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AUFBAU/339: Buchbesprechung - An Europas Aussengrenzen


aufbau Nr. 71, januar 2013
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

MIGRATION

An Europas Aussengrenzen



Ein kürzlich erschienenes Buch berichtet über die Abwehr von MigrantInnen an der Südgrenze Europas. Die Perspektive eines anderen Umgangs mit Migrantinnen bleibt dabei vage.


(rabs) Das neu erschienene Buch von Kaspar Surber(1) gibt einen Einblick in die Situation von MigrantInnen, die Europa über das Mittelmeer oder den Fluss zwischen der Türkei und Griechenland zu erreichen versuchen. Wenn sie Europa nach oft traumatischen Reisen erreichen, stehen ihnen Aufenthalte in Flüchtlingslagern, langes Warten auf das Stellen eines Asylgesuchs und nicht zuletzt rassistische Übergriffe bevor. Im Bericht kommen sowohl Menschen zu Wort, die selbst geflüchtet sind und die Auswirkungen europäischer Migrationspolitik hautnah erlebt haben, wie auch AktivistInnen, die sich dem Migrationsregime entgegen stellen. Die zahlreichen Bilder aus Flüchtlingslagern, von Booten und Grenzen geben die Wirklichkeit der MigrantInnen eindrücklich wieder.


Die Sicht der Betroffenen

60% der in die EU einreisenden MigrantInnen überqueren den Grenzfluss zwischen der Türkei und Griechenland. Sie reisen in ein Land ein, in dem es fast unmöglich ist, ein Asylgesuch zu stellen. So gibt es zum Beispiel in ganz Athen nur einen Ort, an dem ein Gesuch eingereicht werden kann - und die Zahl der Personen, die dies tun dürfen, ist auf 20 pro Woche beschränkt. Gleichzeitig leiden die MigrantInnen unter dem fremdenfeindlichen Klima, das durch. die neofaschistische Partei Chrysi Avgi (goldene Morgendämmerung) zusätzlich angeheizt wird. Die Gefahr dieser Partei und ihrer AnhängerInnen wird nicht zuletzt durch ihre enge Verbindung zur griechischen Polizei verschärft: So soll jeder zweite Polizist Chrysi Avgi gewählt haben. Da ist es kein Wunder, wenn die Polizei bei Übergriffen nicht eingreift und wenig daran setzt, diese aufzuklären. Die Verhinderung der Migration an der türkisch-griechischen Grenze wird derweil von höchster Stelle vorangetrieben. Die EU beteiligt sich an der Installierung von Film- und Wärmekameras, die in Zusammenarbeit mit der türkischen Militärpolizei ermöglichen sollen, Flüchtlinge schon auf türkischem Boden aufzugreifen. Dazu kommt die Errichtung eines durch Griechenland finanzierten Grenzzauns, sieben Stacheldrahtrollen hoch, zwei breit, dort, wo in der Länge von 11,5 km die natürliche Grenze durch den Fluss wegfällt.

Im Fall von Lampedusa wird versucht, MigrantInnen vor Erreichung der Insel abzufangen. So geschehen am 6. Mai 2009: Ein Schiff mit somalischen und eritreischen Flüchtlingen wurde von der italienischen Grenzpolizei aufgegriffen und den libyschen Behörden übergeben - zu einer Zeit, als Libyen unter Gaddafi noch als "sichere Destination" galt, wie ein Anwalt des von den Flüchtlingen angeklagten Italiens zu Protokoll gab.


Die Frage der Perspektive

Ziel des Buches ist es, die "Schauplätze der Grenzziehungen" und die sich dort abspielende Katastrophe zu dokumentieren. So wertvoll dieser Einblick auch ist, lässt er doch globale Zusammenhänge ausser Acht und deshalb kaum Ursachen erkennen. Kurz wird das Konzept der "Autonomie der Migration" erwähnt, das - dem Buch zufolge - Migration als quasi unabhängige Praxis der jeweiligen MigrantInnen und nicht als abhängig von sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren fasst. Die Frage nach Ursachen, die eine vertieftere Auseinandersetzung mit Migration erfordern würde, wird dabei elegant umschifft - ob diese Umschiffung dem im Buch nur kurz eingeführten Konzept gerecht wird oder nicht, sei dahingestellt. Das Ausbeutungsverhältnis zwischen dem Süden und dem Norden, erzeugt und gefestigt in Jahrhunderten kolonialer und imperialistischer Herrschaft, bleibt unerwähnt, ebenso wie die spezifische ökonomische Lage von MigrantInnen. Wie nach einer solchen Analyse nicht anders zu erwarten war, bleiben auch Schlussfolgerung und Perspektive einer seltsamen Argumentation verhaftet: Die Erkenntnis, dass Migration sich durch die repressive europäische Migrationspolitik nicht verhindern lässt, wird als positives Fazit gewertet. Die Formulierung einer "fortschrittlichen Migrationspolitik" erschöpft sich in der Forderung nach einem weniger gefährdenden Umgang mit MigrantInnen und auf eine Bewegung hin zu "mehr Rechten, (...) mehr Zugängen für alle".

Stattdessen meinen wir, dass auch Migrationspolitik sich an konkreten Kämpfen orientieren muss, das heisst an Kämpfen, die nicht für, sondern mit MigrantInnen geführt werden. Kämpfe, die auf Gemeinsamkeiten der Klassenlagen zielen, ohne Differenzen zu negieren, und die nicht zuletzt eine der Ursachen von Migration, die international verflochtenen kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse, bekämpfen.


Alle Zitate aus: Surber, Kaspar: An Europas Grenze. Fluchten, Fallen, Frontex. Echtzeit Verlag, Basel, 2012.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 71, januar 2013, Seite 5
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.ch
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Januar 2013