozess anzutreiben.

Es ist ein Aufstiegsversuch, der nicht ohne regionale Bündnispartner geht: Lange hat die AKP Bündnisse mit den Muslimbrüdern gepflegt, die heute Teil der Allianz von Sarradsch sind. Die Haltung gegenüber diesen ist eine weitere Demarkationslinie in der Frage, wer weshalb Sarradsch oder eben Haftar unterstützt. Denn Haftar, der lange unter Ghaddafi diente, danach in die USA floh und lange Zeit nach seiner Rückkehr nach Libyen als Mann der Vereinigten Staaten galt, gilt als Laizist, welcher den Einfluss des politischen Islams in Libyen bekämpft. Die massive politische und militärische Unterstützung, die er aus Ägypten, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten erhält, gilt in diesem Konfliktfeld direkt der Bekämpfung der Muslimbrüder und damit indirekt der Bekämpfung des Aufstiegsversuchs der Türkei.

Angesichts des Regime-Change-Fiaskos treibt die Europäische Union als Ganze in der sog. "Flüchtlingsfrage" pragmatisch ihre Zusammenarbeit mit den verschiedenen in Libyen agierenden Milizen als Teil des Ausbaus der Festung Europa in Nordafrika bis zur Sahelzone voran. Humanitäre oder gar moralische Prinzipien sind in dieser Frage keinesfalls zu erwarten. Deutsche Diplomaten berichteten im Juli 2019 von "KZ-ähnlichen Verhältnissen" in den Flüchtlingslagern, zahlreiche Berichte belegen, wie in Libyen der Sklavenhandel floriert. Brüssel mag darob öffentlich die Nase rümpfen, mit ihren militärischen Auslandsoperationen sind die dort vertretenen Staaten aber letztlich für das Ausmass der Barbarei mitverantwortlich, während sie die Verwaltung derselben im Rahmen der Frontex- und Sophia-Operationen organisieren und sichern.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 100, März/April 2020, Seite 3
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz:
aufbau, Postfach 8224, 8036 Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2020

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