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AUFBAU/220: Der Kaiser ist nackt


aufbau Nr. 57, Mai/Juni 2009
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Der Kaiser ist nackt

POLITISCHE KRISE - Über die ökonomischen Grundlagen der Krise haben wir schon einiges geschrieben. Der Kapitalismus steckt aber in einer generellen Krise, die auch eine politische und kulturelle ist. Wir entwickeln einige Aspekte der politischen Krise, wie sie aus der ökonomischen hervorgegangen sind.


(gpw) UBS Ex-Boss Peter Kurer wirkte fast rührend, als er an der Tagesschau vom 30. Januar die erneuten Manager-Boni verteidigte und nebenbei auf die laufende WEF-Jahrestagung zu sprechen kam. Es bedrücke ihn, dass dort alle nur miteinander streiten und niemand Ansätze einer Lösung für die Krise vorzuweisen habe. Das ist offenbar das Resultat, wenn 43 Staats- und Regierungschefs mit über 2000 Spitzenleuten aus Wirtschaft, Medien und Kultur zusammenkommen. Treffender könnte er die politische Krise, in welcher die imperialistische Bourgeoisie steckt, nicht beschreiben. Ausser Worthülsen wie den Aufruf zu einem fundamentalen Neustart (fundamental reboot) für Wirtschaft, Märkte und Gesellschaften brachte auch ein Vorbereitungstreffen im November in Dubai nichts zustande, obschon über 60 "Räte" von weltweit hochkarätigen ExpertInnen ebenso viele Probleme wälzten. Es ist für alle sichtbar geworden, dass der Kaiser nackt ist.

Das Powerplay um das Bankgeheimnis zeigt den Wirtschaftskrieg zwischen den Finanzplätzen in aller Offenheit, einen schwachen Bundesrat und ein politisches System Schweiz, das einem gackernden Hühnerhof gleicht. Wenn die USA Druck machen, weil die Hehler von der Zürcher Bahnhofstrasse sich allzu sehr verraten haben, ist auch für den Bundesrat legal-illegal scheissegal! Der deutsche Nachrichtendienst beschafft sich mit kriminellen Methoden von der ebenso kriminellen LGT-Bank Tausende von Kundendaten, Israel und Italien werden von offen kriminellen Banden regiert, und Obama bringt sein Team nicht zusammen, weil die Nominierten wegen Betrügereien klein beigeben müssen.


Das System von Bretton Woods

Um die Entwicklung dieser politischen Krise des Kapitalismus nachzuzeichnen, blättern wir zurück zum 22. Juli 1944. Im Mount Washington-Hotel in ländlicher Idylle im US-Staat New Hampshire verabschiedeten 44 Siegerstaaten des Zweiten Weltkrieges eine Nachkriegsordnung, die nach der grössten Schlächterei der Weltgeschichte unter der neuen Führungsmacht USA den Weltkapitalismus politisch stabilisieren sollte. Ein System mit dem Dollar als ans Gold gebundene Leitwährung und festen Wechselkursen wurde geschaffen sowie supranationale Institutionen (IWF und Weltbank), welche Ungleichgewichte korrigieren sollten: (Das Wichtigste aber, die Gründung einer Welthandels-Organisation war vorerst gescheitert)

Und oh Wunder, das funktionierte schlecht und recht während über einem Vierteljahrhundert. Der lange Nachkriegsaufschwung machte es möglich, dass die imperialistischen Kernländer relativ "friedlich" nebeneinander die Welt ausbeuten konnten, zusätzlich zusammengehalten durch den Kalten Krieg, welcher der Rüstungsindustrie Auftrieb gab. Das Fortbestehen der realsozialistischen Systemalternative erforderte zusätzliche Anstrengungen der herrschenden Klasse. Auf der einen Seite wurde sie durch sozialistisch orientierte nationale Befreiungsbewegungen bedroht, auf der anderen musste sie sich bei den Ausgebeuteten der Metropolen als "kleineres Übel" legitimieren. Dank dem wachsenden Wirtschaftskuchen fielen Brosamen von ihren Tischen auch für das Proletariat ab. Dadurch hatte der Reformismus ökonomisch etwas zu bieten. Die ungeheure Produktivkraftentwicklung führte zu einer Ausdehnung des "Warenkorbes", der mit Arbeitslöhnen erstanden werden konnte - Autos, Haushaltgeräte, TV, Unterhaltungselektronik etc. FacharbeiterInnen und Angestellte konnten mit Lebensstellen rechnen, welche für den Unterhalt einer Familie reichten. Aus- und Weiterbildungen, Aufstiegsmöglichkeiten; medizinische Versorgung und mit der Zeit auch eine gewisse Altersvorsorge wurden für eine Mehrheit erreichbar. Die Drecksarbeit wurde zunehmend durch rechtlos gehaltene ausländische Arbeitskräfte geleistet.


Arbeitsfriede, Zauberformel - alles Gemeinplätze?

Das politische System Schweiz passte sich besonders wirkungsvoll diesem Kapitalismus mit menschlichem Antlitz an. Der schon vor dem Krieg in der Maschinenindustrie abgeschlossene Arbeitsfriede mit faktischem Streikverbot wurde generalisiert. Damit waren die Gewerkschaften eingebunden, und die Sozialdemokratie beteiligte sich an der 1959 etablierten Zauberformel, an einem Regierungssystem des Konsenses, der bereits in ausserparlamentarischen Kommissionen präventiv hergestellt wird.

Warum erwähnten wir diese Gemeinplätze? Weil sie nach dem Kriseneinbruch Anfang der 1970er Jahre noch über ein Vierteljahrhundert in einer Mehrheit der politischen Subjekte verinnerlicht blieben und Kampftraditionen einschlafen liessen. Die Zauberformel steht erst seit wenigen Jahren zur Disposition, und der Arbeitsfriede wird nur punktuell durchbrochen. Doch gehen wir der Reihe nach.


Kriseneinbruch und verschärfte Konkurrenz

Die Kapitalüberproduktionskrise bedeutet das Ende der relativen friedlichen Koexistenz der Kapitalistenverbände. Jeder konnte nur existieren, wenn es ihm gelang, das Schrumpfen des Wirtschaftskuchens auf die Konkurrenten abzuwälzen. Unter dem Druck der verschärften Konkurrenz brach 1971 das System von Bretton Woods zusammen. Der Dollarkurs sank innerhalb von 2-3 Jahren von Fr. 4.15 auf ca. 1.50. Damit gelang dem US-Imperialismus ein gigantischer Diebstahl gegenüber ihren Gläubigern, deren Dollar-Guthaben sich entsprechend entwerteten. Das überschüssige Geldkapital, das in den mehrwertproduzierenden Sektoren kaum mehr Investitionsmöglichkeiten fand, drängte auf die Finanzmärkte und blähte sie in gigantischem Ausmass auf. Das führte zu vernichtenden Finanzkrisen. Die logische Antwort auf die sinkenden Profitraten war und ist die neoliberale Wirtschaftspolitik, welche nicht nur die Ausbeutung verschärft, sondern das Proletariat in einen Wirtschaftskrieg jedeR gegen jedeN stürzt. Die im Kapitalismus mit menschlichem Antlitz aufgebauten Werte bröckeln, Drogenhandel, Prostitution und bewaffnete Auseinandersetzungen werden zu immer stärkeren Wirtschaftsfaktoren. Der Zusammenbruch des Revisionismus 1989 befreite das Bürgertum definitiv von den Rücksichten auf die Existenz einer Systemalternative.

Auf politischer Ebene führt die Krise einstweilen nicht zu einem neuen Faschismus, auch wenn faschistoide Tendenzen - nicht zuletzt wegen des Fehlens einer glaubwürdigen linken Orientierung - verstärkt hervortreten. Die Bourgeoisie sieht sich nicht gezwungen, Teile ihrer Macht an faschistische Bewegungen abzugeben, sondern tendiert zu einem autoritären Staat. Was sie durch den Kriseneinbruch an Legitimation verliert, versucht sie durch die Aufrüstung der präventiven Konterrevolution auszugleichen. Dafür ist die Schweiz Modellland.


Schwacher Schweizer Staat

Die Konkordanz erweist sich als zählebig. Versuche, die Exekutive z.B. durch Einführung von Staatssekretären zu stärken, scheiterten. Erst allmählich kam es zur Polarisierung zwischen Sozialdemokratie und SVP. Die SP legitimiert sich durch ökonomische Rückzugsgefechte, vor allem aber als politisch-kulturelle Trägerin des längst vergangenen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz. Erst die jetzige Krise lässt diese Illusionen definitiv plätzen - der Zukunft neokeynesianistischer Rettungspakete wird kaum mehr Glauben geschenkt. Die SVP verrät laufend die Interessen ihrer kleinbürgerlichen Basis. Unter bürgerlicher Führung kanalisiert sie deren Unzufriedenheit auf rassistische Themen und wirkt auf politischer und kultureller Ebene zersetzend auf die Traditionen und Werte aus dem Aufschwung, die so oder so immer schwächer nachwirken.

Wenn sich Doris Leuthard am WEF zum x-ten Mal vergeblich einen Durchbruch bei der Freihandelsrunde der WTO versucht und Erdogan wegläuft und sich dafür in der Türkei als Held feiern lässt, zeigt sich exemplarisch der Kern der politischen Krise: Innerbürgerlicher Konsens und sogenannte Friedensprozesse scheitern an Verschärfungen der Ausbeutungsbedingungen und der Konkurrenz, die imperialistische Kriegsgefahr wächst.


Antikapitalistischer Widerstand

Seit dem Aufstand gegen das WTO-Treffen in Seattle 1999 hat sich eine soziale Bewegung gebildet, welche sich gegen supranationale Treffen der Bretton-Woods-Institution und andere Konferenzen richten, die das Gesamtinteresse der imperialistischen Bourgeoisie vertreten. Die politische Krise schwächt diese Organisationen immer mehr, und ein Widerstand, der zwar starke antikapitalistische Tendenzen entwickelt hat, aber doch nur auf diese Anlässe reagiert, stösst an Grenzen. Der positivste Aspekt der derzeitigen Krise ist wohl, dass die kapitalistische Produktionsweise als solche von breiten Teilen der Klasse in Frage gestellt wird. Dies impliziert alle Widersprüche des kapitalistischen Systems, insbesondere auch den Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit, die Ausbeutung und die Lohnarbeit.


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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Kulturredaktion (kur)


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Quelle:
aufbau Nr. 57, Mai/Juni 2009, Seite 6
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Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2009