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AUFBAU/463: Zum dritten Jahrestag - was von den Gezi-Protesten bleibt


aufbau Nr. 85, mai/juni 2016
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Zum dritten Jahrestag: was von den Gezi-Protesten bleibt


ISTANBUL Diesen Mai jähren sich die Proteste für den Erhalt des Geziparks im Zentrum Istanbuls zum dritten Mal. Vom lokalen Protest gegen die Zubetonierung wandelten sie sich rasch zu einer Bewegung gegen die AKP-Regierung von Tayyip Erdogan.


(agkkz) Was bleibt von den Gezi-Protesten und welche Bedeutung haben sie heute für den Bürgerkrieg in den kurdischen Gebieten in der Türkei und Rojava? Die Geschichte der Gezi-Proteste wurde schon oft wiedergegeben, trotzdem lohnt sich ein kurzer Rückblick: Im Zuge der Stadtaufwertung wollte die lokale Stadtbehörde Istanbuls Ende Mai 2013 mit dem Abholzen der Bäume im Gezipark beginnen. Anstelle des Parks sollte ein Einkaufszentrum mit der Fassade einer alten Osmanischen Kaserne gebaut werden. UmweltaktivistInnen protestierten dagegen und wurden von der Polizei so hart angegriffen, dass sich immer mehr Menschen zuerst aus den Quartieren, später Türkei- und weltweit empörten und sich solidarisierten. Während zweier Wochen gingen in der ganzen Türkei Millionen von Menschen auf die Strasse, um gegen die Regierung zu protestieren. Die Bilanz war durchzogen: Der Park und die Bäume wurden zwar gerettet, aber mindestens 20 Menschen verloren ihr Leben, mindestens 8.OOO Menschen wurden verletzt, 5.OOO Menschen wurden verhaftet. Trotz der erfolgreichen Rettung des Parks blieb die AKP-Regierung weiterhin an der Macht.

Gekränkt durch den Widerspruch eines Teils der Bevölkerung und der rhetorischen Kritik anderer Staaten verschärfte die AKP-Regierung unter Erdogan das Repressionsklima in der Türkei. Seit den Gezi-Protesten wurden Prozesse gegen die Protestierenden eröffnet und der Druck auf kritische Stimmen nahm zu. Die AKP entwickelte eine Paranoia, wie sie sonst für faschistische Diktaturen üblich ist. Hinter jeder Kritik vermutet die AKP-Regierung ein Komplott oder einen Putsch. Sogar mit politischen Alliierten wie der antikommunistischen Hizmet-Bewegung von Fethulla Gülen brach sie, als Anhänger Gülens die im öffentlichen Dienst arbeiteten Korruptionsfälle aufdecken wollten. Nach den Wahlen 2015, als die AKP die Mehrheit im Parlament verlor und der HDP der Schritt über die 10-Prozent-Hürde gelang, liess die AKP-Regierung die Friedensgespräche mit der PKK platzen und begann wieder mit bewaffneter Repression in den südöstlichen Gebieten der Türkei - den Herkunftsgebieten der kurdischen Bevölkerung. Seit dem Herbst 2015 gab es in diesen Gebieten Ausgangssperren, Belagerungen und Kämpfe zwischen den türkischen Sicherheitskräften (islamistische Söldner inklusive) und kurdischen Militanten.


Die Auswirkungen der Proteste

Die Gezi-Proteste waren eine spontane Bewegung, die ihren Höhepunkt mit der Besetzung des Geziparks und den Massendemonstrationen hatte. Wie jede Bewegung hatten die Gezi-Proteste keine Kontinuität und sind wieder abgeebbt. Doch die Proteste hinterliessen ein Erbe mit vielen Aspekten. In der Gezi-Bewegung organisierten sich für kurze Zeit Menschen aus vielen Ecken: Menschen aus der ArbeiterInnenklasse, StudentInnen, Leute aus der bourgeoisen Schicht, Junge wie Alte, politisch Organisierte und Unorganisierte, Frauen, Männer und Menschen aus der LGBT-Bewegung, türkische und kurdische Nationalisten etc. nahmen an den Protesten Teil. Die Proteste wirkten vereinend für die Menschen, die sonst keinen oder wenig Austausch mit anderen Positionen hatten. Mit dem ersten Protestziel, den Park zu retten, wurde auch gleich die Praxis der Stadtaufwertung der AKP-Regierung thematisiert. Mit der Forderung des Rücktritts der Regierung fand ein Bruch mit der korrumpierten Regierungspraxis statt. Mit der massiven polizeilichen Repression zeigte sich die AKP-Regierung auch von der klassischen Seite des kapitalistischen Staates: Wird das herrschende System in Frage gestellt ist jegliches Repressionsmittel recht.

Die Gezi-Bewegung wirkte nicht nur auf soziodemografischer Ebene, sondern auch auf politischer Ebene vereinend. Verschiedenste linke militante Gruppen konnten ihre Erfahrungen von Demos und Strassenkämpfen weitergeben. Die Bewegten lernten den Umgang mit der staatlichen Repression auf der Strasse mit Tränengas, Gummischrot und Wasserwerfern. Etwas, das vor allem kurdische AktivistInnen gerne sahen, denn in den kurdischen Gebieten der Türkei gehört dies zur Tagesordnung. Obwohl der Grossteil der Protestierenden nicht politisch organisiert war, gab es doch Neueintritte in die verschiedensten Organisationen und Parteien. Die zahlreichen linken Gruppen, die in der Türkei zum Teil untereinander zerstritten sind, erlebten neben den Neuzugängen ein Moment der Einigkeit: trotz verschiedenen Positionen traten sie gemeinsam nebeneinander im besetzten Gezipark auf und begannen so eine Annäherung, die sich später weiter auswirken sollte. Ein weiterer relevanter Punkt war die Sensibilisierung der Bevölkerung für Rechte von LGBT-Menschen.


Von Gezi nach Kobane

Mit der Repression und der Aufhebung des besetzten Geziparks verliefen sich die Proteste langsam. Doch die Erfahrung der Protestierenden kann ihnen nicht mehr genommen werden. Als sich für die Wahlen 2015 die pro-kurdische HDP aufstellte, erhielt sie auch in den westtürkischen Städten viele Stimmen, die nicht nur von kurdischen Binnenmigranten kamen. Doch die Strategie der Spannung mittels Anschlägen auf linke, demokratische Kräfte in Suruc und Ankara führte zu einer teilweisen Passivität der legalen demokratischen Kräfte. Da in diesem Rahmen die politische Arbeit erschwert wurde, fanden nicht wenige AktivistInnen die Motivation, sich dem bewaffneten Kampf in den kurdischen Gebieten in der Türkei oder in Rojava anzuschliessen. In diesem Sinne wirkt das Vermächtnis der Zusammenarbeit während den Gezi-Protesten vereinend. Anfangs März 2016 gaben verschiedene linke Organisationen mit der PKK bekannt, dass sie sich gegenseitig im Kampf gegen die AKP-Regierung unterstützen möchten. Dieser Schulterschluss ist notwendiger denn je, weil die türkische Regierung auch immer aktiver das progressive Projekt Rojava in Syrien angreift.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 85, mai/juni 2016, Seite 9
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2016

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